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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

172–174

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ben Zvi, Ehud, and Diana V. Edelman [Eds.]

Titel/Untertitel:

What Was Authoritative for Chronicles?

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2011. VIII, 268 S. 22,8 x 15,3 cm. Geb. US$ 39,50. ISBN 978-1-57506-218-1.

Rezensent:

Thomas Willi

Der Band vereint zwölf Aufsätze, die 2008 und 2009 im Rahmen der European Association of Biblical Studies vorgetragen wurden, und zwar im Rahmen einer Sektion, die sich zur Aufgabe stellte, Produktion und Rezeption autoritativer Literaturwerke in persischer und hellenistischer Zeit zu untersuchen. Den beiden sowohl für ihre Studien zur Chronik und ihrem perserzeitlichen Umfeld ausgewiesenen Herausgebern drängte sich bald die titelgebende Frage auf, was für Chr als autoritativ zu gelten habe.
Sie wird freilich nicht in dem Sinne vertieft, ob und wie man bei Chr von »Quellen« sprechen könne oder ob da eine Art standar­disierter »klassischer Schriftwerke« bzw. »Referenzliteratur« oder »-sprache« vorauszusetzen sei. Immerhin wird auf Ben Zvis These verwiesen, dass Chr ihr spätbiblisches Hebräisch (LBH) bewusst schreibe, um sich von der als »autoritativ« geltenden Vorlage abzugrenzen (240).
Das übergreifende Thema bindet also eher einen bunten Strauß inhaltlich und qualitativ sehr unterschiedlicher Beiträge. Die aufschlussreiche »Autoritätsformel« בוּתָכַּכּ findet nur bei Ehud Ben Zvi in einer kleinen, aber wichtigen Bemerkung (32 f.) Beachtung, wo er mit der beherzigenswerten Überschrift »One Size Does not Fit All« (13–35) die Tendenz des Chronisten als »reading through ›authoritative‹ narratives« (3) ausmacht.
Steven J. Schweitzer erschließt durch »Judging a Book by Its Citations. Sources and Autority« (37–62), dass der »Chronicler has retrojected his utopian view into the past«. Etwas zu kurz kommt dabei, dass er das als Historiker tut, der als solcher aus »sources«, und zwar nicht neu erfundenen (60), arbeitet und dessen Werk insofern »reveals […] uniqueness of composition« (62). Dem schließt sich der Beitrag des Altmeisters der Chr-Forschung Joseph Blenkinsopp an, der »Ideology and Utopia in 1–2 Chr« (89–102) untersucht, ausgehend von Karl Mannheims Utopiebegriff (1929) als einer »ideal counterreality in reaction to incongruent current reality« (89). Zu Recht legt er, unter Verweis auf Stellen wie 1Chr 25,1–3; 28,11–19, den Finger auf David als »not only a prophet but the mediator of new revelations« bzw. nach 2Chr 35,4.15 Anwender der Tora (100 f.)
Dem »historical setting« von Chr widmen sich David Glatt-Gilad und Philip R. Davies aus recht unterschiedlichem Blickwinkel. Für Glatt-Gilad ist Chr ein Beispiel von »Consensus Literature« (67–75), die einen Ausgleich zwischen Jerusalemer Tempel, davidischer Monarchie und mosaischer Tora vornimmt. Dagegen entfaltet Davies (77–86) die »political dimensions« des von Hugh G. M. Williamson 1977 herausgearbeiteten chr Konzepts eines einheitlichen »Israel« als »twelve-tribe nation« (82). Nach Davies gründet dies in der Exilszeit, genauer in der Epoche, als Jerusalem seine »political and religious dominance« verloren hatte und das benjaminitische Mizpa mit dem »not-exclusive … but central« Heiligtum Betel (82) eine Brückenfunktion zwischen Samarien und Juda wahrnahm. Wenn in Chr Jerusalem diese Rolle zukommt, so passe das am ehesten in die beginnende ptolemäische Periode (84–86).
Ingeborg Löwisch behandelt unter »Cracks in the Male Mirror« (105–132) die auffälligen Bezüge auf Frauen in den chr Genealogien. Offen bleibt, wieweit sie als »challenges to patrilinear authority« (Untertitel) zu gelten haben und nicht die angesichts einer grundsätzlich patrilinear aufgebauten Bürgerrechtsinstitution (die zu unterscheiden ist von der rein matrilinear definierten jüdischen Volkszugehörigkeit) charismatische Ausnahme darstellen, die die Regel bestätigt. Insofern ist zu fragen, ob sich in diesen Hinweisen wirklich eine »crisis of authority« (130) verbirgt.
Jedem Leser bzw. Kommentator von Chr hochwillkommen dürfte die »Lesson in Shaping Historical Memory« sein, die Yairah Amit der Geschichte von »Araunah’s Threshing Floor« (133–144) entnimmt: Erst der Chronist transformiere die in 2Sam 24 noch »unfocussed etiological story« über den Dreschplatz zum hieros logos Jerusalems und seines Heiligtums von 1Chr 21 und binde sie über 2Chr 3,1 auch an Abraham zurück – eine nicht bloß für jüdisches Leben, Fühlen und Denken richtungweisende Identifikation.
Louis Jonker, Amber K. Warhurst und Mark Leuchter widmen sich der chr Prophetenrezeption. Jonker klärt unter dem Aspekt »Who Were His [sc. des Chronisten] Authoritative Sources« (146–164) das Wachstum der Jer-Überlieferung und hält für die chr Schlusspassage 2Chr 36,15–21 fest, dass nicht so sehr die Zerstörung Jerusalems als »the advent of the Persian Empire« (159) auf die Prophetie Jeremias (Jer 29,10) zurückgeführt werde. Dabei verknüpfe der für Jer charakteristische Begriff הָמַשַּׁה den Abschnitt zusätzlich mit »the P-tradition in Leviticus 26«, in der Absicht »to render the exile as a Sabbath« (163). – Warhurst untersucht »The Chronicler’s use of the Prophets« (165–181) vorab an Jesaja, mit dem Ergebnis, dass dessen Person markant zurücktritt, während die Erzählung als solche »saturated with literary overtones […] of a future restoration« erscheine (169) – ein Indiz für »the Chronicler’s harmonization […] of Former and Latter Prophets« (169). Der Chronist lebt also aus der prophetischen Überlieferung, geht aber eigenständig mit ihr um. – Leuchter, »Rethinking the Jeremiah’s Doublet in Ezra-Nehemiah and Chronicles« (183–200), stellt die nur »implicit allusions« auf Jer (besonders Esr 9) den »explicit allusions« in Chr gegenüber (188.191).
Der Beitrag von David J. Chalcraft (Sheffield) »Sociology and the Book of Chronicles« (201–227) zeigt, wohin von außen an die chr Literatur herangetragene Kategorien (ver-)führen. Vorgestellt werden mit »Risk, Ontological Security, Moral Panics« (Untertitel, 201) gängige, in ihrem Anwendungsbereich wohl sinnvolle soziologische Modelle. Wenn sie aber auf ein »Book of Chronicles« – wobei eine »common authorship« für Esr-Neh unbesehen vorausgesetzt wird, obwohl sie von Sara Japhet schon 1968 in Frage gestellt worden war – angewendet werden, dazu dann in Mal 2,10–16, anders Neh 13,23–30 und schließlich Esr 9–10 aus je verschiedenem Blickwinkel (Ehescheidung, Bürgerrechtsregelung und Überlieferungsverrat bzw. -treue) behandelte Themen völlig undifferenziert unter »marriage with foreigners: the second disaster« (217) subsumiert werden, verletzt das jedes exegetische Gewissen. Es empört erst recht, wenn ebenso allgemein den »priestly officials of Yehud« ein »largely bureaucratic« Vorgehen unterstellt wird und man in den so Zug um Zug zusammengebastelten »racist policies of Ezra and Nehemiah […] a good deal of irony« erkennen soll, da letztlich »the dehumanizing bureaucratic processus of the Nazi state […] echo the dehumanizing of the people of the land, the Samaritans and the foreign wives from many nations recorded in Ezra and Nehe­-miah« (220).
Mit Gewinn liest man die abschließende Präsentation von Diana V. Edelman und der Altphilologin Lynette Mitchell »Chronicles and Local Greek History« (229–246). Sie machen auf das geistige Umfeld der Chr in der griechischen Lokalgeschichtsschreibung etwa zu den Metropolen Smyrna (Mimnermos), Athen (die Atthidographen) und Magnesia aufmerksam. Im Blick auf Chr, die sich der zeitgenössischen Herausforderung unter den Voraussetzungen ihrer eigenen Herkunft und Tradition stellt, sind allerdings auch die Unterschiede ernstzunehmen, nicht zuletzt die Tatsache der ano­nymen Autorschaft.
Summa: Wenn über »autoritativ« in Chr gesprochen wird, so hätte man gerne den einen oder anderen Hinweis auf »Auslegung« bzw. »Nach-« oder »Neuerzählung« nicht nur der dtr Stoffe, sondern auch der pentateuchischen Überlieferung, und nicht zuletzt auf den Umgang mit den Psalmen gewünscht. Hier harren der künftigen alttestamentlichen Wissenschaft lohnende Aufgaben. Dazu ist der vorliegende Band eine gute Ausgangsbasis, bietet er doch einen instruktiven Überblick über die aktuelle Chr-Forschung, allerdings – das muss einschränkend betont werden – ausschließlich der englischsprachigen; in Abwandlung des auf den vorhumanistischen juristischen Vorlesungsbetrieb bezogenen Satzes Graeca non leguntur lässt sich formulieren: Germanica vel Gallica non leguntur.