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Ausgabe:

April/1996

Spalte:

345–348

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Sauter, Gerhard]

Titel/Untertitel:

Rechtfertigung und Erfahrung. Für Gerhard Sauter zum 60. Geburtstag. Hrsg. von M. Beintker, E. Maurer, H. Stoevesandt u. H. G. Ulrich

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/ Gütersl. Verlagshaus 1995, 416 S. 8o. Kart. DM 68,­. ISBN 3-579-02003-X.

Rezensent:

Hans-Martin Barth

Der Protestantismus hat mit seinem traditionellen Markenzeichen "Rechtfertigung" Schwierigkeiten, weil er es dem Bereich der "Erfahrung" nicht recht zu vermitteln weiß. Diese Beobachtung machen zwei polnische Autoren des vorliegenden Sammelbandes auch hinsichtlich der Praxis der Kirche: Man "rechtfertigt" die Existenz einer evangelischen Kirche durch den Hinweis auf "Rechtfertigung", statt "in der Kirche und als Kirche zu leben, ohne sich ständig ­ auch vor sich selbst ­ rechtfertigen zu müssen" (I. und J. Slawik, 79).

Der vorliegende Band ist Gerhard Sauter gewidmet, der sich mehrfach mit der Frage nach der Rechtfertigung auseinandergesetzt hat und der als ein wesentlich durch Karl Barth geprägter Theologe sich durch das nachbarthianische Interesse an "Erfahrung" herausgefordert sehen muß. Man darf also gespannt sein, was Autoren, die vornehmlich dem theologischen Umfeld Karl Barths entstammen, zum Verhältnis von Rechtfertigung und Erfahrung zusammengetragen haben.

Die Beiträge kreisen um vier Themen: die theologiegeschichtliche Vergewisserung, die systematisch-theologische und auch ökumenisch orientierte Rechenschaft, das Problem der Zeit und schließlich das Verhältnis von Rechtfertigung und Ethik.

Karl-Heinz zur Mühlen charakterisiert Luthers Theologie der Hoffnung von dessen Auseinandersetzung mit der Mystik und mit Petrus Lombardus her. Hoffnungstheologie sei für den Reformator "in Wahrheit Kreuzestheologie, in deren Licht er zugleich den Zusammenhang von Erfahrung und Hoffnung auslegt" (24). Martin Seils bestimmt in Aufnahme von Anregungen aus der finnischen Luther-Forschung das Verhältnis von "Einung" und "Anrechnung" in Konzentration auf Luthers Auslegung von Galater 2,16 und 2,20 unter Zuhilfenahme der Formel "simul iustus, simul peccator" dahingehend, daß Gottes rechtfertigende Barmherzigkeit beidem vorausgehe. Wird aber damit nicht doch der Priorität der "Anrechnung" das Wort geredet und im übrigen das Problem nur verschoben?

In theologiegeschichtlicher Perspektive zwischen Ritschl und Holl untersucht Eckart Lessing den Rechtfertigungsartikel im Sinne einer immer wieder nötigen "Selbstverständigung des Protestantismus" (59). Implizit warnt er vor den "Gefahren einer im Kern effektiven Rechtfertigungslehre" (61), wie er sie im Gefolge von Versöhnungstheologie gegeben sieht, und vor einer sublimen "Entwertung der Rechtfertigungslehre", wie er sie bei Aufnahme des Gedankens der "Gotteskindschaft" vermutet. Holl wird im Blick auf den "Reichtum seiner Fragestellungen" gerühmt, ohne daß es jedoch zu einer systematisch-theologischen Auswertung der theologiegeschichtlichen Beobachtungen käme.

Eine subtile Erörterung der lutherischen Rechtfertigungslehre vom tridentinischen Konzil her unternimmt Hans Jorissen: Er charakterisiert die Lösung von Trient als ein ",Kabinettstück’ theologischer Reflexion. Gott allein ist es, der durch sein Handeln am Menschen im Menschen die Möglichkeit freier Zustimmung schafft" (86). Dementsprechend sei das Verhältnis von Disposition und Rechtfertigung "nicht als zeitliche Aufeinanderfolge aufzufassen, sondern so, daß Gott selbst in seinem rechtfertigenden Handeln am Menschen die notwendige Disposition mitbringt und im Menschen hervorbringt, so daß diese ganz Tat Gottes ist, ohne dadurch aufzuhören, freier Akt des Menschen zu sein" (89). Ergebnis: "Einig in der Rechtfertigungslehre...!" (101). "Beide Denkmodelle ergänzen einander: Das Spruchhaft-Relationale vermag die Innerlichkeit bzw. das innere Betroffensein von der Rechtfertigung ebenso zum Ausdruck zu bringen wie das ontologische Modell die bleibende, unlösliche Bindung der geschenkten inneren Gerechtigkeit an die iustitia aliena Christi" (95). M. E. droht hier gleichwohl Trient den Rahmen für die Interpretation der Rechtfertigungslehre abzugeben.

Einen interessanten Versuch, über die Alternative zwischen transformatorischem und proklamatorischem Verständnis hinauszugelangen, legt Robert B. Jenson vor, indem er Rechtfertigung als "dreieiniges Ereignis" (104) versteht. Als "Akt des Sohnes" ist sie "das Ereignis der Gerechtigkeit" (110), als "Akt des Geistes" dagegen "die Erfüllung der Gerechtigkeit" (111), während patrologisch zu behaupten sei, "daß wir gerecht sind, einfach weil Gott es beschließt." (110). Dieser fruchtbare Ansatz scheint mir einer weiteren Vertiefung wert. Mit der Vorsehungslehre bringt Hinrich Stoevesandt die Rechtfertigungslehre zusammen, denn "nur von dem her, was die Rechtfertigungslehre assertorisch von Gottes Handeln bezeugt, sind ähnliche Aussagen über Gottes Handeln in der Vorsehungslehre begründet und zuwiderlaufende ausgeschlossen. In der Rechtfertigung ­ und von ihr her gilt begründetermaßen: auch in der Vorsehung ­ tritt Gott dem Menschen schlechterdings entgegen, überraschend, beschämend, begrenzend" (132).

Michael Beintker fragt unter dem Eindruck der innerdeutschen Schulddiskussion, wie es denn überhaupt zu Schuldwahrnehmung kommen könne: "Die Erfahrungszugänge zu den erfaßbaren Wirkungen der Sünde bedürfen... der Erleuchtung. Für sich genommen, führen sie unweigerlich von der Erkenntnis der Sünde und damit von der Erkenntnis meiner unverwechselbar eigenen Schuld weg" (146 f.). Die Erfahrung muß ihrerseits erst "sehend" werden (147). Dies aber ereigne sich in der Gemeinde Jesu Christi. Der Begriff der "Erfahrung" bleibt dabei allerdings merkwürdig unbestimmt.

In übergreifende geistesgeschichtliche Zusammenhänge wird das Verhältnis von Rechtfertigung und Erfahrung durch David C. Steinmetz gestellt, der den "intellektuelle(n) Reiz der Reformation" mit lockerer Hand skizziert, durch Diogenes Allen, der eher mystisch gefärbte Texte Simone Weils fruchtbar zu machen sucht (229 ff.) und durch Caroline Schröder, die anhand von Beobachtungen zu autobiographischen Skizzen aus der angelsächsischen Welt eine "amerikanische Maskerade der Rechtfertigungslehre" darstellen möchte, denn im Gegensatz zu dem von ihr geprüften Material gehe es doch darum, das "pro nobis" nicht zu "synchronisieren" (166), sondern es "zu einer immer wieder neu gewagten Sichtung unserer Geschichten" zu nutzen (167). Theologie wird durch Oswald Bayer und Wilfried Theilemann von der Rechtfertigung her bestimmt: Die "Was-Frage" sei umgriffen von der "Wer-Frage": "Wer ist Theologe?" (Bayer 208 ff.). Die Rückkehr zur "Vorgabe des Wortes Gottes" mache letztlich die "theologische Ehrfurcht" aus, in der die Unverbindlichkeit theologischen Redens überwunden werden müsse (Theilemann 214 ff.).

In einem nicht unmittelbaren Zusammenhang mit der Gesamtperspektive der Festschrift stehen die Beiträge zur "Zeiterfahrung" (Josef Wohlmuth), zu "Zeit und Gerechtigkeit" (Josef Simon), "die Lehre von der rechten Zeit" (John Barton) und "Geschichte als Schicksal" (Stanley Hauerwas). In der Feier der Sakramente, durch den Zuspruch der Rechtfertigung und den Ausblick auf das Eschaton könne "ein Zeitbewußtsein jenseits des ’cogito ergo sum’" (268) gewonnen werden (Wohlmut 268).

Das Verhältnis von Ethik und Rechtfertigung könnte es nahelegen, den Bereich der Erfahrung stärker zu thematisieren. Schließlich kommt es darauf an, nicht ständig "die Unangemessenheit des Säkularismus" zu beweisen, sondern darauf zu vertrauen, "unser theologischer Diskurs möge einen menschlichen Wandel versprechen" (Rowan Williams 327). Worauf sich dieser Wandel gründen könnte, erläutert Paul L. Lehmann, indem er die Gebote des Dekalogs nicht als präskriptive, sondern als deskriptive Sätze versteht: "Sie beschreiben, was mit unserem Verhalten in einer Welt geschieht, die Gott geschaffen hat, damit wir darin menschlich sein können" (334). Die Gebote seien daher auch nicht im eigentlichen Sinn zu "halten", sondern intuitiv zu erfassen und zu befolgen, was sich durchaus mit einer "dynamischen Soziologie" vertrage (339). Hans G. Ulrich ruft noch einmal die Gesamtperspektive der Festschrift in Erinnerung, wenn er, ausgehend von der Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht, erläutert, was er unter "gelebter Rechtfertigung" versteht: "Ein Gerechter in den Augen Gottes zu sein heißt... nicht, eine Eigenschaft zu erwerben, sondern in das Leben mit Gott eingefügt werden" (374). "Gerechtigkeit ist nicht anders präsent als in dem rettenden Übergang in ein Leben mit Gott, das nicht auf der tödlichen Selbstbehauptung beruht" (376). Gelebte Rechtfertigung hat daher eine "asymmetrische" Form und eine für sie spezifische "Praxis", zu der Gebet und Sündenbekenntnis gehören (378). Gerade als gelebte Rechtfertigung wird sie "politisch präsent"; Glaubende als "die in Gottes Gerechtigkeit erfahrenen Geschöpfe und Kinder Gottes" bezeugen sie (384).

In den eher dogmatisch orientierten Beiträgen wird das Problem der Erfahrung oft marginalisiert oder auch polemisch angesprochen. Es scheint sich in den ethischen Beiträgen des Buches zu lösen im Blick auf die Praxis, die aus der Rechtfertigung entspringt und ihr entspricht. Dies wäre allerdings ein zu schlichtes Ergebnis. Besonders bedenkenswert erscheint mir daher der Beitrag von Ernstpeter Maurer, der die Rechtfertigungslehre mit der Lehre vom heiligen Geist vermitteln möchte. Er tut dies unter dem "von Gerhard Sauter kultivierten Begriff" "Selbstvergessenheit" (169). Durch die Predigt von Gesetz und Evangelium bewirke der Geist "eine Selbstunterscheidung", und in der so gewonnenen "Distanz der Person von sich selbst leuchtet die Freiheit auf, in der eine Person dem eigenen Handeln frei gegenübertreten kann" (171). Die "zweite Lesart von ’Selbstvergessenheit’: Die Person wird neu geschaffen, sie darf die Sorge um ihre Identität vergessen" (173). Christus lebt in ihr, aber erst wo "durch mich eine andere Person diesen Satz auf sich beziehen kann, lebt Christus in mir ­ also niemals ohne ein Gegenüber" (174). Das lebendige "Ich" wird "individuell nicht als unteilbare Einheit, sondern in der lebendigen Spannung von Eigennamen und Taufnamen" (176). "Das individuelle hat seinen Bestand in der Bewegung" (179) im Leib Christi als einem "Wortgeschehen" (176). Sorge um Konsequenz wird überflüssig, sofern sie aus der Angst um Identität entspringt. Die Gemeinde Jesu Christi wird zu dem Ort, an dem "begrenzte Perspektiven von Gemeinschaft einander umgreifen und damit die Glieder der Gemeinde verlocken, die eigene Perspektive immer dann aufzugeben, wenn sie in die Knechtschaft führt" (184). Die Fähigkeit zur Selbstunterscheidung sowohl innerhalb der einzelnen Person als auch innerhalb der Gemeinde resultiert aus der Selbstvergessenheit, die ­ durch die Rechtfertigungsbotschaft ­ der Geist vermittelt.

Schade, daß der Band keine exegetischen Gesichtspunkte enthält; auch der Blick über das Christentum hinaus ­ etwa auf den Buddhismus oder auf hinduistische Traditionen ­ wäre von Interesse.

Das beigefügte Verzeichnis der Schriften Gerhard Sauters mag dazu einladen, noch einmal zu prüfen, was dieser selbst zum Thema "Rechtfertigung und Erfahrung" zu sagen hat!