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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

163–166

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Blumenthal, Elke, u. Wolfgang Schmitz[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bibliotheken im Altertum.

Verlag:

Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek; Wiesbaden: Harrassowitz in Kommission 2011. 270 S. m. 32 Abb. 24,0 x 17,0 cm = Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 45. Geb. EUR 79,00. ISBN 978-3-447-06406-4.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Wie alle Bücher der Wolfenbütteler Schriftenreihe zur Geschichte des Buchwesens nimmt man auch diesen gediegen ausgestatteten, mit 32 Abbildungen versehenen Band gerne zur Hand. Er geht auf eine Tagung zurück, die im November 2007 in der Herzog August Bibliothek abgehalten wurde. Das Themenspektrum ist dabei denkbar breit gefächert, was der unbestimmte Begriff des »Altertums« bereits andeutet – die insgesamt zehn Beiträge stammen aus Altorientalistik, Bibelwissenschaft, klassischer Philologie, Archäologie, Byzantinistik und Mediävistik. So kommen auf repräsenta­tive Weise ganz verschiedene Forschungsgebiete in den Blick, die sich mit der Entwicklung des hohen Kulturgutes der Bibliothek befassen. In chronologischer Anordnung spannen die Beiträge einen Bogen über gut 2400 Jahre Bibliotheksgeschichte. Aufgrund dieser zeitlichen wie geographischen Weite erübrigt sich auch ein gemeinsames Register. Jeder der Beiträge steht für sich. Allein das Interesse an der Bewahrung literarischer Traditionen durchzieht gleich einem roten Faden den gesamten Band.
Stefan M. Maul (»Die ›Tontafelbibliothek‹ einer assyrischen Gelehrtenfamilie des 7. Jahrhunderts v. Chr.«) analysiert einen Fund, der 1908 in dem sog. »Haus des Beschwörungspriesters« in Assur gemacht wurde. Anhand zahlreicher Details entwirft er das Bild einer Bibliothek, die über mehrere Generationen gewachsen und auf private Initiative hin angelegt ist, ihre Bestimmung jedoch durch die institutionellen Verpflichtungen ihrer Besitzer am Tempel oder im Palast erfährt. Neben Vorschriften, Ritualanweisungen, Gebeten, Beschwörungen oder sumerisch-akkadischen Wortlisten finden sich auch Schreibübungen, die zugleich auf einen mit diesem Textbestand verbundenen Lehrbetrieb hinweisen.
Elke Blumenthal (»Privater Buchbesitz im pharaonischen Ägypten«) unterscheidet zunächst zwischen institutionellem und privatem Buchbesitz. Als buchbesitzende Institutionen treten vor allem Tempel und Lebenshäuser (eine Art »geistlicher Akademien«) in den Blick, wobei die Grenzen zwischen Bibliothek und Archiv fließend sind. Für private Sammlungen gibt es interessante Befunde wie die »Ramesseumskiste« (1896 in Theben gefunden), die »Berliner Bibliothek« (eine virtuelle Rekonstruktion) oder die Büchersammlung aus Deir el-Medine (1928 in einer Grabanlage bei Theben entdeckt), die eine breite Palette an magischen, weisheitlichen, administrativen, ritualpraktischen sowie literarischen Texten enthalten. »Damit hat das alte Ägypten, kulturgeschichtlich gesehen, einen großen Schritt auf dem Weg zur Herausbildung des Individuums getan …« (84) – auch wenn Produktion und Rezeption von Literatur grundsätzlich in den Kontext von Institutionen eingebunden bleiben.
Udo Rüterswörden (»Erwägungen zur Textüberlieferung im Alten Israel«) nimmt die Problematik von jüdischen Textsammlungen im Hintergrund bzw. außerhalb der Hebräischen Bibel in den Blick: Die Diskussion um Quellen oder Fortschreibungsmodelle bewegt sich auf schwankendem Boden. Immerhin verweisen Inschriften auf Archive im Bereich der staatlichen Verwaltung, wo man auch die Abfassung von Annalen vermuten kann; sicher annehmen lässt sich die Existenz einer Tempelbibliothek. Der Aristeasbrief ordnet die Septuaginta bereits in das hellenistische Bibliothekswesen ein. Die Qumranfunde liefern ein Beispiel für die Spezialbibliothek einer bestimmten religiösen Gruppierung; den privaten Besitz von Texten belegen die weiteren Funde vom Toten Meer außerhalb von Qumran.
Carl Werner Müller (»Griechische Büchersammlungen und Bibliotheken vom sechsten Jahrhundert v. Chr. bis in hellenistische Zeit«) prüft anhand einer minutiösen Auswertung der Quellen die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es schon früh feste Sammlungen gegeben habe. Das Ergebnis lautet: Vom 6. Jh. v. Chr. an gab es hinsichtlich autoritativer Texte eine zunehmend intensivere Bemühung um die »Bewahrung des Originals oder Herstellung und Überwachung des authentischen Textes auf der einen Seite und auf der anderen Eröffnung von Zugänglichkeit, Textvermittlung und Textbenutzung in der Form von Rezitation und Ausleihe« (122).
Lilian Balensiefen (»Orte medialer Wirksamkeit: Zur Eigenart und Funktion der Bibliotheken in Rom«) konstatiert für die Zeit des Überganges zum Prinzipat einen regelrechten »Bibliothekseröffnungsboom«; zu den noch für die vorchristliche Zeit auch topographisch belegten neun Bibliotheken, die in der Regel im Kontext von Kultstätten angelegt waren, arbeitet der Beitrag mit großer Gründlichkeit alle literarischen, epigraphischen und archäologischen Zeugnisse auf. Eine zentrale »Staatsbibliothek« hat es offensichtlich nicht gegeben; stattdessen präsentiert sich das kaiserzeitliche Rom als eine vielgestaltige Bibliothekslandschaft.
Angelika Zdiarsky (»Bibliothekarische Überlegungen zur Bibliothek von Alexandria«) widmet sich der wohl berühmtesten Bibliothek der hellenistischen Zeit. Gerade durch ihr Ende »wurde der Topos der Vergänglichkeit des Wissens und der Verlust des kulturellen Gedächtnisses genährt und das Bemühen zur Entwicklung von Gegenstrategien gefördert« (162). Obgleich sich nur wenig Sicheres über die organisatorische Struktur, den Bestandsaufbau, die Erwerbspolitik oder die Bestände der Bibliothek selbst ermitteln lässt, kann das Museion dennoch mit Fug und Recht als antikes Vorbild heutiger Nationalbibliotheken gelten.
Gerhard Endreß (»Neue Leser für alte Bücher. Lehrüberlieferung, Textüberlieferung und die Bewahrung des antiken Erbes in den Bibliotheken des arabisch-islamischen Kulturraumes«) beginnt mit einer kritischen Analyse jener (legendären) Überlieferung von der Zerstörung des Museions durch islamische Eroberer im 7. Jh., um dann die wechselvolle Geschichte des orientalischen Bibliothekswesens – seiner Bewahrung vorislamischer Bestände, seiner Übersetzungstätigkeit, seiner Verbindung zum akademischen Leben wie seiner geographischen Verbreitung – materialreich darzustellen.
Peter Schreiner (»Aspekte der Tradierung der antiken griechischen Literatur in Byzanz«) geht den Rezeptionswegen und -weisen antiker Schriften vom 6. bis zum 16. Jh. nach. Im Mittelpunkt stehen dabei die geographische Streuung, das Phänomen des Literaturverlustes, kulturgeschichtliche Entwicklungen wie die Ablösung der Rolle durch den Codex oder die Einführung der Minuskelschrift, schließlich die politische Situation Konstantinopels als eines besonderen bibliothekarischen Zentrums. Dabei zeigt sich, dass auch das Jahr 1453 keinen scharfen Schnitt, sondern nur einen markanten Punkt in einer längeren Übergangsphase des Transfers von Handschriften in den Westen darstellt.
Michele C. Ferrari (»Manu hominibus praedicare. Cassiodors Vivarium im Zeitalter des Übergangs«) reflektiert die Bedeutung der (nur noch zu rekonstruierenden) Bibliothek jenes Klosters als einer Art »Verkörperung der spätantiken und der frühmittelalterlichen Bibliothek« überhaupt, was sich nicht allein in der Fülle an Titeln, sondern auch in der Form der Aufbewahrung sowie in klaren Regelungen zur Textarbeit im Prozess des Abschreibens und Sammelns niederschlägt.
Armin Schlechter (»Klassische lateinische Literatur in der Bibliotheca Palatina«) sichtet zum Schluss noch einmal die Bestände dieser berühmten, von einem wechselvollen Geschick begleiteten Heidelberger Büchersammlung und ordnet sie in die Bibliothekslandschaft des 16./17. Jh.s ein.
Dass sich in diesen Band auch noch andere instruktive Beispiele gut eingefügt hätten, versteht sich bei der Weite des Horizonts von selbst. So wären etwa die berühmte Bibliothek des Kirchenvaters Eusebius von Cäsarea, zu deren Rekonstruktion es inzwischen umfangreiche Forschungen gibt, oder die Bestände so bedeutender und alter Klos­terbibliotheken wie derjenigen im Katharinenkloster auf dem Sinai lohnende Bereicherungen gewesen. Für solche Interessen bietet der vorliegende Band jedenfalls eine Fülle von Anregungen – und die Reihe, in der er erscheint, viel Raum für weitere Forschungen.