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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

189–191

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Villiers, Pieter G. R. de, and Jan Willem van Henten [Eds.]

Titel/Untertitel:

Coping with Violence in the New Testament.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2012. X, 305 S. 24,0 x 15,8 cm = Studies in Theology and Religion, 16. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-22104-8.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Mit diesem Sammelband, der auf eine Konferenz im südafrika­nischen Stellenbosch im Januar 2008 zurückgeht, wird eine Diskussion weitergeführt, die noch kaum richtig begonnen hat. Es geht um die Frage der Gewalt im Neuen Testament, um Gründe, Formen, Sprachen, und vor allem darum, wie methodisch und hermeneutisch mit ihr umzugehen sei. Der Band macht deutlich: In jeder Hinsicht lohnt die wissenschaftliche Weiterarbeit. Fragen bleiben offen, Forschungsperspektiven tun sich auf, widersprüchliche Po­sitionen harren der Klärung.
Der Band enthält zwei einführende Essays (Jan Willem van Henten, University of Amsterdam, University of Stellenbosch, Religion, Bible and Violence; Jeremy Punt, University of Stellenbosch, Vio­-lence in the New Testament and the Roman Empire: Ambivalence, Othering, Agency) sowie einen problemorientierten Ausblick (Pieter G. R. de Villiers, University of the Free State, Hermeneutical Perspectives on Violence in the New Testament), mit dem vor allem in hermeneutischer Hinsicht eine Quersumme der gesammelten Beiträge im Kontext der gegenwärtigen Diskussion zum Thema Gewalt im Neuen Testament und darüber hinaus in der Bibel (ein Großteil der Beiträge bezieht diesen Horizont programmatisch ein) gezogen wird. Der Band wird von einer Gesamtbibliographie sowie Stellen- und Sachindizes abgeschlossen und durch eine Liste der Autoren sowie ein Vorwort zum akademischen Kontext dieser Veröffentlichung eingeleitet.
Der Hauptteil des Buches enthält jeweils drei »Fallstudien« zum Corpus Paulinum (Andries van Aarde, University of Pretoria, Paul’s Version of »Turning the Other Cheek«. Rethinking Violence and Tolerance; Francois Tolmie, University of the Free State, Violence in the Letter to the Galatians?; Rob van Houwelingen, Theological University Kampen, A Godfighter Becomes a Fighter for God), zu den Evangelien (Ernest van Eck, University of Pretoria, An Ideological-Critical Reading of the Tenants in Mark 12:1–12; Wim Weren, Tilburg Univer­sity, The Use of Violence in Punishing Adultery in Biblical Texts [Deuteronomy 22:13–29 and John 7:53–8:11]; Jan van der Watt, Radboud University of Nijmegen, University of Pretoria, und Jacobus Kok, University of Pretoria, Violence in a Gospel of Love) und der Johannesoffenbarung (Paul B. Decock, University of KwaZulu-Natal, St. Joseph’s Theological Institute, Images of War and Creation, of Violence and Non-Violence in the Revelation of John; Pieter G. R. de Villiers, University of the Free State, Exegetical Perspectives on Violence in Revelation 18; Tobias Nicklas, University of Regensburg, The Eschatological Battle accor­ding to the Book of Revelation: Perspectives on Revelation 19:11–21).
Van Hentens einführender Artikel widmet sich zunächst den Problemen der Definition des Begriffs violence in Abgrenzung zu Stichworten wie power, authority, force (Hannah Arendt) und dis­-kutiert anschließend die Überlegungen von René Girard, Regina Schwartz, Mark Juergensmeyer und J. Harold Ellens. Er steckt damit einen weiten religionswissenschaftlichen bzw. -philosophischen Rahmen ab, in dem die Beiträge dieses Bandes zu verorten sind. Der Beitrag von Jeremy Punt thematisiert Gewalt im Neuen Testament vor dem Hintergrund der Rolle von Gewalt in der reichsrömischen Gesellschaft in der Perspektive von ambivalence, othering und agency. Die Widersprüchlichkeit des Umgangs mit Gewalt im Neuen Testament verdankt sich nach Punt den tatsächlichen gesellschaftlich-politischen Gegebenheiten des 1. Jh.s, die – Kennzeichen jeder agonistic society (32 f.) – zur ständigen Konstruktion eines »Außen«, eines »Fremden« oder »Anderen« führten und zugleich führende bzw. rettende Handlungsträger samt Anhängern bzw. Parteigängern produzierten. Deshalb seien auch bei der Interpretation neutestamentlicher Begriffe wie »Frieden« die entsprechenden agonis­tischen Strukturen der pax romana zu berücksichtigen (35–38). Die Gewalt der Texte »still is best explained with reference to their authors having been subalterns in an authorian, imperialist soci­-ety, among groups whose quest for self-definition meant that identity and group-formation were constantly constructed, disputed and negotiated« (38).
Van Aardes Aufsatz bietet eine anregende Applikation des anthropologisch gedeuteten Sündenbock-Modells von René Girard auf paulinische Texte. Francois Tolmie fragt nach Gewalt im Gala­-terbrief, indem er zunächst explizite Bezüge diskutiert (z. B. 1,13.23; 2,1–10; 4,29; 5,11.15; 6,17) und anschließend nach gewalthaltiger Rhetorik (74–77) oder Theologie (77–82) des Briefes fragt. Dazu diskutiert Tolmie die unterschiedlichen Entwürfe von Hamerton-Kelly (Girard), Gager/Gibson und Desjardins. Das Gewaltmoment sei insofern integrierender Bestandteil des paulinischen Denkens, als für den Apostel Gott die Menschen aus den sie versklavenden Mächten nur mit seiner (Gegen-)Gewalt befreien kann. Im Beitrag von Rob van Houwelingen geht es darum, die Pastoralbriefe als paulinische Texte zu lesen und vor allem 1Tim 1,12–17; 2Tim 1,3–5 als Selbstzeugnisse seiner Bekehrung zu deuten. Ernest van Eck vergleicht die Versionen des Gleichnisses von den bösen Winzern in Mk 12,1–12 und EvThom 65 mit dem Ziel, Anhaltspunkte für das Verhältnis des historischen Jesus zur Gewalt zu gewinnen. Der Beitrag von Wim Weren untersucht Strafen für Ehebruch und liest dazu Joh 7,53–8,11 vor dem Hintergrund von Dtn 22,13–29 und weiteren Texten, um vor deren Hintergrund das erzählte Verhalten Jesu in Entwicklungen einzuzeichnen, die zu einer tendenziellen Entkriminalisierung des Ehebruchs führten. Jan van der Watt und Jacobus Kock stellen die Frage nach Gewalt einschließlich verbaler Gewalt vor dem Hintergrund des johanneischen ›Dualismus‹ und deuten die Jesus zugeschriebene Gewalt in johanneischer Perspek­tive als Mittel zur Überzeugung von Gegnern und Nichtglaubenden. Die drei Beiträge zur Johannesoffenbarung stimmen trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte (Schöpfungstheologie; Offb 18; Offb 19, 11–21) darin überein, dass die Intention dieser Schrift Gewaltanwendung seitens der Glaubenden ausschließt. Im Mittelpunkt stehe vielmehr das »Lamm, wie geschlachtet« (Offb 5,6), das alle widergöttliche Gewalt überwunden hat.
Die Vielstimmigkeit der Beiträge wird abschließend von Pieter de Villiers umsichtig zusammengefasst und hermeneutisch reflektiert. Angesichts der Schwierigkeit, das semantische Feld von ›Gewalt‹ (violence) im Kontext neutestamentlicher Texte genau zu bestimmen, definiert de Villiers Gewalt generell »as an action that harms someone’s personhood through force« (255; vgl. den Definitionsversuch van Hentens: 5–8). Diese Formulierung hat den Vorteil, sich auf physische wie verbale Gewalt zu beziehen, ohne diese beiden Formen damit zu identifizieren (vgl. 7 f.). Viele Beiträge des Bandes zeigen das Bemühen, den Umgang mit Gewalt in neutestamentlichen Texten vor dem Horizont gegenwärtiger Problemlagen zu reflektieren. Dabei stehen konkret südafrikanische (vgl. z. B. 46 f. 183) oder iranische (133 f.148), aber auch historische (129 f.) Herausforderungen im Vordergrund. Die internationale Diskussion um »Gewalt und Religion« wird mit dieser Veröffentlichung bereichert. Der Band zeigt zugleich, dass auch die neutestamentliche Wissenschaft sich an dem anstehenden theologisch-kulturwissenschaftlichen Dialog beteiligen kann und muss.