Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

202–204

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dietz, Thorsten, u. Harald Matern [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Rudolf Otto. Religion und Subjekt.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. 263 S. 22,5 x 15,0 cm = Christentum und Kultur, 12. Kart. EUR 32,30. ISBN 978-3-290-17608-2.

Rezensent:

Georg Pfleiderer

Gegenwärtig ist im deutschen Sprachraum eine Intensivierung des Interesses an Rudolf Otto und seinem Klassiker »Das Heilige« erkennbar, erfreulicherweise auch unter Forschern der jüngeren und jüngsten Generation. Die überarbeiteten Beiträge eines von 2010 in Marburg veranstalteten Symposions sind hier anzuzeigen. Beigefügt bzw. vorausgeschickt haben die Herausgeber einen Text Rudolf Ottos – den dereinst etwas verstreut (in fünf CW-Nummern) publizierten legendären »Reisebericht 1911«, der die teilnahmsvollen Beobachtungen des liberalen theologischen Religionstouristen in Teneriffa und Nordafrika schildert. Die dort an den Rändern Europas nach beschwerlicher langer Reise erlebte Vielfalt fremdländischer Religiosität kann heute bekanntlich innerhalb eines Nachmittags in jeder mittelgroßen europäischen Stadt besichtigt werden. Es ist wahrscheinlich dieser so alltäglich gewordene »Entdeckungszusammenhang« religiöser Multikulturalität, der Ottos theoretischen Deutungsversuch auch und gerade für jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute wieder so attraktiv zu machen scheint. Denn hinzu kommt, dass Ottos Das Heilige ja als Versuch gelesen werden kann, auf die zu seiner Zeit bereits ziemlich breite, disziplinäre Ausdifferenzierung »religionsbezo­gener« Wissenschaften mit einem neuartigen, synthetischen, im nicht-disziplinären Sinne »phänomenologischen« Theoriemodell zu reagieren.
Otto und sein Hauptwerk eignen sich darum in besonderem Maße als Plattform zur interdisziplinären Verständigung für eine Nachwuchsgeneration, die mancher disziplinärer Grabenkämpfe der Älteren überdrüssig gemeinsam zu neuen Ufern aufbrechen will. Genau dies ist hier der Fall, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Referenten der Tagung und Autoren des Bandes sind zwei junge Systematische Theologen aus unterschiedlichen Universitätskontexten (Harald Matern und Peter Schüz), ein Religionswissenschaftler mit literaturwissenschaftlicher Methodik (Dirk Johannsen), eine Religionswissenschaftlerin mit religionspsychologischem Interesse sowie zwei in unterschiedlichem Maß akademisch sozialisierte Vertreter der freikirchlich-pietistisch geprägten Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg (Thorsten Dietz und Stefan S. Jäger), die mit ihrem »Marburger Institut für Religion und Psychotherapie« auch institutioneller Mitträger des Symposions war (was auch noch zwei Jahre später die Homepage schmückt).
Ergänzend zu dem auch so schon gegebenen Perspektivenreichtum wurde ein 2007 erstveröffentlichter Beitrag des etablierten US-amerikanischen Otto-Forschers Gregory D. Alles in deutscher Übersetzung (H. Matern) aufgenommen, der in religionsökonomischer Manier Ottos Lebenswerk, namentlich den jahrzehntelangen Aufbau seiner berühmten Religionskundlichen Sammlung, als spät- oder postkoloniales »Importunternehmen« deutet.
Thorsten Dietz und Harald Matern, die beiden Initianten des Gesamtunternehmens, verfolgen jeweils theorie-analytische Interessen. Seit seiner Dissertation über Luthers Pneumatologie habe, so Thorsten Dietz, der Bezug auf Martin Luther für Otto immer eine große, wenn auch in späteren Jahren eher latente Rolle gespielt. Dabei habe er den Reformator im Zuge einer modernen »Wendung zum Subjekt« (83) als religiösen Heroen, der mit einem »ursprünglichen Erleben« (84) begnadet gewesen sei, interpretiert. Dessen auch von anderen Zeitgenossen, z. B. W. Bousset beobachtete, »doppelte Grundstimmung« (95) sei insbesondere in Das Heilige strukturbestimmend für Ottos Religionsbegriff (»Kontrast-Harmonie«) geworden, überdies verbürge »der Bezug auf Otto die Positionalität der eigenen Untersuchung« (96). Dabei hätte Otto jedoch bestimmte elementare theologische Grundbestimmungen von Luthers Glaubensbegriff (fiducia, Gesetz-Evangelium, Christologie) eher abgeblendet, was sich etwa an seiner Tendenz zur Gradualisierung religiöser Stimmungen zeige.
Die genetisch-systematische Rekonstruktion des Otto’schen Gefühlsbegriffs (Harald Matern) führt auf die Herausarbeitung zentraler Elemente der Religionstheorie Ottos: die »Spannungen« von Erlebnis und Deutung/Urteil, bzw. Erlebnis und Wahrheit (des religiösen Gegenstandes), transzendentaler und phänomenologischer bzw. realistischer oder erfahrungsbezogener Reli­gions­bestimmung. Im Rückgriff auf Ottos Schleiermacherrezeption, insbesondere seiner Neuausgabe der Erstauflage Reden (1799/1899) sowie dessen späterer Schriften, zeigt Matern in präzisen Analysen, wie Otto die schon bei Schleiermacher gegebenen Spannungsverhältnisse rezipiert, durch die Aufnahme des Fries’schen Ahnungsbegriffs zu übergreifen und in Das Heilige einer eigenen konstruktiven Lösung zuzuführen sucht. Diese bestehe im Wesentlichen darin, die subjekt- bzw. erkenntnistheoretischen Spannungen als begründet durch die interne Verfasstheit des religiösen Gegenstandes bzw. des auf ihn bezogenen spezifischen Ge­fühls selbst zu er­weisen. Freilich zeige die Ambiguität der Rezeption des Otto’schen Klassikers (zwischen Deutungstheorie und Essentialismus) die Re­lativität der dort gebotenen Lösungen.
Gemäß Stephanie Gripentrog hat sich Otto auf der Höhe des religionspsychologischen Forschungsstandes seiner Zeit bewegt; er habe die Ergebnisse der beiden divergenten Theorielinien, der verstehend-beschreibenden (W. James) und der empirisch-experimentellen (W. Wundt) (156) rezipiert. Hinsichtlich der beiden zentralen Fragen nach dem »Ursprung« und der »Wahrheit« der Religion habe Otto mit dem »Verweis auf den sui-generis-Status des Religiösen« (172) jeweils eigene Antworten zu geben versucht, die religionspsychologischen Methodiken gerecht zu werden und sie zugleich kritisch zu begrenzen suchten.
Ähnliches ließe sich wohl auch für Ottos Verhältnis zu den religionsgeschichtlichen Diskursen seiner Zeit behaupten. Im An­schluss an eine neue Monographie von Dietz Lange legt Stefan S. Jäger dar, »dass Ottos Verständnis des Heiligen bereits bei [Nathan] Söderblom in starkem Mass vorgeprägt« (192), gleichwohl eigenständig weiterentwickelt worden sei.
Dass Das Heilige seit 1910 als religionstheoretischer Zentralbegriff gewissermaßen in der Luft liegt, scheint theoriegeschichtliche (Komplexität historischer Ursprungs- und Wesensdebatten der Re­ligion), aber auch kulturgeschichtliche Gründe (Krisenerfahrungen des 1. Weltkriegs!) zu haben. Dies zeigt paradigmatisch die beinahe lebenslange Ottorezeption Paul Tillichs, die von Peter Schüz in einer brillianten Analyse aufgearbeitet wird. Darin macht er plausibel, dass Otto für Tillich dank der 1918 »im Feld« vorgenommenen Lektüre von Das Heilige zu einem intellektuellen, seine eigene Denkentwicklung nachhaltig prägenden Schlüsselerlebnis wird, weil er darin eigene religiös-theologische Grundfragen und -ge­danken gespiegelt sieht. In Tillichs sinntheoretischer Perspektive bietet Ottos Begriff des Heiligen die nukleare Kategorie parado­xaler modern-kritischer Sinn-Religiosität. Freilich erfordere der Begriff nach Tillich eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von Grund und Abgrund des Absoluten bzw. des Seins, was bei ihm zu seiner Ersetzung durch den Begriff des Unbedingten geführt habe. Spätestens seit Tillichs kurzer Lehrtätigkeit in Marburg 1924/25 seien sich die beiden künstlerisch-weltoffenen Außenseiter der bieder-bissigen theologischen Zunft auch freundschaftlich nähergekommen, was zudem in den vielfältigen gemeinsamen Interessen auf praktisch-ethischem und kulturtheologischem Gebiet begründet sei. Noch die letzte Wendung von Tillichs Theologie in den 1960er Jahren hin zu einer Religionstheologie sei von Otto in­spiriert gewesen.
Die theologische Rezeption Tillichs spiegelt gleichsam idealtypisch das religiös-intellektuelle Anregungspotenzial von Das Heilige. In einem anregend neuartigen Zugriff präpariert Dirk Johannsen in präziser literaturwissenschaftlicher Analyse der »Textoberfläche« die performativen Techniken des Buches heraus. Diese basierten auf einer intensiven, variantenreichen (fiktiven) Redekommunikation mit dem intentionalen (religiös-wissenschaftlichen) Leser (vgl. dazu auch schon Markus Perrenoud in W. Schüssler [Hrsg]: Wie lässt sich über Gott sprechen?, 2008) und verwendeten darüber hinaus literarische Techniken, wie sie aus dem Genre der »supernatural tales« bekannt seien (»Geister« als Leerstelle bzw. personalisierte Unbestimmtheit etc.).
Summa summarum: Ein Klassiker erweist seine Qualitäten als Verständigungsplattform für eine neue interdisziplinäre Wis­-senschaftlergeneration mit erfreulich geringen wechselseitigen Be­rührungsängsten, durchaus ein Vorzeigeprojekt, das in einer nächsten Runde aber ruhig auch noch kontroverser und gegenwartsbezogener werden dürfte.