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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

208–210

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Poirel, Ralph

Titel/Untertitel:

Die Idee des lebendigen Gottes. Franz Xaver Dieringers (1811–1876) christozentrische Offenbarungstheologie.

Verlag:

Würzburg: Echter 2012. 249 S. 23,3 x 15,3 cm = Bonner Dogmatische Studien, 50. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-429-03435-1.

Rezensent:

Gunther Wenz

Die katholisch-theologische Fakultät der nach Berliner Vorbild vom Preußenkönig gegründeten »Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität« zu Bonn (vgl. TRE 7, 75–79) begann im Jahre 1819 ihren Lehrbetrieb, um in ihrer Frühzeit ganz von Georg Hermes (1775–1831) und seinen Schülern geprägt zu werden, denen zufolge der Gehalt der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus der Vernunft ohne alle supranaturalen Prämissen einsichtig zu machen ist. Da er durch Aufhebung von Theologie in Philosophie die kirchlichen Autoritäten im Grunde für überflüssig erklärte, stieß der Hermesianismus noch vor seiner offiziellen Verurteilung bei fast allen Kirchenoberen auf strikte Ablehnung. Einer der prominentesten Hermeskritiker wurde der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel (1796–1864). Ihm sekundierte Franz Xaver Dieringer, der seit 1843 für fast drei Jahrzehnte als Ordinarius für Dogmatik und Hermeneutik in Bonn lehrte.
Dieringer wollte dezidiert ein »positiver« Theologe sein. Als vornehmste dogmatische Aufgabe galt ihm die Rekonstruktion des kirchlichen Offenbarungsbegriffs, dessen Bestimmung und authentische Explikation dem lebendigen Lehramt der Kirche an­vertraut sei. Wie er unter dieser Voraussetzung und unter diesen Rahmenbedingungen seine Lehre von der »Offenbarung als Selbstsetzung Gottes« (61), von Person und stellvertretendem Versöhnungswerk Jesu Christi und von der Kirche als der »gottmenschliche[n] Stellvertretung« (109) des inkarnierten Logos und menschheitlichen Versöhners entfaltete, wird von Ralph Poirel im zweiten und zentralen Teil (Das theologische Profil F. X. Dieringers) seiner im Sommersemester 2010 von der Katholisch-Theologischen Fa­kultät der Universität Bonn angenommenen Dissertation informativ und kenntnisreich nachgezeichnet. Ekklesiologisch entscheidend ist nach Dieringer (vgl. 111) die »wesentliche Diesselbigkeit« der Kirche mit ihrem Herrn. Heiliger Geist und menschliches Amt verhalten sich in ihrem Organismus wie göttliche und menschliche Natur der Person Jesu Christi. Zwar haben am kirchlichen Amt, das der in der Kraft des Geistes erfolgenden Christusrepräsentation für Menschheit und Welt dient, mittels ihrer Taufe je auf ihre Weise alle Kirchenglieder Anteil. Doch erfüllen die nichtordinierten Laien ihre spezifische Funktion im Wesentlichen durch hörenden Gehorsam, wohingegen amtliche Lehre den Ordinierten, in Sonderheit den Bischöfen als den Apostelnachfolgern in der Gemeinschaft mit dem Papst als dem Nachfolger Petri vorbehalten bleibt.
Die Unterscheidung von hörender und lehrender ecclesia gilt Dieringer als ein ebenso grundlegendes Kennzeichen der Kirche wie ihre hierarchische Verfasstheit, die er »durch Christus selbst gestiftet sieht« (119). Die päpstliche Vorrangstellung innerhalb der kirchlichen Hierarchie hat er niemals in Zweifel gezogen. Es ist im Gegenteil so, dass er seine gesamte Amtslehre vom Primatialamt her entwarf, das ihm als amtstheologischer »Dreh- und Angelpunkt« (122) galt. Ohne den amtlich verfassten Einheitsdienst des Nachfolgers Petri lässt sich seinem Urteil zufolge weder die Sakramentalität und göttlich eingesetzte Heilsmittlerschaft (vgl. 151 ff.) noch die der Kirche als Ganzer zukommende Unfehlbarkeit (vgl. 132 ff.) gewährleisten. Es mag daher überraschen, dass Dieringer gegenüber der Dogmatisierung von Infallibilität und universalkirchlichem Jurisdiktionsprimat des Papstes, wie sie im Zuge des I. Vatikanischen Konzils erfolgte, anfängliche Bedenken hegte. In der Reihe der Gründe für seine Reserve sind insbesondere folgende bemerkenswert: Während er Priestern und Diakonen nur mittels Beauftragung der Bischöfe Anteil am Hirten- und Lehramt gibt (135: »ihr Amt ist ein abgeleitetes, kein genuines Recht«), sieht er das Bischofsamt offenbar nicht in einem vergleichbaren Delegationsverhältnis zum Amt des Papstes. Zwar sind Bischöfe authentische und repräsentative »Träger der Unfehlbarkeit« (135) der Kirche nur in der Gemeinschaft mit dem Papst als dem Nachfolger Petri; doch kann dieser Dieringer zufolge, wie es scheint, seinerseits nur in der episkopalen Gemeinschaft und nicht als einzelne Amtsperson in­fallibel urteilen. P. geht in seiner Interpretation einschlägiger Dieringertexte noch weiter und findet in ihnen die Lehre begründet, wonach sich die päpstliche Unfehlbarkeit »von der kirchlichen Unfehlbarkeit des Lehramtes im Episkopat« ableite »und nicht um­gekehrt« (149). Zur Prüfung sei auf die einschlägigen Ausführungen zum gottmenschlichen Organismus der kirchlichen Stellvertretung Jesu Christi und insbesondere zur Zuwendung der göttlichen Wahrheit durch das Lehramt in Dieringers »Lehrbuch der katholischen Dogmatik« (Mainz 51865, 604 ff.620 ff.) verwiesen; entscheidend ist § 126 (bes. 3 f.) über die Lehrautorität der Kirche.
Wie auch immer es sich mit seiner Einschätzung episkopaler und papaler In­fallibilität und mit der These verhalten mag, das Petrusamt sei nicht »zwingend an das Bischofsamt von Rom gebunden« (146): Am Ende streckt Dieringer die ohnehin nicht allzu scharf geschliffenen Waffen seiner Kritik, unterwirft sich und erteilt dem vatikanischen Unfehlbarkeitsdogma seine Zustimmung, welche die Mehrheit seiner Bonner Fakultätskollegen verweigert hatte. Seinen Lehrstuhl gibt er auf, um sich dorthin zurückzuziehen, woher er gekommen war: in die Hohenzollern’schen Lande, deren vereinigte Fürstentümer Hechingen und Sigmaringen Mitte des 19. Jh.s preußische Provinz geworden waren, um von der Rheinprovinz aus verwaltet zu werden. (Zu Dieringers Unterwerfung und Amtsverzicht vgl. im Einzelnen A. Franzen, Die Katholisch-Theologische Fakultät Bonn im Streit um das Erste Vatikanische Konzil. Zugleich ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Altkatholizismus am Niederrhein, Köln/Wien 1974 [Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte Bd. 6], 256 ff.) Der 1811 in Rangendingen Geborene wird 60 Jahre später Pfarrer im nahen Veringendorf, wo er im September 1876 stirbt.
Im ersten Teil seiner Dissertation (Hinführung zu Person und Werk) verfolgt P. die wichtigsten Stationen auf Dieringers Lebensweg von Rangendingen nach Veringendorf. Besondere Beachtung finden das Studium in Tübingen und die Bezüge zur dortigen Theologenschule, die Zeit als Repentent in Freiburg und die Kontakte zu F. A. Staudenmaier (1800–1856), das Professorat in Speyer und die beginnende »enge berufliche Verbindung und persönliche Freundschaft« (22) zu J. v. Geissel sowie naturgemäß Dieringers Wirken als Professor und Domkapitular im Erzbistum Köln. Gerne etwas mehr erfahren hätte man über den »Ausflug Dieringers in die Politik« (32) und sein Wirken im Frankfurter Parlament als Repräsentant der konservativen Casino-Partei. Theologiegeschichtlich interessant sind neben seiner Haltung zum I. Vatica num u. a. seine Auseinandersetzungen mit den 1857 kirchlich verurteilten Lehren Anton Günthers (1783–1863), in denen er »die alten Ideen Hermes’ wiedererkennt« (33). Der zentrale Gegensatz zum Güntherianismus liegt zweifellos in der differenten Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung be­gründet (vgl. 214 ff.), wie P. im abschließenden dritten Teil seiner Dissertation zu den zeitgenössischen Kontexten der Dieringer’schen Theologie (Wes­sen­bergianismus, Tübinger Schule und F. A. Staudenmaier, Güntherianismus und Neuscholastik) ausführt.
Obwohl Dieringer nach Urteil von P. »bis in die Mitte der 1860er Jahre die prägendste intellektuelle Kraft der Bonner Fakultät und der Lehrer mit dem größten Einfluss und Rückhalt beim Erzbischof« (27) blieb, sind seine dogmatischen Schriften einschließlich seines 1847 erschienenen, 1865 zum fünften Mal aufgelegten Dogmatiklehrbuchs in der Folgezeit kaum mehr oder nur noch gering rezipiert worden. Wissenschaftlich nachgewirkt haben seine Werke weniger direkt als indirekt, »indem sie wesentlich mit dazu beigetragen haben, die Lehren Günthers und Hermes’ zu verdrängen« (39). Wem an Rubrizierungen liegt, wird Dieringers »positive« Theologie und seine dogmatische »Wissenschaft der Construction des kirchlichen Lehrbegriffes« (Vorrede zur Erstauflage des Lehr buchs der katholischen Dogmatik) wohl am treffendsten als »re­-staurationstheologisch« (vgl. H. Schrörs, Geschichte der Ka­tholisch-Theologischen Fakultät zu Bonn 1818–1831. Festschrift des historischen Vereins für den Niederrhein zur Hundertjahrfeier der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität. Erster Teil, Köln 1921, 396) kennzeichnen, mit welchem Stichwort auch der Geist, der P.s Bonner Dissertation inspirierte, nicht unpassend umschrieben sein dürfte.