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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

215–217

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Honnefelder, Ludger, u. Günter Rager[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bildung durch Wissenschaft? Beiträge v. S. Borrmann, U. Frost, K. Gabriel, G. M. Hoff, L. Honnefelder, Ch. Horn, M. G. Huber, G. Kempermann, V. Ladenthin, U. Lüke, G. Mertens, P. Neuner, G. Rager, E. Schockenhoff, M. Stöckler, J. Szaif, G. Wegener.

Verlag:

Freiburg/München: Alber 2011. 330 S. m. Abb. 21,4 x 13,9 cm = Grenzfragen, 36. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48452-4.

Rezensent:

Jürgen van Oorschot

Wenn im August 2012 die Bundesbildungsministerin »Bildung durch Wissenschaft« zu einer Selbstverständlichkeit erklärt und dies im Kontext einer durchaus umstrittenen Bilanz zu zehn Jahren Bologna-Reformen in Deutschland, dann fragt sich der geneigte homo politicus, was mit dieser Aussage inhaltlich gemeint ist. Diese Fragen verstärken sich, besieht man sich den Applaus, den die Ministerin dafür aus dem Bereich der Wirtschaftsverbände erhielt. Taugt die Formel »Bildung durch Wissenschaft« zu mehr als zu einer diffusen Schablone, die legitimatorisch je nach Bedarf gefüllt wird?
Einen solchen Vorwurf kann man dem anzuzeigenden Buch gleichnamigen Titels in der Tat nicht machen. Der von Ludger Honnefelder, dem aus zahlreichen Publikationen zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, zur Metaphysik und Ethik bekannten Philosophen, und dem Philosophen und Mediziner Günter Rager herausgegebene Sammelband geht auf eine Tagung des Instituts der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung (Naturwissenschaft – Philosophie – Theologie) aus dem Jahr 2008 zurück. Der Veranstalter macht die Natur- und Geisteswissenschaft verbindende Breite und die Autoren machen die dezidierte Positionalität des Bandes verständlich. Ob der »Ge­danke der Bildung durch Wissenschaft noch Bedeutung für die Wissenschaftsgesellschaft der Moderne« (9) habe oder ob es die dramatisch veränderten Bedingungen sind, welche die Bildungswelten der Vergangenheit von den heutigen unterscheiden, die einem solchen Gedanken gesteigerte Bedeutung verleihen – diese Fragen bilden eine Art cantus firmus der unterschiedlichen Beiträge in diesem Band. Dabei wird an vielen Stellen einer von den Universitätsgründungen des Mittelalters bis zu den humboldtschen Reformen reichenden Bildungslandschaft eine naturwissenschaftliche, funk­-tionale (Aus-)Bildung und Wissenschaftsgesellschaft gegenübergestellt. Der einführende Beitrag von Ludger Honnefelder umreißt dabei in groben Strichen die von den meisten Autoren geteilte Grundkonstellation der Gegenwart und markiert zugleich Grundthesen. So intendiert nach Honnefelder »das an der Wiege der mit­telalterlichen Universität stehende Stichwort von der ›Bildung durch Wissenschaft‹« folgende Elemente: »Selbständigkeit und Wis­senserwerb, vernunftgemäßes Denken und vernunftgemäßes Handeln werden«. Diese Elemente werden als »eine Einheit be­trachtet und als ein Prozess verstanden, der durch Unterwerfung Freiheit vermittelt.« (17 f.) Vorschnelle Funktionalität und Instrumentalisierung liegen einem solchen Bildungsprozess fern. In einer knappen Skizze formuliert Honnefelder nachfolgend die In­fragestellungen u. a. durch ein funktionales Denken (21 f.), einen formalen Bildungsbegriff (22) sowie durch die Auflösung der Einheit der Wissenschaften durch deren Spezialisierung und Differenzierung im 19. und 20. Jh. Auf dem Hintergrund gegenläufiger Tendenzen und Verantwortlichkeiten formuliert er eine als Fazit der Beiträge markierte These, nach der »nur wenn Wissenschaft […] nicht reduktionistisch interpretiert und Bildung nicht funktional verkürzt wird, […] das Konzept der ›Bildung durch Wissenschaft‹ seinen genuinen Sinn und seine Bedeutung« erhält (30).
Die Beiträge sind unter fünf Leitaspekten gegliedert, zu denen drei bis vier Stimmen zu Wort kommen, teilweise als Statement auf einen anderen Beitrag bezogen. Dabei kommen vielfach ausgewiesene und aus den Bildungsdebatten bekannte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort.
Das Tableau sieht wie folgt aus:
I. Was heißt Bildung? – Jan Szaif, Leben aus universaler Wahrheit? Die antiken Wurzeln des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft (33–83); Gerhard Mertens, Was meinen wir, wenn wir von ›Bildung‹ sprechen? (84–96); Ursula Frost, Statement zu: Was meinen wir, wenn wir von ›Bildung‹ sprechen? (97–100); Volker Ladenthin, Wissenschaft und Bildung (101–120).
II. Was macht Bildung zu einem Gut? Christoph Horn, In welchem Sinn ist Bildung ein Gut? (123–144); Eberhard Schockenhoff, Statement zu: In welchem Sinn ist Bildung ein Gut? (145–155); Peter Neuner, Religion und Bildung. Dogmengeschichtliche Überlegungen (156–174); Gregor Maria Hoff, Bildung – ein theologisches Programm (175–189).
III. Moderne Wissensgesellschaft und Universität – Karl Gabriel, Knowledge Based Society – Konsequenzen für die Bildung (193–217); Ursula Frost, Die Universität als Ort der Bildung durch Wissenschaft (218–246); Max G. Huber, Statement zu: Die Universität als Ort von Bildung durch Wissenschaft (247–249).
IV. Bildung durch Naturwissenschaft – Günther Rager, Lernen und Bildung aus der Sicht der Hirnforschung (253–267); Gerd Kempermann, Wie viel Neuro muss sein? (268–281); Gerhard Wegner, Bildung durch Naturwissenschaft: Die kulturelle Bedeutung der sciences (I) (282–296); Ulrich Lüke, Bildung durch Naturwissenschaft: Die kulturelle Bedeutung der sciences (II) (297–305).
V. Naturwissenschaft und Weltbild – Manfred Stöckler, Was ist ein naturwissenschaftliches Weltbild und wozu ist es gut? (309–312); Max G. Huber, Was ist das naturwissenschaftliche Weltbild? (313–318); Stephan Borrmann, Statement zu: Was ist das naturwissenschaftliche Weltbild? (319–323).
In der Anlage und Durchführung des Bandes und der dahinterstehenden Tagung ist die Breite der vertretenen Fächer und Disziplinen ausdrücklich zu begrüßen. Vor allem die Beteiligung der Naturwissenschaften hebt das Unternehmen aus vielen der Bildungs- und Wissenschaftsdebatten heraus. Zusammengehalten wird die Diskussion dabei durch klare Leitfragen, die den jeweiligen Kapiteln vorangestellt werden. Hinter ihnen werden Grundpositionen deutlich, die sich darum bemühen, überkommene Wissenschaftstraditionen des Mittelalters und der Neuzeit in dem immens gewandelten Kontext des 21. Jh.s neu zur Geltung zu bringen. Dabei werden grundlegende Anfragen an wissenschafts- und bildungspolitische Mainstream-Positionen formuliert. Leider kommt die Analyse an vielen Stellen nicht ohne simplifizierende Globalthesen aus, in denen etwa die Verknüpfung von Bildung und Wissenschaft als »ein ehrgeiziges Projekt westlicher Kultur seit der griechischen Antike« (218) vorgestellt wird oder »Antike und mo­derne Wissensformen« (101 ff.) einander typisierend gegenübergestellt werden.
Trotz dieser Defizite finden sich in den Beiträgen beachtenswerte Einzelstudien und vor allem deutlich markierte Positionen zu Grundfragen von Bildung und Wissenschaft. Gewonnen hätte der Band, wenn die in ihm zu Wort kommenden Stimmen eine größere gesellschaftliche und konfessionelle Vielfalt widerspiegeln würden. Denn die Herausforderung eines Programms von Bildung durch Wissenschaft besteht aus meiner Sicht gegenwärtig gerade darin, in der positionellen und wissenschaftlichen Heterogenität und Differenziertheit unserer westlichen Gesellschaften gemeinsam an klaren Positionen zu arbeiten.