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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

206–208

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hunsinger, George [Ed.]

Titel/Untertitel:

Thy Word Is Truth. Barth on Scripture.

Verlag:

Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2012. XXI, 234 S. 22,7 x 15,2 cm. Kart. US$ 40,00. ISBN 978-0-8028-6674-5.

Rezensent:

Benjamin Dahlke

Bekannt wurde Karl Barth durch eine eigenwillige, zwischen verschiedenen literarischen Genres changierende Auslegung des Römerbriefs. Als er die Kanzel gegen das Katheder vertauscht hatte– damals stellte Adolf von Harnack ausdrücklich in Abrede, dass dies wirklich geschehen war –, bot er immer wieder Lehrveranstaltungen zu einzelnen biblischen Büchern an, nicht zuletzt zur neutestamentlichen Briefliteratur. Auch auf jeder Seite der Kirchlichen Dogmatik wird deutlich, wie sehr er in und mit der Heiligen Schrift lebte und dachte. Barths Auffassung nach ist in den biblischen Texten, gleichermaßen denen des Alten wie des Neuen Testaments, Gottes Offenbarung gültig bezeugt. Aus diesem Grund kann die Theologie nichts anderes sein als das stete Bemühen, den Sinngehalt dieser Texte zu erheben. Schriftauslegung ist damit kein bloß technisches Verfahren, das sich akademisch-kontrolliert mit einem breitgefächerten Methodenrepertoire bewerkstelligen ließe, sondern die einzige Weise, in der eine der Offenbarung verpflichtete Theologie überhaupt erfolgen kann.
Zu dem nach und für Barth zentralen Thema der Schriftauslegung fand im Mai 2006 eine Tagung in Princeton statt. Initiator der Tagung und Herausgeber des sie dokumentierenden Bandes ist George Hunsinger. Der Professor am Princeton Theological Semi­-nary zählt zu den Hauptpromotoren der derzeit starken Auseinandersetzung mit Barth in den USA. In seinem eigenen Beitrag zeichnet er nach, wie in der Kirchlichen Dogmatik der dem Hebräerbrief entnommene Vers interpretiert wird, Jesus Christus sei derselbe, gestern wie heute und in Ewigkeit (112–124). In einem ebenso gründlichen wie materialreichen Beitrag, der freilich schon andernorts publiziert wurde, stellt John Webster die Vorlesungen über das Johannesevangelium vor, die Barth zunächst in Münster, dann in Bonn hielt; besonders arbeitet der im schottischen Aberdeen tätige Theologe dabei die biographischen und werkgeschichtlichen Zusammenhänge heraus (125–147). Stärker systematisch – ein wenig wohl auch theologiepolitisch – orientiert ist demgegenüber Paul D. Molnar, Professor in New York. Er stellt die von Barth vorgenommene Totalidentifikation des Wortes Gottes mit Jesus Christus einem Strang der neueren Theologiegeschichte gegen­-über, der auf Paul Tillich zurückgehe und sich am Religionsbegriff orientiere, statt in gläubigem Gehorsam Gott selbst zu Wort kommen zu lassen (151–172). Im Übrigen ist auch Molnars Beitrag zuvor bereits veröffentlicht worden. Paul Dafydd Jones, der mit einer Dissertation zum Thema hervorgetreten ist und inzwischen an der Universität von Virginia lehrt, geht schließlich auf Barths Christologie ein (173–195).
Machen die auf der Tagung gehaltenen Vorträge zusammen etwas mehr als 100 Druckseiten aus, reichern fünf weitere Beiträge den Sammelband an. Sie thematisieren unterschiedliche Aspekte von Barths Schriftauslegung. Nach welchen Kriterien sie ausgewählt wurden, bleibt jedoch offen. Warum lohnt es, einen im Jahr 1965 veröffentlichten Beitrag von Robert McAfee Brown – ein wohl nur Eingeweihten bekannter Theologe – erneut vorzulegen (3–19)? Dieselbe Frage stellt sich in Bezug auf einen im Frühjahr 1974 ge­haltenen Vortrag von Hans W. Frei: Hat er eine derart erschließende Kraft oder ist er forschungsgeschichtlich von einem solchen Interesse, dass er unbedingt publiziert werden muss? Welchen Nutzen hat es des Weiteren, Rudolf Smends bis heute anregenden, in der Festschrift anlässlich von Barths 80. Geburtstag erschienenen Artikel über dessen ›nachkritische Schriftauslegung‹ kommentierend zu paraphrasieren, anstatt ihn gleich zu übersetzen (29–48)? Am ehesten noch erschließen sich A. Katherine Griebs Interpretation von Barths Deutung der Bergpredigt (86–111) sowie Katherine Sondereggers Ausführungen zur Inspirationslehre (20–28). Allerdings kommt Sondereggers Essay ohne jede Bezugnahme auf die an sich vorhandene Sekundärliteratur aus, und den Verweis auf neuere Debatten um die Inspirationslehre sucht man ebenso vergeblich. Genau an diesem Punkt zeigt sich denn auch das entscheidende Problem: Barth ist in einem bestimmten Segment der angelsäch­sischen, insbesondere der reformiert geprägten Theologie offenbar zu einem Referenzautor geworden – systematisches Denken ge­schieht im Anschluss an sein Denken. Das wird aktualisierend nachvollzogen, d. h. dogmatische Aussagen werden im Modus der Barth-Interpretation gewonnen.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, wieso sich kaum noch unterscheiden lässt, was als ein auf die historische Erschließung etwa der Kirchlichen Dogmatik zielender Forschungsbeitrag gelten kann und was auf das systematische Interesse der jeweiligen Autoren zurückzuführen ist. Beide Ebenen gehen in den meisten Beiträgen des Bandes ineinander über, sie verschwimmen bisweilen sogar. Überhaupt wird einfach vorausgesetzt, dass Barths Denken für die heutige theologische Urteilsbildung von unbedingter Relevanz ist. Um die Anschlussfähigkeit an anders geprägte Diskurswelten scheint man sich nicht weiter zu bekümmern.