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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

197–199

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Scheib, Otto

Titel/Untertitel:

Die innerchristlichen Religionsgespräche im Abendland. Regionale Verbreitung, institutionelle Gestalt, theologische Themen, kirchenpolitische Funktion. Mit besonderer Berücksichtigung des konfessionellen Zeitalters (1517–1689). 3 Bde.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz in Kommission 2009. 1005 S. m. Abb. 29,7 x 21,0 cm = Wolfenbütteler Forschungen, 122. Kart. EUR 198,00. ISBN 978-3-447-06133-9.

Rezensent:

Christopher Spehr

Monumentale Lebenswerke sind im sich beschleunigenden Wissenschaftsbetrieb selten geworden. Umso beachtlicher ist daher das dreibändige Werk von Otto Scheib über die innerchristlichen Religionsgespräche im Abendland, dessen Entstehung auf ein Seminar im Jahr 1962 zurückgeht. 2004 wurde es abgeschlossen. In facettenreicher Kleinarbeit bieten die etwas unhandlichen Bände (DIN-A 4) einen Überblick über die Gesamtthematik der Religionsgespräche von der frühen Neuzeit bis ca. 1800. Hierbei wagt der Freiburger Kirchenhistoriker den Versuch, möglichst alle privaten und öffentlichen Religionsgespräche zu erfassen, sie in ihrer zeitlichen und geografischen Verbreitung zu verorten und die Gesprächsinhalte sowie ihre Strukturen und Funktionen im institutionellen Gefüge zu untersuchen.
Als Verbreitungsraum konzentriert sich S. auf das Europa der Reformation und der lateinischen Kirche. Den weitgesteckten Rahmen bringt S. auch in seiner Begriffsdefinition zum Ausdruck. Unter Religionsgespräch summiert er »alle mehr oder minder theo­logischen Gespräche zwischen den religiösen beziehungsweise theologischen Vorkämpfern der entstehenden oder etablierten Re­ligionen oder innerreligiöser Konfessionen und Glaubensrichtungen (wie den Pietismus) […], die der Entscheidung kontroverser religiöser Fragen oder der Einigung in ihnen dienten, gleichgültig, ob sie privat oder öffentlich waren und in welcher Form sie abgehalten wurden.« (22). Immerhin kann S. mit Hilfe dieses m. E. etwas konturlosen Oberbegriffs die verschiedensten Arten der Gespräche bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches zusammenhalten. Einer theologiehistorisch differenzierten Be­schreibung dient diese Generalisierung kaum.
Im ersten Teil der chronologisch aufgebauten Studie wird überblicksartig die »Entwicklung der Religionsgespräche im Altertum und im Mittelalter« (23–52) skizziert. Als kolloquiale Anknüpfungspunkte werden Augustins Streitgespräche mit den Donatis­ten, die akademischen Disputationen der mittelalterlichen Universitäten, die abendländischen Religions- und Missionsgespräche, die Ketzerverhöre und die spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen der römischen Kirche mit den Hussiten hervorgehoben. Die einschneidende Zäsur, die zur »Entstehung der neuzeitlichen Religionsgespräche« in den Jahren 1517 bis 1528 führte und den zweiten Teil (53–143) umfasst, sieht S. in Luthers Forderung nach einer Disputation anstelle des Ketzerprozesses (72). Diesen Impuls hätten Luthers Anhänger sogleich aufgegriffen und so die reformatorische Bewegung zu einer »Diskussionsbewegung« (74) gemacht. Zwingli habe schließlich mit den von der weltlichen Obrigkeit initiierten Zürcher Disputationen neue »Diskussions- und Entscheidungsformen« gefunden. Der eigentliche Punkt liegt aber tiefer. Durch Luthers reformatorische Einsichten verloren die kirchlichen Institutionen ihre Autorität zugunsten von Bibel und Vernunft. Aus diesem Autoritätenkonflikt folgert S., dass nun das Religionsgespräch zur »einzigen Institution der interkonfessionellen Streitentscheidung oder der Reunion« (52) geworden sei.
Der dritte Teil (145–309) widmet sich den Religionsgesprächen »im Zeitalter des Konfessionalismus und unter dem Einfluß des Humanismus« in der Zeit von 1529 bis 1570 und setzt die Darstellung über die »Diskussionsbewegung« fort. In diesem umfangreichen Kapitel werden die frühen »innerprotestantischen Klärungsgespräche« (104) ebenso mit einbezogen wie die als kaiserliche »Reunionsversuche« (182) charakterisierten Reichsreligionsgespräche. Aufschlussreich ist die Beobachtung, dass um 1537 die »Welle der Städtekolloquien« im Reich auslief (308) und nun humanistisch geprägte Gespräche in den Vordergrund traten. Nach 1548 mehrten sich die Stimmen, welche Religionsgespräche zum Erreichen eines Religionsvergleichs ablehnten. Das Scheitern des Wormser Kolloquiums 1557 (210–212) sollte den Kritikern Recht geben. Mit der Etablierung und Festigung der drei Konfessionen im Reich ging Ende der 1560er Jahre diese Phase der um Einheit ringenden Religionsgespräche zur Neige.
Den weiten europäischen Horizont nimmt der vierte Teil (319–506) unter dem Titel »Die Religionsgespräche während des Kampfes der Konfessionen um die Vorherrschaft und das Aufkommen der politisch motivierten Gespräche 1570–1630« in den Blick. Kontroversgespräche und Disputationen prägten nun das Bild und förderten das Religionsgespräch als Instrument der Konfessionspolitik. Dass hierbei auch die Jesuiten eine herausragende Rolle spielten, indem sie das Institut des Religionsgesprächs als Mittel der Gegenreformation anwendeten, verschweigt S. nicht (477–494).
Der fünfte Teil fasst die Gespräche »im Zeitalter der absolutistischen Konfessionspolitik 1630–1740« zusammen (507–605). Durch die Frühaufklärung – S. bezeichnet sie kritisch als Rationalismus (595) – und die Vernunftorientierung des Naturrechts wurde von den weltlichen Obrigkeiten zunehmend der Toleranzgedanke gegenüber dem Reunionsgedanken präferiert. Die letzten staatlich arrangierten Vereinigungsgespräche sollten Anfang der 1720er Jahre scheitern (597 f.).
Schließlich wendet sich ein schmaler sechster Teil den »Re­-unionsprojekte[n] und Diskussionen während der Herrschaft der Aufklärung und des aufgeklärten Staatskirchentums 1740–1830« zu (607–619). Privatgespräche, das Werk des »Febronius«, die Fuldaer Reunionsgeheimgesellschaft und weitere Publikationen, in denen eine Reunion zwischen Katholiken und Protestanten diskutiert wurde, finden hier ihre Erwähnung. Zum Schluss (621–647) fasst S. die unterschiedlichen Linien noch einmal zusammen, problematisiert Strukturen und Entwicklungen der abendländischen Religionsgespräche und diskutiert sie im Blick auf ihre historische und ökumenische Dimension. Ein umfassendes Literatur-, Personen-, Orts- und Sachregister, das im dritten Band geboten wird, rundet die gewaltige Fleißarbeit ab.
Der weite Bogen und die Vielzahl der genannten Gespräche sind enorm. Bedauerlicherweise hat sich eine Reihe von sachlichen Fehlern eingeschlichen, die den verlässlichen Gebrauch des Werkes etwas schmälern. Deutlich problematischer ist aber die mangelnde inhaltliche Fixierung der Gespräche. Ohne Berücksichtigung des historischen Kontexts und des theologischen Gehalts werden sie oft lediglich aneinandergereiht und tragen so zur Bestätigung von S.s Geschichtsbild bei. Die Forschungen der vergangenen Jahre über einzelne Religionsgespräche, die Konzilsthematik, territo­riale Konfessionspolitik, Reunionsbemühungen, Aufklärung, Irenik u. a. haben ein deutlich differenzierteres Bild entstehen lassen. Schwierigkeiten weist auch der Begriffsgebrauch wie beispielsweise die häufig synonyme Verwendung des Unions- und Reunionsbegriffs in der Studie auf. Zur besseren Akzentuierung wäre es sinnvoller gewesen, das Wort »Reunion« ausschließlich im Kontext der pro­tes­tantisch-katholischen Wiedervereinigungsthematik und »Union« im Kontext der innerprotestantischen Einigungsbemühungen zu verwenden.
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