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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

200–202

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dienstbeck, Stefan

Titel/Untertitel:

Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 491 S. 23,2 x 15,5 cm = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 132. Geb. EUR 79,99. ISBN 978-3-525-56364-9.

Rezensent:

Erdmann Sturm

»Will man einen Philosophen ehren, so muss man ihn da auffassen, wo er noch nicht zu den Folgen fortgegangen ist, in seinem Grundgedanken; denn in der weiteren Entwicklung kann er gegen seine eigne Absicht irren, und nichts ist leichter als in der Philosophie zu irren …«. Unter dieses Motto aus Schellings »Philosophie der Offenbarung« hat Stefan Dienstbeck seine im Jahr 2010 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München als Dissertation angenommene Untersuchung gestellt. Ihr Gegenstand ist also der »Grundgedanke«, dem Paul Tillich in seiner ganzen, sich über fünf Jahrzehnte erstreckenden philosophisch-theologischen Denkentwicklung trotz gelegentlicher Ab- und Irrwege folgt. D. knüpft damit kritisch und konstruktiv an diejenigen Forschungsarbeiten an, die nach der das Gesamtkorpus von Tillich bestimmenden Mitte bzw. der »Grammatik« seines Denkens fragen (F. Wagner, G. Wenz, Ch. Danz).
Der Titel der Untersuchung macht den Grundgedanken Tillichs namhaft als »transzendentale Strukturtheorie«. In der Frage nach der Struktur der Wirklichkeit als solcher sieht D. den Grundgedanken Tillichs, das Systemprinzip, das im ersten Stadium, der Wahrheitstheorie, seine »Fundierung«, im zweiten Stadium seine sinntheoretische »Präzisierung« und im dritten Stadium seine »ontologische Gestaltung« erfährt.
Fast die Hälfte des Bandes ist der »wahrheitstheoretischen Fundierung des Systemprinzips« gewidmet (37–234). Grundlage ist die »Systematische Theologie« von 1913. Ausgangspunkt des Systems ist die Wahrheit als das Absolute. Ihr wird das Denken eingezeichnet, das im Widerspruch zum Prinzip steht und trotzdem in ihm verankert ist. Die Wahrheit ist somit der transzendentale Grund des Denkens überhaupt. D. deutet das Prinzip als ein »prozessuales Geschehen der Wahrheit« (57). Es bedarf des »unablässigen Kreislaufs der Wahrheit« (67), in dessen Ablauf das Denken, der Reflexionsstandpunkt, sich einreihen muss, um sich selbst zu verwirklichen. Zwischen beiden Polen des Wahrheitsprinzips, dem Absoluten und dem Relativen, besteht eine unauflösbare Spannung, doch sind sie in Identität vereint (Identität von Identität und Differenz). D. zeigt, was dies für den Religions- und den Gottesbegriff bedeutet (69–73). Das Konkrete kann aber aus seiner Relativität nur durch die Herablassung des Absoluten und dessen Herausführung zum Absoluten befreit werden. Damit ist das Paradox oder der theo­logische Standpunkt gegeben. Er trägt das Prinzip der Selbstüberwindung in sich und zielt auf eine Auflösung des Pa­radoxes in einem dritten, teleologischen Moment des theologischen Prinzips. Abschließend beschreibt D. ausführlich die materialdogmatische Durchführung des theologischen Prinzips (124–234).
Thema des 2. Teils ist Tillichs Sinntheorie (235–338). Hauptgrundlage der Analyse ist der in zwei Versionen vorliegende Entwurf »Rechtfertigung und Zweifel« von 1919. Er belegt die Zentralstellung, die nun der prinzipielle Zweifel in Tillichs Denken einnimmt. Der Zweifel wird zum unhintergehbaren Faktum von Subjektivität. Auf dem Weg von der wahrheitstheoretischen zur sinntheoretischen Konzeption findet aber – so D. – keine »Umformung«, sondern vielmehr eine Präzisierung der Wahrheitstheorie statt. Unbeschadet des Ernstnehmens des prinzipiellen theoretischen Zweifels halte Tillich daran fest, »dass das Selbst allezeit im reflexiven Nachvollzug der eigenen Selbstkonstitution nicht um­hin kann, sich als nicht unmittelbar selbstsetzend zu erfassen« (248). Diese Wahrnehmung sei kein theoretisches Wissen, sondern »evidentes Faktum« (248), das sich aus der Faktizität des Selbstseins ergibt und somit vor jeglicher Reflexivität und vor dem Zweifel steht. Sinn ist einerseits eine absolute, transzendentale Größe, andererseits subjektivitätstheoretische Einholung und Konkretisierung von absolutem Sinn. D. sieht in dieser Phase des Denkens Tillichs das eigentliche Problem (die »Aporie«) darin, dass diese Po­larität zugunsten der Selbstheit von Subjektivität aufgelöst wird.
Im 3. Teil seiner Studie (339–433) wendet sich D. der Ontologie des späten Tillich zu, wie sie in der Systematic Theology (1951–63) vorliegt. D. zieht aber auch die Ontologie-Vorlesung von 1951 heran. Eine genauere Analyse der Systematic Theology I hätte dies überflüssig gemacht. Im Anschluss an Tillich beschreibt D. Ontologie als transzendentale Strukturtheorie. Ontologie als Frage nach der Seinsstruktur kann zwar – so D. – zur Ausbildung des Begriffs des Seins-Selbst vordringen, aber keine Antwort auf die Frage des Menschen nach dem geben, was die Angst vor Nichtsein und Sinnlosigkeit zu überwinden vermag. D. fragt aber, ob sich Ontologie und Theologie noch unterscheiden lassen, wenn Tillich den Satz, dass Gott das Sein-Selbst ist, als einen nicht-symbolischen Satz versteht. Die Gleichsetzung von Sein-Selbst und Gott komme einer metaphysischen Setzung gleich. Diese »Schwachstelle« im System Tillichs (407) sei aber keine systemnotwendige Konsequenz, sie lasse sich mit Tillichs eigenen Aussagen widerlegen.
Die Untersuchung schließt mit einem »Epilog« (435–466), der aber weit mehr als ein Epilog ist. D. stellt darin u.a. eine Theorie der Tillichinterpretation im Rahmen einer transzendentalen Strukturtheorie vor, die die aporetischen Momente der drei Stadien der Systembildung Tillichs aufgrund ihrer Perspektivität als »unvermeidlich, ja als systemkonstitutiv« (435) zu erweisen sucht. Darin liegt m. E. die besondere Pointe der Untersuchung. D. spricht nicht von einem oder dem System Tillichs, sondern von »Stadien der Sys­tembildung« als perspektivisch verfassten Momenten seiner Theologie. Er zeigt außerdem, inwiefern Tillichs Theologie sich als transzendentale Strukturtheorie interpretieren lässt (447–466). Es gehe Tillich darum, »die Bedingungen der Möglichkeit von Selbst- und Weltvollzug bzw. allgemeiner gesprochen: des Seinsvollzugs zu bestimmen« (447). Mit dem Begriff des Transzendentalen will D. zur Geltung bringen, dass das Unbedingte der transzendentale Grund all dessen ist, »was sich nicht schlechthin selbst gegeben ist, sondern sein Sich-Gegebensein immer nur in Vermittlung, mit-hin in Selbstüberwindung seiner selbst und damit vermittels der schlechthinnigen Selbstgegebenheit selbst einzuholen vermag« (447, Anm. 20).
Die Untersuchung von D. ist die bisher erste systematische Studie zum Gesamtkorpus des philosophisch-theologischen Denkens Tillichs. Sie zeichnet sich durch systematisch-logische Klarheit und Stringenz aus. Ein besonderer Erkenntnisgewinn liegt m. E. in der präzisen Interpretation der Texte aus der wahrheits- und sinntheoretischen Phase des Denkens Tillichs. Von den neueren Arbeiten über Tillich unterscheidet sich diese dadurch, dass sie ein idealis­tisches Missverständnis Tillichs zu vermeiden sucht, indem sie die Tatsache der Vermittlung von Unmittelbarkeit und Tillichs zentralen Begriff der Selbstüberwindung für alle drei Stadien der Systembildung konsequent in die Interpretation einbringt.