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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

166–169

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kvanvig, Helge S.

Titel/Untertitel:

Primeval History: Babylonian, Biblical, and Enochic. An Intertextual Reading.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2011. XVI, 610 S. 24,0 x 16,0 cm = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 149. Lw. EUR 184,00. ISBN 978-90-04-16380-5.

Rezensent:

Jakob Wöhrle

Seit der Entzifferung der mesopotamischen Keilschriftquellen im 19. Jh. beschäftigt sich die alttestamentliche Forschung mit dem Verhältnis der mesopotamischen und der biblischen Urzeitmythen. Helge S. Kvanvig, Professor für Altes Testament an der Universität Oslo, hat die religionsgeschichtliche Forschung zur biblischen Urgeschichte nun um eine weitere Studie bereichert. Das Besondere an dieser neuen Arbeit ist zum einen, dass sie neben den klassischen mesopotamischen Schöpfungsmythen wie dem Atram­-hasis-Epos ein breites Spektrum an weiteren altorientalischen Urzeittraditionen heranzieht. Zum anderen werden in dem Buch nicht nur die mesopotamischen Vorläufer der biblischen Urgeschichte behandelt. Es wird auch deren Nachgeschichte im 1. He­nochbuch betrachtet.
Der erste Teil des Buches widmet sich den mesopotamischen Überlieferungen (11–181). Dabei wird zunächst das Atramhasis-Epos behandelt. Nach K. ist das bestimmende Thema des Epos die mangelnde Stabilität der vorsintflutlichen Schöpfungsordnung. So ist das Verhältnis zwischen den Göttern und den Menschen zu­nächst nicht wirklich bestimmt. Eine wirkliche Trennung zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre ist nicht vollzogen. Damit zusammenhängend haben die Götter vernachlässigt, die Lebenszeit der Menschen zu begrenzen. Eben deshalb werden die Menschen immer mehr und so auch immer lauter, was zu einem Konflikt mit den in ihrem Schlaf gestörten Göttern und schließlich zu deren Beschluss, die Menschheit in einer Flut auszulöschen, führt. Der viel diskutierte, im Atramhasis-Epos genannte Lärm des Menschen ist nach K. also nicht, wie immer wieder angenommen, als Schuld des Menschen zu verstehen. Er ist vielmehr Folge und Ausdruck einer defizienten Schöpfungsordnung und so die Ursache für die Flut. Nach der Flut setzen die Götter dann mit den Regelungen zur Reduktion der menschlichen Fortpflanzung und Vermehrung eine neue, stabilere Schöpfungsordnung fest. Der Mangel der vorsintflutlichen Ordnung ist beseitigt.
Neben dem Atramhasis-Epos behandelt K. auch die Königslis­ten. Die in diesen Listen belegte Aufzählung der Könige wird häufig in die Zeit vor und in die Zeit nach der Flut eingeteilt. Nach K. ist die Flut in diesen Texten lediglich ein Epochenmarker. Ihr kommt keine wirkliche inhaltliche Funktion zu.
Schließlich geht K. auch auf die Tradition der Apkallus ein. Diese vorsintflutlichen Gestalten werden in mehreren Texten als verantwortlich für die Einrichtung und den Bestand der kosmischen Ordnung dargestellt. Zudem vermitteln sie der Menschheit Weisheit und Zivilisation. Die Apkallu-Tradition zeichnet sich nach K. also dadurch aus, dass die Urzeit hier nicht als Zeit einer instabilen Schöpfungsordnung, sondern als Zeit der Offenbarung und Vermittlung menschlicher Kultur dargestellt wird.
Von den mesopotamischen Traditionen herkommend behandelt K. sodann die biblische Urgeschichte (183–316). Dabei betrachtet er insbesondere die priesterlichen Passagen, die seiner Ansicht nach den ältesten Bestand von Gen 1–11 ausmachen. Die nicht­-pries­terlichen Partien sind demgegenüber als spätere Bearbeitung dieses Textbereichs anzusehen.
Die priesterliche (wie auch die nichtpriesterliche) Urgeschichte ist nach K. nicht, wie häufig angenommen, vom Gilgamesch-, sondern vom Atramhasis-Epos beeinflusst. So wird etwa – nach einem kürzlich veröffentlichten Fragment – nur im Atramhasis-Epos wie in der biblischen Fluterzählung explizit die Zusage ausgesprochen, dass keine Flut mehr über die Erde kommen soll.
Neben dem Atramhasis-Epos ist die priesterliche Urgeschichte nach K. auch von der Tradition der mesopotamischen Königslisten beeinflusst. Dies zeigt sich etwa an den in der priesterlichen Urgeschichte – vor und nach der Flut – belegten Genealogien. Zudem zeigt sich dies daran, dass in der priesterlichen Urgeschichte nach der Flut keine neue Schöpfungsordnung festgesetzt wird. Nach K. wird das Verhältnis Gottes zu den Menschen, anders als im Atramhasis-Epos, von vornherein als stabil dargestellt.
Ja, nach K. kann die priesterliche Urgeschichte sogar als »count­er story« zum Atramhasis-Epos angesehen werden. Denn anders als im Atramhasis-Epos ist die Welt nach der priesterlichen Urgeschichte von vornherein »sehr gut«, die Fruchtbarkeit des Menschen wird als etwas Positives dargestellt, die mit der Gottesebenbildlichkeit zum Ausdruck kommende Nähe des Menschen zu Gott stellt kein Problem dar und die Ruhe Gottes ist nicht in Frage gestellt. Es wird zwar auch in der priesterlichen Urgeschichte, mit der in Gen 6,12–13 erwähnten Verderbnis der Menschheit, eine Krise zwischen Gott und Mensch genannt. Diese Verderbnis wird aber nicht weiter erklärt und spielt auch keine tragende Rolle im pries­terlichen Erzählverlauf.
Die priesterliche Urgeschichte ist somit nach K. als ein im Exil entstandener utopischer Entwurf zu verstehen. Mit diesem Entwurf werden die Angehörigen des exilierten Volkes ermuntert, ihrer Erlösung entgegenzusehen.
Nach K. wurde die priesterliche Darstellung in der weiteren Entstehungsgeschichte nach zwei Seiten hin korrigiert, wobei nun insbesondere die Ursache der Flut einer Erklärung zugeführt wird. So wird die Schuld für das Flutgeschehen in den nichtpriesterlichen Passagen zunächst ganz vom Menschen her erklärt. Mit der nochmals später anzusetzenden Erzählung über die Engelehen in Gen 6,1–4 wird die Ursache dieses Geschehens in der göttlichen Sphäre gesehen.
Der letzte Teil des Buches widmet sich schließlich dem 1. He­nochbuch und dem hier in 1Hen 1–36 belegten Wächterbuch (317–529). Der älteste Kern dieses Textbereichs ist nach K. die in 1Hen 6–11 belegte Wächtererzählung, in der dargestellt wird, wie die vorsintflutlichen Wächtergestalten auf die Erde kommen, sich Frauen nehmen und gefährliche Wesen zeugen.
K. geht von einem komplexen überlieferungsgeschichtlichen Verhältnis zwischen der biblischen Urgeschichte und der Wächter­erzählung aus. Er nimmt an, dass die bereits in frühnachexilischer Zeit entstandene Wächtererzählung von einer älteren Fassung der biblischen Urgeschichte abhängig ist, die nur die priesterlichen Passagen enthielt. Die in Gen 6,1–4 belegte nichtpriesterliche Er­zählung über die Engelehen, die häufig als weitere, ja als die be­stimmende Vorlage der Wächtererzählung angesehen wird, ist da­gegen gerade umgekehrt von der im 1. Henochbuch belegten Tradition abhängig.
Neben der priesterlichen Urgeschichte wurde für die Wächter­erzählung nach K. auch auf mesopotamischen Überlieferungen, so auf das Atramhasis-Epos oder auch auf die Apkallu-Tradition, zurückgegriffen. Denn wie in dem mesopotamischen Schöpfungsmythos wird in der Wächtererzählung die Ursache der unter den Menschen aufgekommenen Not in der unzureichenden Trennung von menschlicher und himmlischer Sphäre gesehen. Und wie die Apkallu-Tradition ist auch die Wächtererzählung an übernatürlichen vorsintflutlichen Gestalten orientiert.
Doch vergleichbar mit der biblischen Urgeschichte kann auch die Wächtererzählung als ein kritisch gegen die mesopotamischen Überlieferungen gerichtetes Werk verstanden werden. So sind die Wächter nicht, wie die Apkallus, vorzeitliche Heroen, sondern mon­sterhafte Wesen. Sie bringen auch nicht die Zivilisation, sondern das Chaos. Vor dem Hintergrund der frühnachexilischen Zeit ist die Wächtererzählung daher nach K. geradezu als antibabylo­nisches Konzept anzusehen, das von der Urzeit her erklärt, warum das babylonische Reich untergegangen ist.
Die von K. vorgelegte Studie ist zweifellos ein beeindruckendes Werk. Sie überzeugt insbesondere in ihrer breiten und dennoch differenzierten Behandlung der biblischen und außerbiblischen Ur­zeittraditionen. K. bleibt nicht bei dem Aufweis allgemeiner motivischer Parallelen stehen. Er beschreibt vielmehr ein komplexes Geflecht literarischer und traditionsgeschichtlicher Verbindungen, und er erklärt nachvollziehbar die Intention der jeweiligen Bezugnahmen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Werk mit solch umfassenden Einzelüberlegungen auch Anlass zur Kritik bietet. So wird etwa die Annahme, dass die nichtpriesterliche Urgeschichte als Redaktion der vorgegebenen priesterlichen Fassung anzusehen ist, mehr behauptet denn wirklich begründet. Auch die These, dass die priesterliche Urgeschichte direkt auf das Atramhasis-Epos zurück­greift, hängt am seidenen Faden, da sich in den priesterlichen Passagen nur sehr allgemeine Parallelen aufzeigen lassen. Direkte Parallelen zu den mesopotamischen Texten finden sich bekanntermaßen vor allem in der nichtpriesterlichen Überlieferung, die K. aber, aufgrund seiner redaktionsgeschichtlichen Prämisse, nur kurz behandelt. Schließlich erscheint fraglich, ob wirklich von einer wechselseitigen Bezugnahme der biblischen Urgeschichte und der Wächtererzählung ausgegangen werden kann. Es müssten sich dann in der biblischen Überlieferung neben Gen 6,1–4 doch auch noch weitere Bezugnahmen auf die Wächtererzählung nachweisen lassen.
Die genannte Kritik soll die Bedeutung des von K. vorgelegten Werks aber in keiner Weise schmälern. Das Buch gibt einen umfassenden Überblick über die biblischen und außerbiblischen Urzeitüberlieferungen und eröffnet zahlreiche neue Einsichten in die Eigenart und den literarischen und traditionsgeschichtlichen Zu­sam­menhang dieser Texte. Die weitere Forschung wird in vielfältiger Weise von dieser wichtigen Arbeit profitieren.