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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

185–187

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

McIver, Robert K.

Titel/Untertitel:

Memory, Jesus, and the Synoptic Gospels.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2011. XII, 241 S. m. Tab. 22,8 x 15,4 cm = Society of Biblical Literature Resources for Biblical Study, 59. Kart. US$ 29,95. ISBN 978-1-58983-560-3.

Rezensent:

Armin D. Baum

Woher stammt die synoptische Tradition und welche Veränderungsprozesse hat sie durchlaufen, bevor sie im letzten Drittel des 1. Jh.s in den neutestamentlichen Evangelien fixiert wurde? Diese Frage behandelt der australische Neutestamentler Robert McIver in der bisher wohl gründlichsten Arbeit zur Relevanz gedächtnispsychologischer Erkenntnisse für die Evangelienforschung. In der ersten Hälfe seines Buches referiert der Vf. einschlägige Resultate der experimentalpsychologischen Gedächtnisforschung, die er in der zweiten Hälfte für die Geschichte der synoptischen Tradition auswertet.
In einem ersten Schritt trägt der Vf. anhand von zwei Fallstudien zentrale Forschungsergebnisse der experimentellen Gedächtnispsychologie zur Zuverlässigkeit von Augenzeugenerinnerungen zusammen: Im Durchschnitt erwiesen sich mehr als 80 % der Augenzeugenangaben über den Verlauf eines Einbruchs als zu­treffend (12–16). Gesprächspartner waren zwar nicht in der Lage, Gesprächsinhalte rückblickend korrekt den verschiedenen Einzelgesprächen zuzuordnen; inhaltlich erweisen sich ihre Angaben jedoch im Wesentlichen als korrekt (16–20). Für die synoptische Tradition folgert der Vf., dass auch sie von unvermeidlichen Ge­dächtnisfehlern in Mitleidenschaft gezogen worden sein muss. R. Bauckhams These, die Jesustradition habe »treu und mit einem Minimum an Veränderung« bewahrt werden können, hält er für übertrieben. Allerdings sei es nicht durch wissenschaftliche Er­kenntnisse gedeckt, die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Augenzeugenüberlieferung insgesamt in Frage zu stellen. Dies gelte etwa für J. D. Crossans in die Evangelienforschung eingebrachte Auffassung, das menschliche Gedächtnis könne sich nicht akkurat erinnern, sondern sei vor allem kreativ und produktiv, indem es Fakten in Fiktion und Fiktion in Fakten verwandle (5–10. 153–157).
Zweitens berichtet der Vf. über die Selbstversuche einiger Psy­chologen zur Leistungsfähigkeit des menschlichen Langzeitgedächtnisses: Das episodische Gedächtnis, das die ersten fünf Jahre nach einem Ereignis überdauert, bleibt wahrscheinlich mindestens für die nächsten 20 Jahre stabil (23–39). Der Vf. stellt fest, dass viele Abschnitte in den synoptischen Evangelien die fünf typischen Charakteristika aufweisen, die W. A. Wagenaar für Augenzeugenerinnerungen identifiziert hat: Es handelt sich um 1. Erzählungen über ein Ereignis, die 2. nur vage chronologische und geographische An­gaben enthalten, 3. ohne narrativen Kontext auskommen, 4.kurze Zeitabschnitte beschreiben und 5. zahlreiche sensorische Angaben sowie unbedeutende Details enthalten (123–127). Nach dem Vf. werden sich auch die synoptischen Jesuserinnerungen am stärksten in den ersten Jahren nach Ostern reduziert haben, während sie in den anschließenden Jahrzehnten vergleichsweise stabil blieben. Dass Augenzeugen und Ohrenzeugen während des Wirkens Jesu schriftliche Aufzeichnungen machten, hält der Vf. (gegen A. Millard) dagegen für unwahrscheinlich (144–153).
Drittens bespricht der Vf. Personal event memories und eine ihrer Spielarten, die sog. Blitzlichterinnerungen (»flashbulb memories«): Die eng mit den Blitzlichterinnerungen verwandten Personal event memories betreffen nach D. Pillemer 1. ein stark emotionales Ein­-zel­ereignis wie einen Heiratsantrag, enthalten 2. detaillierte Angaben über die persönlichen Umstände des Betroffenen sowie 3. Er­innerungen an visuelle, akustische und andere Sinneseindrücke und werden 4. in der Überzeugung vorgetragen, zuverlässig zu sein. Personal event memories sind nicht fehlerfrei, aber auch nach Jahrzehnten noch wesentlich zuverlässiger und genauer als andere Erinnerungen (41–57). Viele synoptische Perikopen, wie die Berufung der ersten Jünger (Mk 1,14–20 par.) und zahlreiche Wundergeschichten, wiesen die Charakteristika von Personal event memories auf. Sie dürften auf dem Weg in die Evangelien aus der 1. Person in die 3. Person umgewandelt worden sein (145–148).
Viertens bespricht der Vf. experimentalpsychologische Forschungsergebnisse zu Rückschaufehlern und zur sozialen Beeinflussbarkeit von Erinnerungen: Verfälscht werden vor allem Ne­benumstände. Denn Erfahrungen werden vom Gedächtnis nicht umfassend wie von einer Kamera aufgezeichnet und an­schließend reproduziert. Vielmehr speichert das Gedächtnis Hauptaspekte von Erfahrungen und rekonstruiert aus ihnen die Erinnerungen. Daher ist das Gedächtnis trotz der Anfälligkeit für eine Vielzahl von Detailfehlern in aller Regel in der Lage, den Hauptinhalt bzw. das Wesentliche einer Situation zu bewahren (68–80). Auch in den synoptischen Evangelien ist dem Vf. zufolge zweifellos der Einfluss von Gemeindeinteressen und den theologischen Anliegen der Evangelisten nachweisbar. Da Rückschau- und ähnliche Gedächtnisfehler sich aber primär auf Nebenzüge von Erinnerungen auswirken, dürften Gemeindeinteressen nicht die Hauptinhalte der synoptischen Erinnerungen entstellt haben (158–160).
Fünftens behandelt der Vf. das kollektive Gedächtnis und be­schreibt den Einfluss, den der aktuelle Zustand einer Gruppe auf ihre gemeinsame Erinnerung an die Vergangenheit ausüben kann: In der kollektiven Erinnerung der Amerikaner entstand mehrere Jahrzehnte nach seiner Ermordung ein relativ neues Lincolnbild, dessen Flexibilität allerdings durch die tatsächliche Persönlichkeit des Präsidenten begrenzt wurde (81–94). Das Produzieren falscher Aussagen oder Geschichten (Konfabulation) tritt zwar als Symptom vieler neuropsychologischer und einiger psychiatrischer Funktionsstörungen auf, kommt aber im kollektiven Gedächtnis von Gruppen nur sehr selten vor. Der Vf. hat errechnet, dass mehr als 60.000 Personen das eine oder andere Ereignis des Lebens Jesu miterlebt haben könnten (189–207). Eine besondere Rolle kam den elf Aposteln sowie den ersten Schülerinnen Jesu zu. Die Erinnerungen all dieser Zeugen flossen in das kollektive Gedächtnis der frühen Christenheit ein. Nach Ostern müssen nicht nur in Galiläa und Jerusalem, sondern auch im syrischen Antiochien und anderen antiken Großstädten starke kollektive Erinnerungen an die Worte und Taten Jesu existiert haben. Aus diesen kollektiven Erinnerungen übernahmen die Evangelisten die Augenzeugentradition in ihre Bücher (127–130). Der Befund, dass Veränderungsprozesse in einem kollektiven Gedächtnis auf der Basis historischer Fakten ablaufen, dient dem Vf. als Einwand gegen die von Bultmann (und Dibelius) vertretene Hypothese, die synoptische Jesustradition sei in weiten Teilen von der frühen Kirche geschaffen worden (99–109).
Sechstens identifiziert der Vf. neben einem kollektiven Gedächtnis der gesamten Christenheit eine zweite Quelle, aus der die synoptischen Evangelien gespeist wurden: die formale Unterweisung eines kleinen Schülerkreises durch den Lehrer Jesus. Der Vf. vertritt die These, die antike Ausbildung habe den Schwerpunkt nicht auf wörtliches Auswendiglernen, sondern auf das Behalten des Inhalts gelegt. Das gelte bis zu einem gewissen Grad auch für die rabbinische Ausbildung in Palästina, der es im Allgemeinen auf die Bewahrung der »basic ideas« angekommen sei. Nur poetische und aphoristische Stücke seien auswendig gelernt worden. Stelle man dies in Rechnung, lasse sich die in den synoptischen Evangelien enthaltene Lehre Jesu weitgehend auf diesen selbst zurückführen (164–182).
Die abschließenden Überlegungen des Vf.s zur formalen Unterweisung der Schüler Jesu durch ihren Lehrer stellen den einzigen Teil seines Buches dar, in dem er weitgehend auf eine interdisziplinäre Einbeziehung gedächtnispsychologischer Erkenntnisse verzichtet hat (siehe aber 167). An dieser Stelle weist die Arbeit eine Lücke auf, die sich allerdings leicht schließen ließe (vgl. TANZ 49 [2008], 161–258). Nicht ganz zutreffend erscheint mir der an Gerhardsson ge­richtete Vorwurf, sich den synoptischen Überlieferungsprozess statisch und fixiert vorgestellt zu haben (8.168–170). Gerhardsson hat die Überlieferung der mündlichen Tora und die Geschichte der synoptischen Tradition in seinen Arbeiten wiederholt als »a complicated interplay between basic solidity and complementary flexibility« beschrieben ( Memory and Manuscript [1961], 93 u. ö.). Auch die anfangs vollzogene Abgrenzung gegenüber Bauckham (Je­sus and the Eyewitnesses [2006], 319–357; vgl. ThLZ 132 [2007], 1067–1069) überrascht angesichts der Tatsache, dass der Vf. mit zusätzlichen Argumenten zu einer sehr ähnlichen Gesamtbeurteilung der synoptischen Überlieferung gelangt wie jener.
Abgesehen von solchen Anfragen hat die vorgestellte Arbeit zwei große Vorzüge: Sie belegt eindrücklich, wie fruchtbar interdisziplinäre Ansätze für den stark überanalysierten Hauptgegenstand der neutestamentlichen Wissenschaft sein können. Und sie speist in die teilweise recht freihändig formulierten Theorien darüber, wie die synoptische Tradition entstanden ist und sich verändert hat, einige neue Daten und Argumente ein, die die wissenschaftliche Basis der Evangelienforschung erweitern.