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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

217–219

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Meessen, Yves

Titel/Untertitel:

L’être et le bien. Relecture phénoménologique. Préface de J.-Y. Lacoste.

Verlag:

Paris: Cerf 2011. 240 S. 21,5 x 13,4 cm = Cogitatio Fidei, 281. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-2-204-09502-0.

Rezensent:

Christina M. Gschwandtner

Dieses Buch von Yves Meessen, ursprünglich eine Doktorarbeit unter Marie-Anne Vannier (Straßburg), benutzt die vermittelnde Position Ricœurs, um eine hermeneutische Balance zwischen zwei extremen Haltungen gegenüber dem Sein in der Phänomenologie zu finden. Augustinus, Dionysius, Thomas von Aquin und Meister Eckhart werden in Kontrast zu Heideggers Philosophie des Seins und der neueren Phänomenologie von Marion, Henry und Der­rida gestellt. Durchweg versucht M., durch die Lektüre der mittelal terlichen Theologen eine neue Position zu finden, die am Sein festhält, aber es im Sinne von Gabe versteht. Dies helfe, eine ontotheologische Position zu überwinden, aber ohne dem Sein total ab­zu­danken, wie es z. B. Marion tue. Gleichzeitig sucht M. auch das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie neu zu be­stimmen.
In Teil I zeigt M., wie Augustinus sich vom neuplatonischen Denken über das Sein unterscheide, indem er ipsum esse und summum bonum miteinander gleichstelle und eine trennende Linie zwischen dem Wesen Gottes (dem einzig wahren »Sein«) und dem des Menschen ziehe. Innerhalb der Dreieinigkeit gehe es beim Sein nicht ums Nehmen, sondern ums Geben. Die »Phänomenologie des Wortes« sei von Selbstenteignung und Demütigkeit gekennzeichnet. Nur durch Glauben könne dieses Phänomen erlebt werden. »Sein« und »Güte« seien für Augustinus nicht voneinander getrennt. Die Offenbarung der dreieinigen Personen sei ein gegenseitiges Geben in Liebe, kein Besitz des Seins. Ein ähnliches Verhalten werde vom Menschen erwartet. Das Sein hat also eine persönliche Seite; es ist nicht die Gesamtheit des Seins im Sinn des Parmenides. M. bezieht diese Analyse auf Heidegger, der behauptete, dass Augustinus dem Neuplatonismus verfallen sei und die existen­ziale Dimension des Lebens verkannt habe. M. zeigt auf, dass sich die Seinsvorstellung des Augustinus von der des Neuplatonismus wesentlich unterscheidet und dass sie existenzial orientiert ist. Augustinus schüttele die Beschwernis des Lebens nicht ab, wie Heidegger behaupte, sondern nehme sie ernst in ihrer existenzialen Realität. Heidegger und Augustinus seien von unterschiedlichen Fragen über das Sein beseelt. Heidegger missverstehe Augustinus, weil er ihn durch die Augen Luthers lese. Für Augustinus sei Theologie auch nicht nur Wissen über Gott, sondern ein dynamisches Agieren, das aus dem Sehnen nach Gott entstehe. Theologie und Philosophie können erneut zum Dialog kommen, wenn Zeit und Ewigkeit wieder zusammen gedacht werden, wie Heidegger es ur­sprünglich vorhatte.
Der zweite Teil des Buches nimmt Dionysius und Aquin ge­meinsam vor. M. liest Dionysius kritischer als Marion. Dionysius sei von Proklus beeinflusst, wenn er Gott im Sinne von Kausalität definiere. Dionysius behält griechisches Denken über das Sein bei, aber sieht Gott außerhalb davon. M. konzentriert sich wesentlich auf Aquin. Aquin unterscheide zwischen der Einheit Gottes, die philosophisch als Kausalität gedacht ist (Dionysius), und der Einheit der göttlichen Personen, die er im Sinne der Theologie der Re­lation denkt (Augustinus). Doch diese Relationen seien innerhalb des Wesens Gottes zu sehen, nicht außerhalb. Während für Augus­tinus die Identität der Personen und des Wesens Gottes auf Offen­-barung beruhe, sei dies für Aquin eine philosophische Einsicht. M. bezieht sich auf Bonaventura, um biblische und philosophische Hermeneutik zu verbinden. Bonaventura kombiniere Denken und Sein in der Gabe der Liebe. Gottes Güte sei von Selbstkommunikation in der Inkarnation gekennzeichnet. Diese Selbstgegebenheit wird von M. der phänomenologischen Gegebenheit gleichgesetzt. Die Be­zie hungen der Dreieinigkeit führen zu einer Phänomenologie der Gabe durch Schöpfung und Gnade. Hierzu kontrastiert M. wieder Heidegger. Er fasst Heideggers Definition der Ontotheologie zu­sam­men und zeigt, dass Aquin Gott nicht als causa sui in­terpretiert. Gottes Wesen habe immer schon persönliche und relationale Aspekte. Hier bezieht sich M. mehrfach auf Marion, obwohl er seltsamerweise nichts über L’idole et la distance sagt (das sich stark mit Dionysius beschäftigt). M. zieht Parallelen zu Heideggers Diskussion der Griechen, wo Sein im Akt besteht. Das Sein ist für Heidegger keine neutrale Sachlichkeit. Für die griechischen Philosophen bestehe dieses agierende Sein jedoch im »Haben«, während es sich für die mittelalterliche Philosophie im »Geben« ausdrückt. Die Kreatur sei nun von einer von Marion inspirierten »Logik der Liebe« her zu verstehen, obwohl M. Marions »Überkommen« des Seins als zu extrem zurückweist.
M. endet mit Eckhart, von dem nicht nur Heidegger, sondern auch Derrida und Henry inspiriert wurden. M. zeigt auf, wie Eckhart Augustinus und Dionysius verbindet, indem er Sein durch Liebe interpretiert (esse & bonum). Nicht nur kommuniziere das Sein durch die Güte, sondern Theologie und Philosophie existieren nun auf einer Ebene. Eckhart verbindet Wissen und Entäußerung, Sein und Nichts, Gottes Sein und ens commune. Die Fülle der Güte Gottes werde der Kreatur geschenkt. Das Sein der Geschöpfe ist nicht ihr Besitz, sondern eine Gabe Gottes. Weil wir auf Gott angewiesen seien, könnten wir auch an der Göttlichkeit teilhaben. Dies führe dazu, dass die ontologische Differenz in Eckhart innerhalb des Seins zu verstehen sei. Gelassenheit führt die Entäußerung oder Selbstenteignung, auf die M. immer wieder zurückkommt, am weitesten. Der Mensch ist völlig Gott übereignet in einer Synthese der Liebe, aber wird dadurch nicht »Besitz« des Seins. Heideggers ontologische Differenz muss im Sinne dieses neuen Denkens über das Sein revidiert werden. Hier nimmt M. sehr kurz auf Derrida Bezug, besonders auf seine Diskussion des Geschenkes. M. bezieht diese Einsichten über Eckhart wieder auf Heidegger. In Heideggers frühen Schriften war die Verbindung zwischen Zeit und Ewigkeit ein wichtiges Thema, welches Heidegger leider aus den Augen verloren habe. M. spricht auch Heideggers letzte Schriften über das »Heilige« und den »letzten Gott« kurz an. Er behauptet, dass die Frage Gottes zurück in »das Herz der Phänomenologie« rücken müsse (188). M. fasst kurz auch Henrys Werk zusammen. In der phänomenologischen Gelassenheit werde das Wesen des Seins zur »völligen Gabe«. M. schließt mit der Behauptung, dass das Denken über das Sein Glauben verlange. Heidegger habe die mittelalterlichen Theologen falsch interpretiert. Gottes Sein sei als Gabe zu verstehen. Dieses andere Denken über das Sein sei nicht ein Aufgeben der Intelligenz, sondern eine neue »noetische Modalität« (208).
Die Diskussion der mittelalterlichen Denker ist lesenswert, aber stark phänomenologisch beeinflusst. Damit steht M. nicht allein, sondern ist Teil eines neuen Trends in der französischen Philosophie (cf. Henry, Marion, Falque u. a.). Marion, Derrida und Henry sind dagegen sehr kurz behandelt, was die Kritik an ihren Argumenten fraglich erscheinen lässt. Insgesamt hat M. zumindest die Frage vom Sinn des Seins wieder in den Vordergrund gerückt und die Einsichten der mittelalterlichen Theologen zu dieser Frage ernst genommen.