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Ausgabe:

April/1996

Spalte:

341–343

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Ringeling, Hermann]

Titel/Untertitel:

Das Ethos der Liberalität. Festschrift für Hermann Ringeling zum 65. Geburtstag. Hrsg. von H. U. Germann, H. Kaiser, H. Leibundgut, H. R. Schär.

Verlag:

Freiburg/ Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg-Wien: Herder 1993. 351 S., 1 Porträt 8o = Studien zur theologischen Ethik, 54. sFr 55.­. ISBN 3-7278-0909-4 u. 3-451-23276-6.

Rezensent:

Jürgen Ziemer

Hermann Ringeling, der bis zu seiner Emeritierung zwanzig Jahre hindurch theologische Ethik in Bern lehrte, wird mit diesem inhaltsreichen Band zu seinem 65. Geburtstag geehrt. Mit dem Titel, der manchem Leser im vorhinein vielleicht skeptisch stimmen könnte, soll wohl die tendenzielle Ausrichtung der Ringelingschen Ethik bezeichnet werden. Das zu Beginn abgedruckte Interview mit dem Jubilar ­ ein lockerer biographisch unterstützter Gang durch die neuere Ethikgeschichte ­ zeigt, daß der Titel durchaus treffend gewählt wurde. Präziser, als es hier überhaupt intendiert war, hatte Ringeling in seiner Abschiedsvorlesung unter dem Thema "Konturen einer ’postmodernen’ Moral" (Evang. Theologie 52, 1992, 103 bis 114) dargelegt, was er unter "wirklicher Liberalität" versteht: eine Überwindung des Androzentrismus (im Blick auf die Geschlechterfrage), des Anthroprozentrismus (im Blick auf die ökologische Problematik) und des Egozentrismus (im Blick auf die Individualisierungstendenzen in unserer Gesellschaft): Es wäre nicht verkehrt gewesen, diese Vorlesung von Ringeling in dem Buch mit abzudrucken, nicht nur weil sie dessen Ethikansatz vorzüglich zusammenfaßt, sondern weil auch viele Autoren dieses Landes sich ausdrücklich auf sie beziehen. Die Abschiedsvorlesung stellt beinahe so etwas wie die innere Klammer dar, durch die die unterschiedlichen Beiträge des Bandes verbunden sind. Das macht für mich auch den besonderen Reiz dieser Festgabe aus.

Die Hgg. ordneten die beiden Beiträge der Gratulanten unter drei relativ offenen Rubriken: Zugänge, Vergewisserungen, Konkretionen. Den Reigen der vorwiegend historischen "Zugänge" eröffnet Beatrix Mesmer durch einen Beitrag über die Bedeutung der aufstrebenden Naturwissenschaften bei der Lösung der "sozialen Frage" im 19. Jh. Deren Übergewichtung führte zu einer von den wirklichen Problemen leicht ablenkenden "körper- und gesundheitsbezogenen Ethik" (29 ff.).

Karl-Wilhelm Dahm stellt die Geschichte des Münsteraner Instituts für christliche Gesellschaftswissenschaften, dem einst auch Hermann Ringeling angehört hatte, dar und läßt deutlich werden, wie sehr auch diese Geschichte mit der Diskussion um Sozialethik und Kirchentheorie nach 1945 in der Bundesrepublik verbunden ist (43 ff.).

Drei "Impulsgeber des diakonischen Wiederaufbaus", die auf unterschiedliche Weise mit dem Diakoniewissenschaftlichen Institut in Heidelberg verbunden waren oder sind, würdigt Theodor Strohm: den Österreicher Herbert Krimm, den Leipziger Heinz Wagner und den Siebenbürgendeutschen Paul Philippi (63 ff.).

Fundamentalethische Aufsätze enthält der zweite Teil. Martin Honecker geht es unter dem Titel "Ethikkrise ­ Krisenethik" (81ff.) um die Frage, ob auch angesichts von Krisen, die "Vernunft Zukunftsaufgaben lösen könne"; entgegen modischer Skepsis betont Honecker wohl zu Recht, daß "gerade in der Krise Vernunft erforderlich" sei. Zwei der Beiträge in dieser Rubrik sind von Nichttheologen geschrieben. Peter Saladin verlangt als "Laie" in seinem Essay "Ethik als Wissenschaft ­ und mehr?", daß sich der Ethiker auch als "Mensch" mit seinem "Glauben, Fühlen, Wollen" einbringen sollte, um "glaubhaft" zu sein (95ff.). Der Mediziner Hannes G. Pauli schreibt über den "Wandel des Denkens in der Medizin" (101 ff.). Am Schluß tritt er, was nun wirklich aufhorchen läßt, für die "Erneuerung des ’Philosophicums’" für Medizinstudenten ein. Die Bedeutung der Eschatologie für die Wissenschaftsethik, die den Menschen vor Selbstüberheblichkeit und Machbarkeitswahn bewahren kann, stellt Christian Walther heraus (115 ff.). Christofer Frey geht grundlegend den Fragen um das Verhältnis des Menschen zu seiner Zeit nach, deren Herr er nicht ist, bei der es aber doch auch legitimerweise um eine Suche nach "Kontinuität" und "Bleibendem im Wandel" gehen sollte (125 ff.). Der konkreten Zeiterfahrung widmen sich die Beiträge von Stephan H. Pfürtner, der auf sehr persönliche Weise nach Möglichkeiten für "Christsein angesichts gegenwärtiger Weltbedrohung" Ausschau hält (141 ff.) und Dietmar Mieth mit seinen "Theologisch-ethischen Überlegungen angesichts der ’neuen Unübersichtlichkeit’ (J. Habermas)" (151 ff.). Bei der "Spurensuche" nach Antworten der Kirchen auf die derzeitigen gesellschaftlichen Herausforderungen kommt der katholischen Ethik auch die Forderung einer "Wiederbelebung des konziliaren Prozesses" zu (151 ff.). Für eine differenzierte Wahrnehmung des "neuzeitlichen Menschenrechtsdenkens" im Islam liefert schließlich Christine Lienemann-Perrin klärende und auf Toleranz zielende Ausführungen (173 ff.).

Auf dem knappen Raum einer Rezension können viele Beiträge kaum angemessen gewürdigt werden. Das gilt besonders auch für die Aufsätze, die im dritten Teil unter dem Titel "Konkretionen" vereinigt sind. Einige der hier plazierten Beiträge gehörten eigentlich noch eher in die theoretische Abteilung. So Traute M. Schroeder-Kurths sachkundiger Versuch einer Reaktion auf die "Dammbruch"-Ängste, die gelegentlich angesichts liberaler ethischer Entscheidungen aufkommen; sie tut es anhand von Auseinandersetzungen mit dem sogenannten "Slippery Slope"-Argument (217 ff.). Auch Wolfgang Lienemanns Auseinandersetzung mit der utilitaristischen Ethik bei Peter Singer gehört noch eher in den Theoriebereich (231 ff.). Lienemanns Ansatz scheint mir sehr hilfreich, um die Diskussion mit Singer zu versachlichen und eine nur oberflächlich-moralisierende Ablehnung seiner Thesen zu überwinden. Gleichwohl bleibt die Kritik an Singer klar und unmißverständlich: "Wie wäre man dagegen geschützt, daß derjenige, der das Beste für alle will, sich auch zu Allem legitimiert fühlt?" (250).

Nun zu den ganz konkreten Themen, die in dieser Festgabe angeschnitten werden: Kurt Lüscher schreibt über "Familie im Spannungsfeld von Pragmatismus, Individualismus und Moral" (187 ff.): Nicht Rückkehr zu den vielbeschworenen "alten Werten" kann das Gebot der Stunde sein, wohl aber muß für die Familie die Forderung einer "postmodernen Moral" in Geltung gebracht werden, "deren Konturen Hermann Ringeling (in o.g. Aufsatz ­ d. Rez.) umrissen hat". Christoph Morgenthaler fragt: "Aids-Prävention ­ ein Lehrstück postmoderner Moral?" (201 ff.). Er macht gerade am Beispiel Aids auf den notwendigen Zusammenhang von Liberalität und Solidarität d. h. auf der Ebene kirchlichen Handelns auf das notwendige Miteinander von Ethik und Seelsorge aufmerksam. Nach wie vor heiß diskutiert wird in der westlichen Gesellschaft ­ oft mit erheblichen medialen Aufwand ­ das Thema "Sterbehilfe". Adrian Holderegger gibt dazu fundierte Argumentationshilfen: Er warnt angesichts der offener werdenden Beurteilungen davor, daß Menschen sich zum Tötungswunsch gedrängt fühlen könnten und macht auf die Gefahr einer "Ermutigungs- und Erwartungseuthanasie" (D. Linkel) aufmerksam (255 ff.). Die letzten Beiträge des Bandes sind den umfassenden gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit gewidmet. Hans Ruh erarbeitet ethische Leitlinien zu Energiepolitik unter der Überschrift "Verantwortlicher Umgang mit dem Risiko" (275 ff.). "Leitlinien verantworteter Technik" formuliert Wilhelm Korff angesichts der vorhersehbaren und der zu befürchtenden Folgen des ständig wachsenden Technikeinsatzes; er legt dar, wie die Handlungsmaximen der "Übelabwägung" und der "Übelminimierung" heute verantwortlich anzuwenden sind (285 ff.). Hans-Balz Peter handelt über "Sonntagsarbeit" als "Prototyp einer wirtschaftsethischen Frage" (299 ff.) ­ ein Thema, das zur Zeit der Abfassung dieser Rezension eher noch an Aktualität gewonnen hat, wenn man die Diskussionen der Tarifparteien in den westlichen Bundesländern aufmerksam verfolgt. Im letzten Beitrag des Bandes setzt sich Wolfgang Huber mit der EKD-Denkschrift "Gemeinwohl und Eigennutz" auseinander. Huber war selbst an dem Diskussionsprozeß für diese Denkschrift beteiligt, zeigt sich nun hier stärker als Kritiker dieser viel diskutierten Studie (315 ff.). Im Kern kritisiert er an der jetzigen Gestalt der Denkschrift den fehlenden "Blick von unten"; ferner ist er auch skeptischer gegenüber einem "angeblich erreichbaren Ausgleich zwischen Gemeinwohl und Eigennutz" (326) und sieht deutlicher die Reformbedürftigkeit der westlichen Wirtschaftsordnung ­ jenseits der überholten Systemalternativen. Wenn das Leitwort der "Liberalität" auch diese Position einschließt und zuläßt, dann wird einem "Ethos der Liberalität" als der besonderen Kontur einer "postmodernen" Moral aus vollem Herzen zuzustimmen sein.

Mit einer chronologisch geordneten Bibliographie des Jubilars schließt diese gehaltvolle Festschrift. Es ist ihr zu wünschen, daß ihre Beiträge darin nicht "vergraben" sondern wirklich "veröffentlicht" sein mögen; denn dieses Buch ist geeignet, die ethische Diskussion über den Kreis der Spezialisten hinauszutragen.