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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

210–213

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst

Titel/Untertitel:

Kritische Gesamtausgabe. 3. Abtl.: Predigten. Bd. 4: Predigten 1809–1815. Hrsg. v. P. Weiland unter Mitwirkung v. S. Paschen.

Verlag:

Berlin/Boston: de Gruyter 2011. XLIII, 793 S. m. Abb. 24,0 x 16,0 cm. Lw. EUR 249,00. ISBN 978-3-11-026394-7.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. 3. Abtl.: Predigten. Bd. 7: Predigten 1822–1823. Hrsg. v. K. M. Ch. Kunz. Berlin/Boston: de Gruyter 2012. LXX, 1181 S. m. Abb. 24,0 x 16,0 cm. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-11-025242-2.


Seit 2003 wird an der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle unter der Leitung von Günter Meckenstock an der III. Abteilung der KSG gearbeitet. Sie soll in 14 Bänden alle gedruckten Predigten, handschriftlichen Predigtentwürfe und durch Nachschriften belegte Predigten Schleiermachers von seinem Ersten Examen 1790 bis zu seinem Tod 1834 umfassen. Damit werden die Texte zugänglich gemacht, ohne die auch Schleiermachers theologische Schriften und Vorlesungen nicht wirklich verstanden werden können, weil sie immer auch auf diese praktische Vermittlungssituation des christlichen Glaubens hin ausgerichtet waren. Nicht von ungefähr sah Schleiermacher in der Praktischen Theologie die Krone des theologischen Studiums. Die von Schleiermacher selbst geordneten sieben »Sammlungen«, die zwischen 1801 und 1831 im Berliner Realschulverlag bzw. im Verlag von G. Reimer erschienen sind, werden die ersten beiden Bände der Predigtedition bilden. Alle übrigen Predigten sollen chronologisch nach ihrem Vortragstermin publiziert werden. Als erster Band dieser Abteilung ist 2011 Band 4 mit den Predigten der Jahre 1809–1815 erschienen, den Patrick Weiland unter Mitwirkung von Simon Paschen herausgegeben hat.
Wie alle Bände der KSG werden auch die der III. Abteilung durch eine ausführliche Einleitung des Bandherausgebers bzw. der Bandherausgeber eröffnet, die in eine historische Einführung und einen editorischen Bericht gegliedert sind. Im vorliegenden Band – und das wird in den folgenden Bänden wiederholt – informiert der editorische Bericht (XXII–XLIII) nicht nur über die spezifischen Verfahrensweisen dieses Bandes (XXXI–XLIII), sondern bietet auch die einheitlich für alle Bände der III. Abteilung geltenden Grundsätze zur Text- und Druckgestaltung (XXII–XXXI). Für die Textgestaltung werden die Allgemeinen Regeln (XXII–XXIV), die Regeln für die Manuskripte Schleiermachers (XXIV–XXVI) und die Predigtnach­schriften (XXVI–XXVII), die Regeln für den Sachapparat (XXVIII) und für den editorischen Kopftext (XXVIII–XXIX) genannt. Diese sind jeweils zu konsultieren, um bestimmte editorische Entscheidungen nachvollziehen zu können. Der wichtigste Punkt ist, dass für die Textgestaltung ein abgestuftes Verfahren verfolgt wird. Während Schleiermachers Predigtentwürfe und ausgearbeitete Predigten mit ausführlichen Nachweisen zum Entstehungsprozess geboten werden, wird für die Predigtnachschriften von fremder Hand ein vereinfachtes Editionsverfahren mit nur knappen Belegen gewählt. Da die weitaus meisten Predigten zu dieser letzten Gruppe gehören, sind die Apparate meist sehr knapp und auf wenige Angaben beschränkt. Jeder Predigt ist ein editorischer Kopftext vorangestellt, der über den Termin, den Ort, die ausgelegten Bibelverse, den bzw. die Textzeugen sowie ggf. über andere Zeugen und Besonderheiten informiert. Die Druckgestaltung versucht, den Besonderheiten dieser Texte auf zweifache Weise gerecht zu werden. Auf der einen Seite geschieht das durch den Satzspiegel, der untereinander den Text des Originals ggf. mit Fußnoten, den Variantenapparat (wo nötig), den textkritischen Apparat und den Sachapparat bietet. Auf der anderen Seite wird durch die Druck­schrift die Art des Textes graphisch deutlich gemacht. So werden die Predigtnachschriften in Abhebung von den Drucktexten Schlei­ermachers sowie von seinen Manuskripten in einer serifenlosen Schrift geboten, die gut lesbar ist, durch die es aber auf manchen (Doppel-)Seiten zu einem etwas störenden Zugleich verschiedener Schriften und Schrifttypen kommt, die optische Unruhe er­zeugen. Die Seitenzählung des Originals wird jeweils auf dem Außenrand angegeben, Hervorhebungen und Unterstreichungen werden einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht.
Im vorliegenden Band KSG III/4 werden 107 Predigten zu 100 Terminen aus den Jahren 1809 bis 1815 vorgelegt. 55 Predigten werden erstmals publiziert, 19 Predigten aufgrund neuer Quellenlage geboten, nur zu acht Terminen liegen Autographen Schleiermachers vor. Die meisten Texte folgen den Mitschriften von Georg Matthison und Friedrich August Pischon. Da Schleiermacher als reformierter Pre­-diger an keine Perikopenordnung gebunden war, hatte er die Möglichkeit, Reihenpredigten zu bestimmten Themen oder Homilienreihen zu bilden. Für das Jahr 1810 liegt in diesem Band eine Homilienreihe zur Apostelgeschichte vor. 1809 hatte Schleiermacher das Amt des reformierten Predigers an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin angetreten. Im selben Jahr heiratete er Henriette von Willich, die mit ihren Kindern im Juni 1809 von Rügen nach Berlin kam. Am 18. Februar 1811 wurde die erste gemeinsame Tochter Clara Elisabeth getauft. Aber nicht nur familiär waren diese Jahre eine Zeit des Aufbruchs und Neubeginns. Auch politisch war der Zeitraum zwischen 1809 und 1815 nach der Niederlage Preußens gegen Frankreich durch die Befreiungskriege und die Stein-Hardenberg’schen Reformen bestimmt. All das spiegelt sich in den Predigten Schleiermachers. Sein antinapoleonischer Patriotismus und sein Reformwille sind unüberhörbar. Das ist besonders deutlich in den Predigten, die er zu Beginn der Befreiungskriege im Jahr 1813 gehalten hat. Sie waren so kraftvoll und mitreißend, dass der Hand des mitschreibenden Matthison immer wieder der Griffel entsank, wie A. Sydow berichtete. Seit seinem Amtsantritt hatte Schleiermacher nur noch selten Predigtentwürfe geschrieben oder Predigten ausformuliert. Für den Zeitraum von 1809 bis 1815 sind nur zwei Entwürfe von seiner Hand überliefert und die wenigen ausformulieren Predigten sind Festtagspredigten, die für eine Publikation vorgesehen waren. In der Re­ gel hielt er seine Predigten frei und ließ sie nachschreiben. Und dieser freie Vortrag schlug seine Hörerinnen und Hörer – »Meine andächtigen Freunde« – in Bann.
Schleiermachers Predigten wurden bald zu einem Ereignis im gebildeten Berlin. Zwar wurde gelegentlich – von Rezensenten seiner gedruckten Predigten – sein eigentümlicher oder gar altertümlicher Stil kritisiert und bezweifelt, ob »ein solcher Styl auch ge­meinverständlich sey« (Neue Theologische Annalen, Frankfurt a.M., Bd. I, 302), und es wurde für »pedantisch und lächerlich« gehalten, dass er in patriotischem Überschwang alles Ausländische auch sprachlich zu vermeiden suchte. Aber der Erfolg Schleiermachers als Prediger sprach für sich selbst. Dazu trug auch die Sorgfalt bei, die er auf die Gestaltung des ganzen Gottesdienstes verwendete. Seit 1812 ließ Schleiermacher zunächst unregelmäßig, ab 1813 dann regelmäßig Liedblätter für die Hauptgottesdienste an der Dreifaltigkeitskirche drucken. Erst ab 1817 sind sie durch Angabe der Jahreszahl datiert. Für die Jahre 1812–1816 werden die 66 Liedblätter in der Ordnung des Kirchenjahres im Anhang wiedergegeben (695–772). Nur vereinzelt lassen sie sich mit Hilfe der Angaben des Predigtkalendariums genau zuordnen. Der kollektive Abdruck im An­hang ist daher verständlich, aber auch bedauerlich, weil der Zu­sam­menhang mit dem jeweiligen Predigttext nicht ersichtlich ist.
Der Band, dem einige Faksimile beigegeben sind, wird abgeschlossen mit einem Verzeichnis der Abkürzungen und editorischen Zeichen, einem Literaturverzeichnis sowie Namen- und Bibelstellenregistern. Der hohe Editionsstandard der KSG wird auch in diesem Band in beindruckender Weise gewahrt. Die III. Ab­teilung ist damit gelungen auf den Weg gebracht.
Das gilt auch für den zweiten Band KSG III/7, der die Predigten der Jahre 1822 bis 1823 umfasst und 2012 von Kirsten Maria Christine Kunz herausgegeben wurde. Der Band enthält Predigten zu 111 Terminen in chronologischer Ordnung sowie 53 Liederblätter, die im Unterschied zu KSG III/4 nicht im Anhang, sondern im An­schluss an die jeweiligen Predigten geboten werden. Das ist eine begrüßenswerte Verbesserung. Zusammen mit den editorischen Angaben des Kopftextes entsteht so ein guter Gesamteindruck des Gottesdienstes, in dem die jeweilige Predigt gehalten wurde. Zu 51 Terminen gab es schon Druckfassungen, in 60 Fällen werden die Predigten erstmals veröffentlicht. In elf Fällen kann auf einen Leittext von Schleiermacher selbst zurückgegriffen werden (XXXIII), die übrigen Predigten werden nach Nachschriften von J. G. Andrae (XXXIII–XXXIX), Caroline Crayen (XL–XLI), A. F. L. Gemberg (XLI–XLIII), A. F. W. König (XLIII–XLIV), J. C. H. Saunier (XLV–XLVI) und »Demoiselle Wolterstorff« (XLVI–XLIX) geboten, hinter der sich ein ganzer Schreiberkreis verbirgt. Ein besonderes Problem stellten die von Adolf Sydow in SW II/10 publizierten Philipper-Frühpredigten von 1822/23 dar, die sich als Kompilation zweier unterschiedlicher Homilienreihen von 1817/18 und 1822/23 erwiesen. Die 21 Predigten umfassende originale Reihe von 1822/23 wird hier erstmals rekonstruiert und veröffentlicht (L–LXIV). Von einer zweiten Homilienreihe zum Johannesevangelium, die sich von 1823 bis 1827 erstreckt, werden im vorliegenden Band die ersten 15 Predigten geboten (LXV–LXIX).
Schleiermacher steht in diesen Jahren auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit als Prediger. Ein zentrales Thema ist die Gemeindeunion von Lutheranern und Reformierten, für die sich Schleiermacher sehr eingesetzt hatte und die am 31. März 1822 offiziell vollzogen wurde. Zu großen liturgischen Veränderungen kam es dadurch nicht. Der Gebrauch der Perikopenordnung war freigestellt und für das Abendmahl, das jetzt regelmäßiger gefeiert wurde, folgten auch die Lutheraner dem unierten Ritus von 1817. Folgenreicher war die Neuverteilung der Arbeit zwischen Schleiermacher und seinem lutherischen Kollegen Marheineke, die von jetzt an bei allen Amtsgeschäften gleichberechtigt für die neue Gemeinde zuständig waren. Für Schleiermacher bedeutete das eine große Mehrbelastung, weil sich sein Zuständigkeitsbereich erheblich ausdehnte. Hatte er vor der Union im Schnitt 25 Taufen und fünf Trauungen zu übernehmen, so waren es im Jahr 1823 – auch infolge des unerwarteten Todes des Hilfspredigers Herzberg – 170 Taufen und 71 Trauungen, dazu eine stetig steigende Zahl von Konfirmanden, die Schleiermacher alle selbst unterrichtete. Sein großer Erfolg als Prediger bei der wohlhabenden und gebildeten Elite Berlins (Politiker, Beamte, Militärs, Wissenschaftler, Frauen aus den vornehmen Ständen, Studenten aller Fakultäten) blieb nicht ohne Auswirkung auf sein Verhältnis zu dem weit weniger populären Marheineke, der als strikter Hegelianer und Lutheraner eine ganz andere Position vertrat. Bei aller Gediegenheit und Gründlichkeit von Marheinekes Predigten wollten Zuhörer wie Karl Gutzkow es doch darauf ankommen lassen, »lieber einst mit Schleiermacher in der Hölle, als mit Marheineke im Himmel zu seyn« (XV).
Wirkliche Schwierigkeiten gab es in diesen Jahren für Schleiermacher aber durch Zensur und Polizeibehörde. Im Zuge der De­-magogenverfolgungen der nachnapoleonischen Restaurationszeit ­seit 1819 war gegen Schleiermacher wegen antimonarchischer und antireaktionärer Äußerungen ein Untersuchungsverfahren eingeleitet worden. Anlass dafür waren Bemerkungen über die von Fr. L. Jahn befeuerte Turnbewegung, sein Protest gegen die politische Maßregelung der Universitäten, die Verquickung mit der Entlassung De Wettes aus dem theologischen Lehramt in Berlin und Äußerungen über den König in Briefen an Ernst Moritz Arndt und seinen Verleger G. A. Reimer, die beschlagnahmt worden waren. Am 18., 19. und 23. Januar 1823 wurde Schleiermacher dazu im Königlichen Polizeipräsidium vernommen. Um Belege für seine staatsfeindliche Gesinnung zu finden, befanden sich unter den Gottesdienstbesuchern in der Dreifaltigkeitskirche regelmäßig Polizeispione. Schleiermacher war sich dessen bewusst, und seine Predigten belegen das. Besonders aufschlussreich dafür ist seine Predigt vom 17. November 1822 zum 25. Thronjubiläum Friedrich Wilhelms III. von Preußen über Spr 22,11: »Wer ein treues Herz hat und eine liebliche Rede, des Freund ist der König« (416–433). Auch die heftige Kritik an seinem Unionslehrbuch »Der Christliche Glaube«, dessen zweiter Band im Sommer 1822 erschienen war, ließ ihn befürchten, sich wieder vor der Polizei erklären zu müssen. Die Predigten vom 12. Oktober 1823 über Mt 18,1–4 und vom 26. Ok­-tober über Mt 18,7 können als Antwort darauf gelesen werden.
Auch diesem Band sind verschiedene Faksimile von Predigtnachschriften unterschiedlicher Hand beigegeben. Er schließt mit den üblichen Verzeichnissen (Abkürzungen, editorische Zeichen, Literatur, Namen, Bibelstellen). Und er setzt in allen Belangen den hohen Editionsstandard fort, an den man sich bei der KSG aufgrund der vorzüglichen Leistungen der Editoren und Editorinnen inzwischen beinahe schon, wenn auch leichtfertigerweise, ge­wöhnt hat.