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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

234–236

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Böntert, Stefan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Objektive Feier und subjektiver Glaube? Beiträge zum Verhältnis von Liturgie und Spiritualität.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2011. 299 S. 22,0 x 14,0 cm = Studien zur Pastoralliturgie, 32. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-7917-2373-0.

Rezensent:

Folkert Fendler

Auf eine Vortragsreihe der Katholisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum vom Wintersemester 2010/11 gehen elf der zwölf Beiträge des vorliegenden Aufsatzbandes zurück. Sie alle umkreisen, so verheißt der Titel, das Spannungsfeld von Liturgie und Spiritualität. Das tun sie freilich auf unterschiedlichste Weise. Der Lehrstuhlinhaber der Fakultät im Fach Neues Testament, Thomas Söding, eröffnet den Band mit einer Analyse des paulinischen Gottesdienstverständnisses nach Röm 12,1 f. Er betont den Opfercharakter dieser »Schlüsselstelle« paulinischer Theologie an der »Schnittstelle zwischen indikativistischer und imperativistischer Rechtfertigungslehre«, zugleich der Schnittstelle zwischen Gottesdienst und Leben, zwischen Spiritualität und Liturgie. Christliches Leben und Ethik auf der einen und christliche Liturgie mit dem Zentrum der Eucharistie auf der anderen Seite seien im Tiefsten nur als Opfer (der Liebe) zu verstehen.
Der biblischen folgen vier historische Perspektiven. So zeigt der Historiker Jörg Bölling (Göttingen) anhand von Rom- und Marienwallfahrten im Spätmittelalter, wie sich Liturgie und Volksfrömmigkeit gegenseitig beeinflussten und befruchteten. – Der Liturgiewissenschaftler Andreas Henkelmann (Bochum) verschafft einen aufschlussreichen Überblick über die Entstehung der Caritasbewegung Ende des 19. Jh.s sowie über die katholische soziale Bewegung am Beispiel Hans Ansgar Reinholds in den USA und stellt vergleichend fest, dass die Verbindung von Sozialer Bewegung und Liturgiebewegung jenseits des Ozeans wesentlich enger war als in Deutschland. – Spannend sodann zu lesen, welche Wirkungen die Liturgiereform des 2. Vatikanums an der Basis der Bistümer zeigte. Exemplarisch führt Jürgen Bärsch (Liturgiewissenschaftler an der Ka­tholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt) für das Ruhrbistum Essen vor Augen, wie die traditionellen Fronleichnamsprozessionen in die Krise gerieten und in veränderter Form wieder daraus hervorkamen und wie die heute selbstverständliche Einführung von Laien als Kommunionshelfer anfangs zu großer Verunsicherung, ja zu Widerstand führte – Beispiele des engen Zusammenhangs von kirchenamtlichen Entscheidungen und gelebter Frömmigkeit vor Ort.
Eine zentrale Stellung im vorliegenden Sammelband nimmt der historische Abriss zum Verhältnis von Spiritualität und Liturgie durch den Herausgeber, den Lehrstuhlinhaber für katholische Liturgiewissenschaft in Bochum, Stefan Böntert, ein. Schön zu­nächst, wie er den Begriff Spiritualität zu fassen sucht als »individuell gelebte Religiosität mit der Tendenz zu diffusen Inhalten« (122), ernsthafter und christlich zugespitzt dann aber als »Lebensform, in der ein Mensch seine Beziehung zum dreifaltigen Gott pflegt« (123). In großem Bogen durch die Liturgiegeschichte von der Alten Kirche über das Konzil von Trient bis hin zur Gegenwart verifiziert Böntert, wie jede Epoche ihre spezifische Antwort auf das Verhältnis von Spiritualität und Liturgie gegeben hat. Das gegenwärtige Auseinandertreten beider sei daher zunächst nicht singulär, wohl aber die Besonderheit, dass viele Menschen auch außerhalb der Kirche ihre spirituelle Heimat suchten und fänden. Das Spannungsverhältnis zwischen Spiritualität und Liturgie (Normierung versus individuelle Akzentuierung; Rahmen versus Korrektiv; Tradition versus Veränderung) bezeichnet Böntert als fruchtbar und mahnt als »vornehmste Aufgabe« an, »Formen christlicher Liturgie und Spiritualität sowohl in, als auch dezidiert für die (Post-)Moderne zu entwickeln und zu pflegen.« (146)
Die Liturgiewissenschaftler Klemens Richter (Münster) und Winfried Haunerland (München) treten in den folgenden Beiträgen in eine gewisse Polarität ein, wenn der eine die restaurativen Tendenzen der jüngsten vatikanischen Verlautbarungen mit Sorge sieht und eine stärkere Umsetzung des Geistes des Vatikanum II fordert (Inkulturation), während der zweite gerade die Gottesdienstkonstitutionen dieses Konzils eher kritisch bewertet und sich für die Weltkirche größere Pluralität (auch im Sinne der Wie­derbelebung des Gewesenen) wünscht. – Der einzige evangelische Beitrag der katholischen Vortragsreihe durch die Jenaer Praktische Theologin Corinna Dahlgrün widmet sich der Beichte, die es evangelischerseits als regelmäßige Praxis neu zu entdecken gelte. Denn das Abendmahl habe zunehmend andere Funktionen übernommen als die des Zuspruchs der Sündenvergebung. Dahlgrün gibt einen Überblick über die historische Entwicklung der Beichte und reflektiert deren gegenwärtige Praxis und ihr Potential für die gelebte Spiritualität eines Christenmenschen.
Weiteren Orten »spiritueller Liturgik« bzw. »liturgischer Spiritualität« widmet sich das letzte Viertel des Bandes: der liturgischen Predigt (Norbert Weigl, München), der Notfallseelsorge (Böntert), Ritualen in Diasporasituationen (Benedikt Kranemann, Erfurt) sowie dem Pilgern (Paul Post, Tilburg, Niederlande). Seinen Beitrag über das Pilgern nutzt Post stärker als Inhaltliches beizutragen zur Vorstellung eines Forschungsinstrumentes »sakrale und rituelle Felder«, das ein Forscherteam seiner Fakultät derzeit entwickelt. – Umso packender die Darstellung von Kranemann über christliche Feiern für Konfessionslose, die in den 1980er Jahren in Erfurt ihren Ausgang nahmen und bis heute auch an weiteren Orten in Ostdeutschland zunehmend nachgefragt werden. Solche Feiern sind etwa Lebenswendfeiern als Alternative zur Jugendweihe, monatliches Totengedenken, Segnungsfeiern am Valentinstag und Kosman- und Damian-Feiern für Kranke und Angehörige und das sog. Weihnachtslob. Erstaunlich, wie weit sich die katholische Kirche hier hinauswagt mit Angeboten, die in Anlehnung an Paul Zulehner auch als »Ritendiakonie« (261) bezeichnet werden. Es bleibt die Frage, wieweit Feiern, die in katholischen Domen stattfinden und von katholischen Hauptamtlichen verantwortet werden, nicht doch missionarisch sind (was ja nicht zu verwerfen wäre, aber ausdrücklich nicht beabsichtigt ist) bzw. in Konkurrenz treten zu den eigentlichen Kasualangeboten der Kirche(n).
Ein weit gefasster Titel (Liturgie und Spiritualität) gibt Raum für unterschiedlichste Beiträge. So kommen manche Artikel recht eigenständig daher und streifen die Frage des Verhältnisses von Spiritualität und Liturgie nur am Rande (Söding, Post), andere thematisieren die Leitfrage explizit und lassen sich von ihr tatsächlich leiten (Bölling, Bärsch, Böntert, Haunerland), während weitere in liturgische Spezialsituationen einführen und das Thema exemplarisch betrachten. Spiritualität, so zeigen die unterschiedlichen An­sätze, wird weit gefasst: als Volksfrömmigkeit, Brauchtum, individuelle Frömmigkeit, Lebensstil, Pilgern und Wallfahren. Kein Wunder, und durch das Fragezeichen im Titel bereits angedeutet, dass so einfache Kategorien wie »subjektiv« und »objektiv« zur Verhältnisbestimmung von Liturgie und Spiritualität nicht hinreichen, sondern die Übergänge oft fließend sind und eines das andere prägt und immer schon geprägt hat.
Ein evangelischer Rezensent bedankt sich für die Horizonterweiterung durch ein solch facettenreiches Kaleidoskop katholisch-liturgisch-spiritueller Wirklichkeit.