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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

195–197

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Michel, Stefan, u. Christian Speer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Georg Rörer (1492–1557). Der Chronist der Wittenberger Reformation.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 352 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 15. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03002-6.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Dass vor einigen Jahren die Diskussion um die Veröffentlichung von Luthers Ablassthesen neu aufflackerte, verdankte sich der Wiederentdeckung einer Notiz Georg Rörers, die davon berichtet, dass »im Jahre des Herrn 1517, am Vorabend des Allerheiligenfestes, an den Türen der Wittenberger Kirchen die Thesen über den Ablass von Doktor Martin Luther veröffentlicht wurden« (hierzu: Luthers Thesenanschlag. Faktum oder Fiktion, hrsg. v. J. Ott u. M. Treu, 2008). Diese Notiz findet sich in den für die Reformations- und Lutherforschung wichtigen Beständen der Thüringer Landes- und Universitätsbibliothek Jena. Die dort aufbewahrte vormalige Wittenberger Universitätsbibliothek (Bibliotheca Electoralis) und die Sammlung von Manuskripten aus dem Besitz Georg Rörers (Rörer-Sammlung) wurden in den letzten Jahren im Rahmen mehrerer DFG-Projekte wissenschaftlich aufgearbeitet. Der vorliegende, im Zusammenhang einer 2010 veranstalteten Tagung entstandene Band enthält eine erste Auswertung der neuerlichen Beschäftigung mit diesen Beständen.
Anders als der Titel und der Eintrag im Personenregister – »Rö­rer, Georg (1492–1557) passim« – vermuten lassen, handeln nur neun der 15 Beiträge von Rörer. Nur mittelbar zum Thema gehören die Beiträge des ersten und dritten Teils.
Im ersten Teil werden einige Aspekte des universitätsgeschichtlichen Kontexts behandelt: Sabine Wefers vergleicht knapp die Universitätsgründungen der Kurfürsten Friedrich III. und Johann Friedrich I. in Wittenberg und Jena; Uwe Schirmer behandelt das institutionengeschichtlich wichtige Thema der finanziellen Grundlagen der Universitäten Leipzig, Wittenberg und Jena im Zeitraum von 1409 bis 1633; und Joachim Bauer untersucht die Gründung der Jenaer Universität als Ausgangspunkt korporativer Erinnerungskultur. Im dritten Teil sind drei recht unterschiedliche Beiträge unter der Überschrift Umstrittenes Erbe versammelt: Volker Leppin führt unter der Überschrift Von charismatischer Leitung zur Institutionalisierung seine These von der Monu­mentalisierung Luthers im Gesamtgeschehen der Reformation weiter aus, wobei er im Vorübergehen auch auf Rörer zu sprechen kommt; Johannes Hund analysiert unter dem Titel Autorität und Identität. Die Bedeutung Luthers in den nachinterimistischen Streitkreisen im Bereich der Wittenberger Reformation auf breiter Quellenbasis die um die Autorität Luthers kreisende und sich in zahlreichen kontroversen Lehrauseinandersetzungen vollziehende Identitätsfindung der Wittenberger Reformation in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s; und Berndt Hamm skizziert in souveräner Weise seine Deutung des Zusammenhangs von spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kirche als »Entstehung religiöser Sinnformationen aus der Spannungsvielfalt des Mittelalters« im Dreischritt von Reform – Reformation – Konfessionalisierung.
Rörers Person und Werk gewidmet sind der einleitende Beitrag von Stefan Michel, der auf 50 Seiten einen hilfreichen Überblick über Rörers Biographie, seine Sammlung und seine reformationshistorische Bedeutung als Sammler, Chronist, Korrektor und Editor gibt, sowie die acht Beiträge des zweiten Teils. Nicht unmittelbar aus der Beschäftigung mit den Jenaer Beständen erwachsen sind Johannes Schillings wohl für eine breitere Öffentlichkeit gedachter Vortrag Auditor, Scriba, Autor und Editor. Luthers Werk(e) in Rörers Händen, in dem Rörers Verdienste um die Reformation nachdrücklich gewürdigt werden, und Hellmut Zschochs Analyse von Georg Rörers Nachschriften der Predigten des Reformators, die nahelegt, dass Luther sich auf der Kanzel an seinen eigenen Postillenpredigten orientierte. Zwei Beiträge beschäftigen sich mit wichtigen Quellenkomplexen der Rörer-Sammlung: Anneliese Bieber-Wallmann analysiert die in der Sammlung Georg Rörers befindlichen Predigten Johannes Bugenhagens aus den Jahren 1524 bis 1527 hinsichtlich ihrer Form und ihres Inhalts und gibt so einen Einblick in das, was Mitte der 1520er Jahre von der Wittenberger Stadtkirchenkanzel gepredigt wurde. Und Stefan Michel zeigt Rörer als den Korrektor der Bibel, der wichtigen Anteil an der Revision von Luthers Bibelübersetzung hatte und nach Luthers Tod in die Auseinander­setzungen um die Ausgabe letzter Hand verwickelt wurde. Konrad Amann geht den von Rörer herausgegebenen Werken und den Notizen Rörers in Lutherdrucken in der Jenaer Iniversitätsbibliothek nach. Die Geschichte des Erwerbs und der Aufbewahrung von Rörers Sammlung in Jena beschreibt Joachim Ott. Zwei Beiträge beschäftigen sich mit der Wirkungsgeschichte von Werk und Person: Zum einen behandelt Alexander Bartmuß überlieferungs­his­torische und editorische Probleme von Luthers Tischreden und Melanchthons Dicta, die einen wichtigen Teil von Rörers Nachschriften ausmachen und seit der zweiten Hälfte des 16. Jh.s in unterschiedlichen, auch in den kri­-tischen Ausgaben editorisch unbefriedigenden Formen publiziert wurden; zum anderen zeichnet Christian Speer anhand vieler Quellen das zwischen unbeachtet und überbewertet schwankende Rörerbild vom 16. bis zum 20. Jh. nach.
Grundlegend Neues gegenüber der älteren Forschung zu Rörer enthält der Band nicht. Gleichwohl ermöglicht die sich in vielen Beiträgen dokumentierende kulturhistorisch inspirierte Perspektiverweiterung auf die Reformationsgeschichte eine bessere Würdigung der Person Georg Rörers, seines Werks und seines Umfelds. Ob Rörer damit aber aus der »zweite[n] oder sogar dritte[n] Reihe« (7) der Wittenberger Theologen – wo er den Herausgebern zufolge von den Zeitgenossen und der Forschung zu Unrecht eingeordnet wurde – nach vorne rückt, bleibt fraglich. Dass man die mit dem Band intendierte Aufwertung Rörers zum Chronist[en] der Wittenberger Reformation nicht ohne Weiteres nachvollziehen kann, hängt auch damit zusammen, dass die Kardinalfrage der Beschäftigung mit der Rörer-Sammlung weitgehend ausgespart bleibt: In­wieweit sind Rörers Nachschriften von Predigten, Vorlesungen und Tischreden als zuverlässig einzuschätzen? Die Lutherforschung hat dieses Problem immer wieder diskutiert und keine abschließende Antwort gefunden (s. zuletzt den Beitrag von S. Michel im Lutherjahrbuch 77 [2010], 65–80). Umso wichtiger wäre es gewesen, einen Überblick über den derzeitigen Diskussionsstand zu geben und Kriterien zum Umgang mit Rörers »thesaurus« zu entwickeln. Denn es gilt nach wie vor: So wertvoll die Rörer-Sammlung ist, so wenig darf die Lutherforschung im Um­gang mit ihr die elementaren Grundsätze der Quellenkritik vergessen. Eine historisch valide Rekonstruktion von Luthers Biographie und Theologie muss sich auf verlässliches Material stützen und kann Rörers Nachschriften nur ergänzend oder abgesichert durch eine sorgfältige Überprüfung des Quellenwerts heranziehen. Indem der vorliegende Band sich diesem Problem nicht stellt, vergibt er die Möglichkeit, auf den nach wie vor zu laxen Umgang mit den Nachschriften in der theologischen und historischen Forschung einzuwirken.