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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

236–237

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fugmann, Haringke Gregor

Titel/Untertitel:

Von Wendepunkten und Zeremonienmeistern. Kasualtheorien im Lichte zweier empirischer Untersuchungen.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Hansisches Druck- und Verlagshaus (Edition Chrismon) 2009. 379 S. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-86921-011-7.

Rezensent:

Christian Albrecht

Für die praktisch-theologische Kasualtheorie ist die Verschränkung von empirischen und systematischen Fragestellungen charakteristisch. Die in der letzten Zeit entstandenen empirischen Erhebungen etwa zu den Erwartungen von Brautpaaren an die Trauung bzw. von Taufeltern an die Taufe, zur Rezeption der Trauung durch die Brautpaare oder zur Rezeption der Taufe durch die Taufeltern (Fopp 2007, Müller 2009, Sommer 2009, Merzyn 2010) verstehen sich selbstverständlich als differenzierende Beiträge zu einer Theorie der Kasualien. Umgekehrt ist für stärker systematisch ansetzende Interpretationen der gegenwärtigen Kasualpraxis in der jüngeren Zeit (z. B. Wagner-Rau 2000, Fechtner 2003, Albrecht 2006, Grethlein 2007) die ständige Bezugnahme auf empirische Un­tersuchungen konstitutiv.
Diese Verschränkung hat nicht zu­letzt historische Gründe. Denn der Beginn der bis heute anhaltenden Konjunktur der Kasualtheorie in den 1970er Jahren verdankte sich wesentlich den Impulsen der ersten Kirchenmitgliedschaftsumfrage 1972: Sie hob, damals recht überraschend, die hohe Bedeutung hervor, die Kasualien in den Augen der Kirchenmitglieder genossen. Bis heute un­verändert wecken neu aufkommende Fragestellungen in der ge­genwärtigen Kasualtheorie, etwa zur Praxis der neuen Kasualien oder zu regional- und milieuspezifischen Kasualien, sofort den Bedarf nach empirischen Daten.
Naheliegend ist daher die Fragestellung der Neuendettelsauer Habilitationsschrift von Haringke Fugmann, die sich der genaueren Beschreibung des Verhältnisses zwischen empirischen Daten und ihrer Deutung in der gegenwärtigen Theorie der Kasualien annimmt. Problematisch ist freilich die leitende Grundunterscheidung zwischen »empirischer Kasualforschung« und »theologischer Kasualforschung«. Mit ihr wird zum einen eine Beziehungslosigkeit unterstellt, die weder dem Selbstverständnis noch dem faktischen Vollzug der Kasualforschung gerecht werden dürfte, und zwar in keinem der beiden Zweige. Zum anderen legt sich der Verdacht nahe, dass mit dieser Unterscheidung bereits das abschließende Werturteil der Monographie präjudiziert ist (mit dem kuriosen Nebenresultat, dass diesmal das Adjektiv »theologisch« als Pejorativum herhalten muss).
Im Einzelnen geht der Vf. dann so vor, dass er die Ergebnisse ausgewählter empirischer Erhebungen aus dem Zeitraum zwischen 1973 und 2006 referiert und ausführlich zwei neuere empirische Studien (eine in Bayreuth angefertigte qualitativ-empirische Studie und eine quantitativ-repräsentative Untersuchung der Gesellschaft für Markt-, Konsum- und Absatzforschung in Nürnberg) selbst auswertet unter dem Gesichtspunkt ihrer Aussagen zu Gottesdiensten und Kasualien. Diese Ergebnisse werden dann konfrontiert mit einer Befragung der praktisch-theologischen Kasualtheorien seit den 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Diese Durchmusterung erfolgt ausdrücklich nicht mit dem Anspruch einer »umfassend[en]« und »detailliert[en]« Darstellung, auch nicht mit dem Anspruch einer »forschungsgeschichtliche[n] Übersicht«, expressis verbis auch ohne Rücksicht auf »theologische Begründungsmuster« (11). Es geht lediglich darum, »die einzelnen die gegenwärtige Kasualforschung bestimmenden Grundannahmen typisierend als solche auszuweisen« (91). Leitend ist dabei die Frage, ob die »praktisch-theologischen Beschreibungs- und Erklärungsmodelle« mit der »Wirklichkeit, wie sie von evangelisch Getauften selbst erlebt wird« bzw. der »Kasualwirklichkeit der Menschen« (11) übereinstimmen.
Die Frage so zu stellen, heißt, die Antwort zu kennen. Die theologischen Kasualforschungen gehen samt und sonders einem »kasualtheoretischen Generalparadigma« (167 u. ö.) auf den Leim, das durch zahlreiche Irrtümer bestimmt ist, so etwa durch die Unterstellungen, es gebe ein Kasualchristentum, es gebe bei den Betroffenen ein Orientierungs- und Schutzbedürfnis an Wendepunkten des Lebens, es gebe die Aufgabe der pastoralen Begleitung und Deutung solcher Wendepunkte u. a. m. Dass es zu solchen Irrtümern kommen kann, deutet der Vf. psychologisierend als »Hinweis auf tief sitzende pastorale und praktisch-theologische Wünsche bzw. fest verwurzelte Ängste«, dass sich die pastorale »Exis­tenzberechtigung vordergründig nur noch oder auch nicht einmal mehr gesellschaftlicher Konvention verdankt« (168).
Nachdem dies feststeht, kommt der Vf. zu vernünftigen Imperativen für das pastorale Kasualhandeln. Sie skizzieren die Konturen einer offenen und entspannten volkskirchlichen Kasualpraxis, die ebenso von christlich-kirchlichem Selbstbewusstsein wie von einer Wahrnehmungssensibilität für die Bedürfnisse der Betroffenen geprägt ist (346–353). Diese Konsequenzen haben allenfalls den Schönheitsfehler, dass sie als Ergebnisse der in den empirischen Studien zweifelsfrei erscheinenden »Wirklichkeit« vorgestellt werden und der Vf. den Umstand übergeht, dass sie sich auch in manchen vermeintlich wirklichkeitsfremden »theologischen« Kasualtheorien finden.
Dessen ungeachtet sei die Lektüre dieser Konsequenzen jedem Theoretiker und Praktiker der Kasualien ans Herz gelegt, wie die folgende Auswahl deutlich machen kann. »Pfarrer und Pfarrerinnen sollten mit ihren Gemeindegliedern in der Regel und mit gutem praktisch-theologischen Gewissen ›Standard-Kasualien‹ mit bewährten Gebeten, bekannten Liedern und einfachen Predigten« feiern (346 f.). »Der zentralen Bedeutsamkeit der Berücksichtigung des individuellen Charakters jeder Kasualie wird nicht in der Liturgie, sondern in der Predigt Rechnung getragen.« (347) »Termine für Taufen und Hochzeiten sollten nicht vom Pfarrer oder von der Pfarrerin aufgrund vorhergehender theologischer Überlegungen vorgeschlagen werden […]. Oberstes Prinzip der Terminwahl soll die Frage sein, ob an besagtem Termin alle Eingeladenen Zeit haben […] und der Pfarrer oder die Pfarrerin Zeit hat« (347). Solche Vorschläge mag man als Forderungen der Wirklichkeit präsentieren. Aber sollte man übergehen, dass sie längst auch ihre theologischen Begründungen gefunden haben?