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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

124–144

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Eilert Herms

Titel/Untertitel:

Enzyklopädie der Neuzeit*
Bestandsaufnahme des Fachs »Neuere Geschichte (Europas)«
im deutschen Sprachraum

Im Jahr 2005 erschien der erste, 2012 der letzte der 15 Textbände der »Enzyklopädie der Neuzeit« (EdN), die sich selbst als Bestandsaufnahme des akademischen Faches »Neuere Geschichte« präsentiert (1, VIIb, XXIIb) und als solche neben die Enzyklopädien »Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike« und »Lexikon des Mittelalters« stellt (1, VIIa). Im Blick auf den Herausgeber- und Mitarbeiterkreis wird die Beschränkung auf den deutschen Sprachraum festgehalten. Im Blick auf den Gegenstandsbereich jedoch wird klargestellt, dass die »Neuzeit« als – die den Zeitraum zwischen 1450 und 1850 ausfüllende, auf das »Mittelalter« folgende und der »Moderne« vorangehende – Epoche der Geschichte Gesamteuropas, und nicht etwa nur einzelner europäischer Nationalstaaten, im Blick steht und dass darüber hinaus diese Epoche der Geschichte Europas im globalen Zusammenhang, das heißt innerhalb des »Weltsystems« der in diesem Zeitraum ablaufenden Wechselwirkungen zwischen Europa und den außereuropäischen »Welten« Amerika, Asien und Afrika betrachtet wird. Ferner gehört es zum – im Vorwort des ge­schäftsführenden Herausgebers, Friedrich Jäger, Wuppertal, übersichtlich dargelegten (1, VI–XXIII) – Programm des Werkes, dass das Fach »Neuere Geschichte«, wie es im Rahmen der alten philosophischen Fakultät bzw. ihrer Nachfolgeformationen institutio­nalisiert ist, ausdrücklich auf seine Alleinzuständigkeit für den genannten Gegenstandsbereich verzichtet. Vielmehr wird die europäische Neuzeit disziplinenübergreifend behandelt unter konsequenter Einbeziehung all derjenigen ihrer Aspekte, die Gegenstand anderer etablierter historisch ausgerichteter Fächer sind, wie etwa der Rechtsgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Kirchen-, Theologie- und Religionsgeschichte, der Wissenschaftsgeschichte, der Geschichte der Literatur, der bildenden Kunst, der Wissenschaftsgeschichte, der Technikgeschichte, der Umweltgeschichte sowie der erneut das wissenschaftliche Interesse auf sich ziehenden »Universalgeschichte«, verstanden als »Globalgeschichte«, nämlich Geschichte der globalen Wechselwirkung zwischen Europa und den außereuropäischen »Welten«.


I.


Aus dieser interdisziplinären Zusammenarbeit resultiert das Stichwortsystem, in dessen sachlichen Aufbau hinter der alphabetischen Oberflächenstruktur dem Benutzer in »Vorwort« (1, VI–XXIV) und »Schlußbetrachtung« (15, 902–1090) klarer Einblick gegeben wird: Die Lemmata ergeben sich aus der Perspektive von zehn »Fachgebieten« auf die umrissene Epoche. Diese sind (in der Reihenfolge von »Vorwort« [1, XIV] und »Schlußbetrachtung« [15, 919–1090]): 1. »Staat, politische Herrschaft und internationales Staatensystem«, 2. »Globale Interaktion und globale Geschichte«, 3. »Recht und Verfassung«, 4. »Lebensformen und sozialer Wandel«, 5. »Wirtschaft«, 6. »Naturwissenschaft und Medizin«, 7. »Bildung, Kultur und Kommunikation«, 8. »Kirchen und religiöse Kultur«, 9. »Literatur, Kunst und Musik«, 10. »Umwelt und technischer Wandel«.
Jedes dieser Fachgebiete stellt jeweils in wiederum zehn »Schlüsselartikeln« die für seinen Aspekt der europäischen Neuzeit grundlegenden Phänomene vor. In daran anknüpfenden »Dachartikeln« werden diese entfaltet. »Einzelartikel« ergänzen die Dachartikel. Das Zusammenspiel der Artikelebenen soll die für die Epoche wesentlichen Entwicklungen deutlich machen. Auf Artikel zu einzelnen Personen und Orten wird daher – grundsätzlich1 – verzichtet und für die Gewinnung einschlägiger Informationen auf den Re­-gisterband verwiesen. Jedes Fachgebiet will durch seine Artikel den Benutzer über Sachverhalte auf drei verschiedenen Ebenen informieren: über die realgeschichtlichen Ereignisse, über das in der Sprache der Quellen greifbare Selbstverständnis der historischen Akteure und über Selbstverständnis und Leitgesichtspunkte der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Forschung (1, VIIIa).
Das Fachgebiet 1 (Staat, politische Herrschaft, Staatensystem; Betreuer: Horst Carl, Gießen, Christoph Kampmann, Marburg) stellt in der Trias der Schlüsselartikel »Staat«, »Krieg« und »Frieden« zunächst die Entstehung und das Erstarken der europäischen Territorial- bzw. Nationalstaaten im Zuge einer dichten Kette von kriegerischen, freilich stets auf Frieden zielenden Auseinandersetzungen dar. Es erinnert damit an einen Grundsachverhalt der europäischen Geschichte, der in den europäischen Beurteilungen des heutigen politischen Geschehens in den außereuropäischen Welten weitgehend vergessen zu sein scheint. Sodann beschreibt der Artikel »Monarchie« diese als die (unbeschadet der Französischen Revolution) bis zum Ende der Epoche über alle Alternativen triumphierende Herrschaftsform und der Artikel »Stand/Stände« die Ständegesellschaft als die jener Herrschaftsform entsprechende Ordnung der politischen Partizipation. In diesem Rahmen verlaufen die > »politischen Bewegungen«, die, inspiriert durch die Ideen der > »Nation« und der > »Freiheit« unter Umständen in > »Revolutionen« münden. Die das staatspolitische Streben der Epoche reflektierenden und leitenden politischen Theorien werden im Artikel »Politik« zusammengefasst.
Das Fachgebiet 2 (Globale Interaktion; Betreuer: Helmuth Bley, Hannover, Hans-Joachim König, Eichstätt, Stefan Rinke, Eichstätt, Kirsten Rüther, Hannover) rückt diese europäische Entwicklung in den Kontext des gleichzeitigen Lebens der außereuropäischen Welten und beschreibt die zwischen diesen und Europa – bei allen unverkennbaren Asymmetrien dennoch wechselseitig – verlaufende Interaktion. Artikel über die außereuropäischen »Reiche« bzw. »Welten« (über das > »Osmanische Reich«, die > »Chinesische Welt«, das > »Mogulreich«) und daran anschließend über die breit behandelte »Außereuropäische Staatenbildung« (12, 518–554) bringen zunächst die autochthone Existenz dieser geschichtlichen Partner des neuzeitlichen Europas in Erinnerung. Vor diesem Hintergrund werden als Folge der europäischen > »Expansion« das Zustandekommen der »Atlantischen Welt« (auf dem Boden der de facto Eliminierung bzw. Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung Nord- und Südamerikas) sowie der – zum Teil extrem, zum Teil we­niger – asymmetrischen Interaktionsbeziehungen zwischen Europa und den anderen Welten im > »Kolonialismus«, im System der > »Weltwirtschaft«, in den Strömen der Migration (> »Mobilität«, sowie in den »Schlußbetrachtungen« 15, 964–974), aber auch im Kontinuum der > »Kulturkontakte« und der > »religiösen Interaktion« (Mission) dargestellt. Der Artikel »Weltgeschichte« gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Weisen und Formen, in denen die innerhalb des > »Weltsystems« de facto ablaufende > »Globale Interaktion« als solche bedacht, erinnert und dargestellt wurde, wobei eindrucksvoll deutlich wird, dass und wie dies ausnahmslos und überall in strikter Anlehnung an die in den verschiedenen Bereichen jeweils herrschende religiöse bzw. weltanschauliche > »Weltwahrnehmung« im Ganzen geschieht.
Das Fachgebiet 3 (Recht und Verfassung; Betreuer: Wilhelm Brauneder, Wien, Sibylle Hofer, Regensburg, Diethelm Klippel, Bayreuth) gibt – in expliziter Kritik an der traditionellen Aufteilung der an der juristischen Fakultät betriebenen Rechtsgeschichte in »Romanistik« und »Germanistik« und entschlossen zu einer rein geschichtlichen Betrachtung der Materie – erstens eine Übersicht über die neuzeitliche Geschichte der rechtlichen Normen in den Bereichen des > »Öffentlichen Rechts«, des > »Strafrechts« (vor dem Hintergrund der Geschichte des Verständnisses von > »Kriminalität«) und des > »Privatrechts«. Zweitens wird die in der Erstarkung der Staaten gründende Motorik dieser Entwicklungen in der staatlichen Gesetzgebung (> »Gesetz«) und ihre Regelung durch die sich jeweils herausbildende > »Verfassung« thematisiert; drittens die Institutionen der Rechtsanwendung in > »Justiz«, > »Polizei«, > »Verwaltung«; und schließlich viertens die theoretischen Reflexionshorizonte (> »Recht«, > »Naturrecht«, > »Rechtsphilosophie«) und die Reflexionsinstitutionen des Rechts (> »Jurisprudenz«).
Das Fachgebiet 4 (Lebensformen und sozialer Wandel; Betreuer: Josef Ehmer, Wien, Friedrich Lenger, Gießen) behandelt einerseits die epochenspezifische Entwicklung und Ausgestaltung des > »Alltags« in den elementaren Vergemeinschaftungsformen von > »Fa­milie« und > »Gesellschaft« sowie die sich in deren Rahmen bildenden Lebenswelten der > »Bauern«, des > »Adels«, der > »Gutsherrschaft«, des > »Bürgertums« in der > »Stadt« mit seiner typischen Be­triebsform des > »Handwerks« und seiner Korporationsform der > »Genossenschaft«; andererseits aber auch die epochenspezifischen Ausgestaltungen des persönlichen Lebens in > »Lebensstil« und > »Lebenslauf« unter den Bedingungen der zeitgenössischen Ausprägung der Rollen des > »Geschlecht[s]« und der > »Mobilität«. Den > »Juden«, ihrer gesellschaftlichen Rolle und ihrer Lebensform, ist ein eigener Artikel gewidmet.
Fachgebiet 5 (> »Wirtschaft«; Betreuer: Ulrich Pfister, Münster, Werner Plumpe, Frankfurt a. M., Werner Troßbach, Kassel) be­schreibt durch das Ensemble seiner Artikel die in der > »Landwirtschaft« verankerte (aber auch in der Stadt dominierende) > »Hauswirtschaft« und ihre Form, die > »Subsistenzwirtschaft«, als Ausgangslage der Epoche, deren Konjunkturen sich aus der malthusianischen (vgl. > »Malthusiamismus«; sowie »Schlußbetrachtung« 15, 981 ff.) Interdependenz von > »Boden« und > »Arbeit« und ihren Schwankungen ergeben. Sodann werden diejenigen vielfältigen Faktoren beschrieben, die im Laufe der Epoche zu einer kontinuierlichen Abmilderung dieser elementaren Konjunkturmechanismen geführt haben. Das sind: die Ausdifferenzierung spezialisierter handwerklicher > »Gewerbe« >, die parallele Entwicklung von > »Handel« und > »Geldwirtschaft«, die Integration von Märkten (> »Markt«), ihre Einbindung in den > »Welthandel« und die Aus wirkungen von Krieg und Staatenbildung. > »Krieg« wirkt sich einer­seits innerhalb des malthusianischen Konjunkturmechanis­mus aus (Dezimierung der Bevölkerung), gehört aber andererseits auch als ein Wirtschaftszweig mit spezifischen und für ihn wesentlichen technologischen, finanziellen und soziologischen Mo­menten zu den Faktoren, die den malthusianischen Grund­-mechanismus dämpfen. Dessen definitive Überwindung erfolgt gegen Ende der Epoche durch die > »Agrarrevolution« und die beginnende > »In­-dus­trialisierung«. Über die diese gesamte Entwicklung begleitende Theoriegeschichte geben Einzelartikel (> »Merkantilismus«, > »Wirtschaftsliberalismus«) und Schlüsselartikel wie »Wirtschaft« und »Wirtschaftsgeschichte« Auskunft.
Fachgebiet 6 (Naturwissenschaft und Medizin; Betreuer: Fried­rich Steinle, Wuppertal, Reinhold Reith, Salzburg) behandelt einerseits den Gesamtbereich der epochenspezifischen Entwicklung des > »Wissens« (einschließlich der > »Wissensideale«) und der > »Wissensorganisation« und dann andererseits die Entwicklung des Wissens um die Dinge der > »Natur« – vor dem erst im 19. Jh. ausdifferenzierten Disziplinenspektrum der modernen Naturwissenschaften – in > »Naturphilosophie«, > »Naturgeschichte«, in den > »Chemischen Wissenschaften«, den > »Physikalischen Wissenschaften«, den > »Mathematischen Wissenschaften« und der > »Medizin« (ergänzt durch viele Einzelartikel zum Medizinal- bzw. Gesundheitswesen der Epoche). Einzelartikel werfen Licht auf die Erzeugung von Wissen (etwa > »Beobachtung«, > »Experiment«, > »Forschungsreise«), auf Institutionen der Wissensgewinnung (> »Klo s­ter«, > »Hof«, > »Labor«, > »Observatorium«, > »Akademie«) und Formen der Wissenspräsentation und -kommunikation (etwa: > »Disputation«, > »Gelehrten-Korrespondenz«, > »Zeitschriften«). Die epochenspezifische Prägung des Zusammenlebens durch Wissen wird unter den modernen Kategorien der »Wissensgesellschaft« und der »Professionalisierung« betrachtet. Der epochenspezifischen europäischen Wissensorganisation werden > »Außereuropäische Wissenssysteme« gegenübergestellt. Institutionen wie Schule und Universität werden zwar erwähnt, aber programmatisch dem nächsten Fachgebiet zugeordnet.
Dies Fachgebiet 7 (Bildung, Kultur, Kommunikation; Betreuer: Wolfgang Behringer, Saarbrücken, Gerrit Walther, Wuppertal) thematisiert > »Kultur« (7,253–281) in dem epochenspezifisch überwiegenden Verständnis von »Kultur des Menschen« (und weniger in dem erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s durch Autoren Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche und Georg Simmel aufgekommenen [und das heutige Verständnis von »Kulturwissenschaft« im Un­terschied zu »Geisteswissenschaft« tragenden] Verständnis als in­-neres Prinzip eines gesamtgesellschaftlichen Lebenszusammenhangs), bestehend in der »Summe menschlicher Deutungs- und Orientierungsleistungen«. > »Bildung« wird verstanden (2, 242–246) als »Kanon von Kenntnissen, Fähigkeiten, Regeln, Werten«, der schließlich das »Lebensgefühl, Selbstbild und Verhalten der europäischen Eliten prägte« (15, 1010). Rückblickend reflektiert das Fach­-gebiet den Zusammenhang von »Bildung und Kultur« (15, 1010 ff.). Im Einzelnen thematisiert werden die Bewegungen, die dieses neuzeitliche Verständnis von Bildung und Kultur inauguriert haben (> »Humanismus«, > »Antikenrezeption«, > »Aufklärung«), die von diesen Bewegungen vornehmlich gepflegten Inhalte (nämlich: > »Philosophie« [mit ihren Themengebieten wie etwa > »Erkenntnistheorie«, > »Metaphysik«, »Ethik«] und > »Geschichte« [mit ihren verschiedenen regionalen Erkenntniszielen, Darstellungsformen und ihrer Letztintention auf > »Weltgeschichte«] und die wesentlichen institutionellen Träger der Pflege und Verbreitung solcher Bildung: > »Schule« und > »Universität«. In den Blick kommt aber auch die Auswirkung dieser Pflege von Bildung und Kultur auf das > »Alltagsleben« und auf die es prägenden Mentalitäten sowie auf die öffentliche > »Kommunikation« und ihre > »Medien«. Als summarischer Effekt der Entwicklung dieser neuzeitlichen Bildung zeichnet sich schließlich ein > »Geschichtsbewußtsein« und überhaupt ein neues Gefühl und Verständnis von > »Zeit« ab.
Fachgebiet 8 (Kirchen und religiöse Kultur; Betreuer: A. Beutel, Münster, W. Sparn, Erlangen) behandelt in einem ersten Schwerpunkt die lebensweltlich erfahrbaren Manifestationen der Kommunikation und Tradition von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen in Gestalt einerseits der konfessionell unterschiedenen christlichen Kirchen, nämlich der > »Römisch-katholischen Kirche«, der > »Evangelischen Kirchen«, der > »Orthodoxen Kirchen« sowie der > »Freikirchen«, andererseits aber auch in Gestalt von gegenüber Institutionen distanzierten > »Religiöse(n) Bewegungen« und von individualisierten > »Frömmigkeitskulturen«; ebenso auch die alle diese Manifestationen christlicher Religion reflektierende neuzeitliche > »Theologie«. Ein zweiter Schwerpunkt ist der neuzeitlichen Rolle und Entwicklung der > »Religionen« jenseits des Christentums gewidmet, insbesondere dem im neuzeitlichen Europa wichtigen > »Judentum«. Der dritte Schwerpunkt betrachtet die Entwicklung der gesellschaftlichen Stellung des kirchlich gebundenen Christentums, und zwar: erstens den als Folge der Reformation und katholischen Reform zunächst einsetzenden Prozess der > »Konfessionalisierung« des gesamten gesellschaftlichen Lebens, und sodann zweitens die Effekte der Aufklärung auf das Christentum und seine Stellung in der Gesellschaft. Diese Folgen bestehen einerseits in einer historisch-philosophischen Selbstkritik, Selbstprüfung und Selbstvertiefung des kirchlich verbundenen Christentums (mitbehandelt im Artikel »Theologie«), andererseits in der > »Säkularisierung«, hier verstanden als das Ganze einer Transformation christlicher Motive in autonome, sich nicht mehr kirchlich verantwortende Überzeugungsgebilde und sowie auch der Entstehung und Verbreitung von atheistischen und agnos­tischen religions- und kirchenkritischen Positionen (15, 1032 f.). Als Effekt der so verstandenen > »Säkularisierung« zeichnet sich das Öffentlichkeitswirksamwerden der Pluralität unterschiedlicher, ja gegensätzlicher > »Weltbilder« und > »Weltanschauungen« ab.
Fachgebiet 9 (Literatur, Kunst und Musik; Betreuer: Markus Fauser, Osnabrück, Roland Kanz, Bonn, Laurenz Lütteken, Zürich, Silvia S. Tschopp, Augsburg) beschreibt im ersten seiner drei Segmente, dem der Literatur gewidmeten, die Entwicklungsgeschichte nicht nur der noch in die Moderne weiterwirkenden literarischen Gattungen (> »Gattungsgeschichte«, > »Roman«, > »Lyrik«, > »Drama«), sondern auch anderer, im Wesentlichen auf die Epoche der Neuzeit beschränkter Gattungen (etwa > »Erbauungsliteratur«); ebenso aber auch die Medien und Institutionen des neuzeitlichen Literaturbetriebs (> »Literarische Institutionen«, die Position und Rolle des > »Autors«, das > »Urheberrecht«, den > »Verlag«, den > »Buchhandel« etc.) und breit natürlich das > »Theater«; ferner seine – zunächst von der > »Zensur« kontrollierte – gesellschaftliche Rezeption und Wirksamkeit durch Gewinnung immer neuer Leserschichten und Medien sowie last but not least die diesen Gesamtprozess reflektierende und zugleich auch inspirierende > »Literaturtheorie«. – Auch das der bildenden Kunst und Architektur gewidmete Fachgebietssegment bettet seine Phänomene in den Artikeln über die Entwicklung der Architektursparten (> »Kirchbau«, > »Schloß«, > »Wohnbau«) und Gattungen der bildenden Kunst (> »Malerei«, > »Skulptur«, > »Grafik«), über die Entwicklung der Stile (> »Barock«, > »Rokoko«, > »Klassizismus«) und der Gestaltungstechniken ein in die Geschichte ihrer Trägerkreise und der Funktionen der Kunstwerke für diese. Auch informiert es über die die Entwicklung begleitende > »Kunsttheorie«. – Mit besonderem Nachdruck macht das Fachbereichssegment Musik die Entwicklung der Gattungen (etwa: > »Lied«, > »Kantate«, > »Sinfonie«, > »Sonate«, > »Konzert«, > »Kammermusik« ) aus der gesellschaftlichen Pra xis des Musizierens (> »Musik«, > »musikalische Institutionen«, > »Vokalmusik«, > »Instrumentalmusik«) – ihren Instrumenten (> »Musikinstrumente«), den daran Beteiligten (etwa: > »Komponist«, > »Musiker«, > »Stadtpfeife(r)«, > »Orchester«) mit ihren mannigfaltigen Trägerkreisen, Anlässen, Zwecken und Räumen (etwa:> »Gelegenheitskompositionen«, > »Tanz«, > »Wirtshausmusik«, > »Musik, kirchliche«, > »Hof, Hofmusik«, > »Hausmusik«, > »Salon, Salonmusik«, > »Musiktheater«, > »Oper«, > »Opernhaus«) und Überlieferungsformen (> »Notierung, musikalische«, > »Partitur«) und ihren Ausbildungsinstitutionen (> »Musikausbildung«, > »Konservatorium«) – verständlich. Über die begleitende Reflexions- und Theoriearbeit informieren Artikel etwa über > »Musikschrifttum«, > »Musikgeschichte«, > »Musikkritik« oder > »Musikästhetik«.
Das abschließende Fachgebiet 10 (Umwelt und technischer Wandel; Betreuer: Reinhold Reith, Salzburg, Friedrich Steinle, Wuppertal) informiert über den technischen Wandel in der Neuzeit teils spartenspezifisch (> »Montanwesen«, > »Verkehr und Transport«), teils durch Darstellung der Gesamtentwicklung (> »Wandel, technischer«), ihrer Manifestationen (> »Maschine«), ihrer Bedingungen (> »Energie«) und ihrer unmittelbaren Protagonisten (etwa: > »Ingenieur«, aber auch: > »Instrumentenmacher«, > »Uhrmacher«). Ebenso bietet das Fachgebietssegment Umwelt abgesehen von zwei Einzelphänomenen (> »Klima« und > »Naturkatastrophen«) Gesamtdarstellungen unter dem Dach der Artikel »Umwelt« (mit den Aspekten > »Boden«, > »Wasser«, > »Feuer«, > »Luft«) und »Natur«. Dazu kommen Informationen über den gesellschaftlichen Umgang mit technischen Anlagen (> »Popularisierung«, > »Produktinnovation«, > »Reparatur«, > »Wiederverwertung«, > »Maschinensturm«) sowie über die begleitende und leitende Reflexions- und Theoriearbeit (> »Technologie«, > »Technische Literatur«, > »Montanliteratur«) und ihre > »Technische Fachsprache«.
Gegenüber dieser wohlgegliederten Fülle von historischen Einzelinformationen, Darstellungen von Zusammenhängen, Urteilen und Argumenten befindet sich der Rezensent in derselben Lage wie jeder Benutzer aus dem Bereich irgendeiner einzelnen Fachwissenschaft: Mit eigener Fach- und Urteilskompetenz nur über einige Fachgebiete, unter Umständen gar nur über ein einziges Fachgebiet ausgestattet, kann er sich von den Darbietungen der übrigen Fachgebiete nur durch eine im Vertrauen auf die Stichhaltigkeit der fachspezifischen Beiträge vollzogenen Rezeption zu eigenen Fragen anregen lassen.


II.


Das Vertrauen in die Stichhaltigkeit der Darstellung aus fremden Fachgebieten wird in jedem Fall davon abhängen, ob in den Augen eines Fachkundigen die Beiträge aus dem eigenen Fachgebiet diejenige Angemessenheit und Stichhaltigkeit aufweisen, welche die starke Vermutung begründen, dass die Beiträge aus den anderen Fachgebieten dieselben Qualitäten aufweisen. Unter diesem Gesichtspunkt hat der hier berichtende Rezensent allen Grund, dem Gesamtwerk seine vertrauensvolle Aufmerksamkeit nicht zu versagen: Die Beiträge aus dem ihm selbst vertrauten Fachgebiet »Kirchen und religiöse Kultur« zeichnen sich durchweg durch angemessene Auswahl der Schwerpunkte, durch eine das Wesentliche inhaltlich vollständig erfassende und formal übersichtlich darbietende Darstellung und durch wichtige und richtig gesetzte Akzentsetzungen aus. Sachgemäß ist zunächst und vor allem die Grundentscheidung, das religiöse Leben der Neuzeit als eine der teilnehmenden Erfahrung von jedermann zugängliche, stets in in­stitutioneller Form leibhaft zugängliche Kommunikationspraxis zu beschreiben. Eine solche Kommunikationspraxis ist ja einerseits die schlechthin notwendige Bedingung für das Zustandekommen eigener religiöser Überzeugungen auf Seiten von Ein­zelpersonen und zugleich andererseits auch die notwendige Be­dingung für die Lebendigkeit religiöser Überzeugungen: Religion kann nicht an­ders lebendig sein denn als kommunizierte Religion. Es ist also nicht nur historisch – für die hinter uns liegende Epoche der Neuzeit – richtig, dass das Christentum geschichtlich in institutioneller, kirchlicher Gestalt existiert und wirkt, sondern dieses historische Faktum manifestiert in sich selbst die situationsübergreifende Natur der Sache – eben der lebendigen religiösen Überzeugung, hier exemplarisch der christlichen – und gibt im Blick auf heutige Diskurse Anlass zu der Frage, ob die Rede von einem »kirchenfreien Christentum« und »unsichtbarer Religion« eine gelebte Realität trifft oder ob sie nur eine von einem spiritualistischen Missverständnis von gelebter Religion inspirierte Phantasie zur Sprache bringt. Durch die Schlüsselartikel zu den drei christlichen Kirchen (Autoren: Dorothea Wendebourg, Peter Walter, Karl Christian Felmy) wird dieser Sachverhalt der ursprünglichen und unüberwindlichen Institutionalität von Religion als ein exemplarischer, nicht nur für die christlichen Kirchen gültiger Sachverhalt erkennbar. Einschlägige Artikel lassen ihn auch am > »Judentum« (Karl E. Grözinger) und am > »Islam« sichtbar werden (Stefan Reichmuth). Ebenso zeigt die Darstellung der > »Religiösen Bewegungen« (A. Beutel) und der > »Frömmigkeitsstile« (A. Beutel), wie konstitutiv diese (durchaus Momente der Kritik einschließenden) Aneignungs- und Individualisierungsgestalten christlicher Tradition (ebenso wie die kritischen Strömungen im Judentum) konstitutiv bezogen sind auf die Existenz und das Leben der kirchlichen Gemeinschaft. Es wird deutlich: Kirchlichkeit und Individualisierung der religiösen Überlieferung sind kein Gegensatz. Die im Ar­tikel »Religionen« (M. Bergunder) thematisierte gelehrte – histo­-rische und philosophische – Besinnung auf »Religion« hätte die systematischen Pointen der in diesem Diskurs hervorgetretenen Positionen, vor allem aber die Gesamttendenz dieses Diskurses prägnanter sichtbar machen können – nämlich seine Tendenz zur Überwindung von abstrakt ahistorischen, traditions- und institutionsvergessenen Konzepten von Religion bei Rationalisten und Deisten durch ein konkret-geschichtliches Verständnis von Religion, das deren wesentlich kommunikativ-traditionale Konstitution und ihre ebenso wesentlich soziale Manifestation durchschaut (bei Herder, bei Schleiermacher und dann auch bei Hegel). Deutlich kommt hingegen der nicht rein innerlich-private, sondern kommunikativ gesellschaftsgestaltende Charakter von Religion (exemplarisch der christlichen in der Neuzeit) im Artikel »Konfessionalisierung« (Thomas Kaufmann) heraus.
Zu fragen ist allerdings, ob es der Gewinnung genauer Sachgemäßheit dienlich war, für die Beschreibung der die Konfessionalisierung ablösenden Entwicklung seit dem Westfälischen Frieden bis zum Ende der Epoche (um 1850) auf das Konzept der > »Säkularisierung« zurückzugreifen (vgl. SB 15, 1032 f.). Denn der aus der Werkstatt F. W. Grafs stammende Artikel erinnert einerseits an das bekannte Faktum, dass die Rede von und die Debatten um »Säkularisierung« erst gegen Ende der in der EdN betrachteten Epoche einsetzten und ihre Hochkonjunktur erst jenseits der Epochengrenze im späten 19. und dann im 20. Jh. erreichten. Deutlich wird auch das Ergebnis dieser Debatten: das Sichtbarwerden der sachlichen Unklarheit des Konzepts, die es gerade als religionssozialgeschichtliches Analysekonzept definitiv ungeeignet2 macht.
Andererseits beschreibt Grafs Artikel historiographische Dis­kurse des 19. und 20. Jh.s über vermutete »Säkularisierungs«tendenzen und ihre Ursachen in der Neuzeit und erinnert an kontroverse neuzeitliche Debatten über Kirche und Religion, die seit ihrem Beginn in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s immer weitere Kreise der lesenden Öffentlichkeit einbezogen – wobei Graf völlig zu Recht davor warnt, von diesen Befunden über literarische Debatten um­standslos Rückschlüsse zu ziehen auf die reale Stellung und Relevanz der Kirchen und der – mehr oder weniger – kirchlich orientierten christlichen Frömmigkeit in den europä­ischen Gesellschaften des späten 17. bis frühen 19. Jh.s. Die auf die Phase der Konfessionalisierung folgenden realen Veränderungen der gesamtgesellschaftlichen Stellung und Funktion der Kirchen harren offensichtlich noch ihrer genauen Entdeckung und Be­schreibung. Für den Bereich Deutschlands steht einstweilen nur viererlei fest.
Erstens: Diese Veränderungen sind eng verbunden mit einer intensiven Auseinandersetzung der konfessionellen Theologien mit den Anfragen der aufgeklärten Intellektuellen, einer Auseinandersetzung, die nicht einfach in der Verabschiedung konfessioneller Grundmotive endete, sondern in der Absicht und im Effekt der vertieften Erfassung dieser Motive diente (das wird übersichtlich dargestellt von A. Beutel im Artikel »Theologie«).
Zweitens: Es kam zu einer Neubestimmung des rechtlichen Verhältnisses von Kirche und Staat, das zunächst in klarer Miss­achtung der genuin reformatorischen Sicht auf staatskirchliche Vereinnahmung hinauslief, jedoch schon seit den letzten Jahren des 18. Jh.s zu einem – konfessionellen Grundeinsichten de facto entsprechenden – Protest führte, der am Ende der Epoche auch zum Erfolg führte, nämlich zur Anerkennung erheblicher Selbstbestimmungsbefugnisse der Kirchen (dazu vgl. > »Kirchenrecht«).
Drittens: Die reale Stellung der Kirchen in der Gesellschaft bleibt von der Entwicklung einer kritischen bürgerlichen Öffentlichkeit nicht unberührt, sondern wird naturgemäß auch Gegenstand ihrer Debatten (die als solche aber von ihrem Gegenstand, der realen Kirchlichkeit, unterschieden werden müssen).
Viertens wird mit dem Vordringen der program­matischen oder auch nur faktischen Praxis von Religionsfreiheit der Boden für eine zunehmende Pluralisierung von religiösen oder auch a- bzw. antireligiös-weltanschaulichen Globalorientierungen bereitet3 (der Ar­tikel > »Religiöser Pluralismus« [Burkhard Gladigow] fasst leider nur den Pluralismus von Religionen in den Blick, ohne zu sehen, dass es sich um die Anbahnung eines auch andere ethosbegründende Globalorientierungen einschließenden religiös-weltanschau­lichen Pluralismus und damit eines Pluralismus der Ethosgestalten handelt). Aber wie gesagt: Die detaillierte Erforschung der realen Veränderungen der gesamtgesellschaftlichen Stellung der Kirchen und anderer Trägerkreise einer Kommunikation von religiösen bzw. weltanschaulichen Überzeugungen in den letzten 200 Jahren der Neuzeit steht offenbar noch aus. Solche weiterführenden Erwägungen im Anschluss an die auf die Realisierung des Artikelsystems des Fachgebietes »Kirchen und religiöse Kultur« zurückblickende »Schlußbetrachtung« stellen jedoch nicht den Gesamteindruck infrage, dass auf beschränktem Raum eine der eigenen Kontur der realen Phänomen angemessene, eindrucksvolle und auch systematisch aufschlussreiche Übersicht über die in das Fachgebiet fallenden geschichtlichen Gegenstände gelungen ist.
Das gilt auch für den Eindruck des Rezensenten, dass es – abermals in leichter Akzentveränderung gegenüber der »Schlußbe­-trachtung« (15, 1033 ff.) – sachgemäß, weil erkenntnisfördernd ist, die dem Gesamtwerk zugrunde liegenden Epochengrenzen – »Neuzeit« ab 1450, nach vorangehendem »Mittelalter«, und bis etwa 1850, vor nachfolgender »Moderne«; und innerhalb der Neuzeit die Unterscheidung der bis in die Mitte des 17. Jh.s reichenden Teilepoche der »frühen Neuzeit« von der dann beginnenden und bis zum Ende der Epoche reichenden Teilepoche der »revolutionären Neuzeit« – auch für das Fachgebiet »Kirchen und religiöse Kultur« ernst zu nehmen. Das ist für die Unterscheidung der beiden Teilepochen der Neuzeit nach dem, was gerade über das Verhältnis zwischen dem Zeitalter der Konfessionalisierung und den nachfolgenden Veränderungen in der gesamtgesellschaftlichen Stellung der Kirchen und der religiösen Kultur gesagt wurde, klar. Denn dieser Unterschied fällt mit den beiden unterschiedenen Teilepochen zusammen. Heuristisch fruchtbar scheint aber dem Rezensenten vor allem die Beachtung der in die Mitte des 19. Jh.s fallenden Grenze zwischen »Neuzeit« und »Moderne«. Tatsächlich werden seit der Mitte des 19. Jh.s Veränderungen der geschichtlichen Gesamtkonstellation sichtbar, die zwar sämtlich schon – wie könnte es im Kontinuum des geschichtlichen Werdens anders sein – vorbereitet sind durch die vorangegangenen Entwicklungen, aber doch erst jetzt manifest und wirksam werden und als Veränderungen der ge­schichtlichen Gesamtkonstellation auch für die geschichtliche Realität von »Kirchen und religiöser Kultur« bisher reale Bedingungen zum Verschwinden bringen und insgesamt neue Bedingungen heraufführen. Die Beachtung dieser (unten genauer zu benennenden) Veränderungen verleiht dann auch der Rede von Kirche und religiöser Kultur unter den Bedingungen »der Moderne« und der ansonsten von Diffusität bedrohten Rede von »Modernisierung« einen klaren Sinn.


III.


Damit ist der Rezensent bei dem Gesamteindruck, den das vorliegende Werk nach einer ersten Einarbeitung auf ihn macht, und bei den Fragen, zu denen er durch seine Lektüre angeregt wurde.
Aus Programm und Durchführung des Werkes spricht der entschlossene Wille zur Fach- und Fakultätsgrenzen übergreifenden Synthese der Erkenntnisse aller wissenschaftlichen Fächer, die de facto mit der Erforschung von in die Epoche der Neuzeit fallenden Phänomenen der Geschichte befasst sind. Insofern muss das Spektrum der zehn Fachgebiete zunächst einmal als Ausdruck der derjenigen interdisziplinären Zusammenarbeit gewürdigt werden, die sich aus der schlichten Maßnahme einer einfachen Zusammenführung der beteiligten etablierten Fächer in ihrem je eigenen Selbstverständnis und Forschungsstand ergibt. Der Eindruck eines durch Gegenstandsgrenzen geordneten Nebeneinanders der Fachgebiete ist dann als Ausdruck ebendieses Ist-Bestandes von Selbstverständnis, Fragestellungen, Methoden und Ergebnissen selbständiger Fächer ernst zu nehmen. Gleichzeitig ist die Bereitschaft und Entschlossenheit erkennbar, die jeweiligen Spezifika des selbständigen Fachs nicht in der Isolation oder konkurrierend gegeneinander zu behaupten, sondern sie jeweils in den Kontext der Arbeit und der Ergebnisse der mit derselben geschichtlichen Epoche beschäftigten anderen Fächer zu stellen. Die Devise lautet: »Nicht Spezialisierung, sondern Kontextualisierung des historischen Wissens«(1, VIIb). In dieser Selbstkontextualisierung selbständiger Einzelfächer schlägt einerseits deren Eigenart und Selbständigkeit, wie sie durch die eigene Fachgeschichte etabliert sind, durch – be­sonders deutlich etwa in der fast durchgehenden Inanspruchnahme des Rechtes, aus der Perspektive des eigenen Faches und den etablierten Auffassungen seines Gegenstandes über die Angemessenheit der dem Gesamtwerk zugrunde gelegten Epochengrenzen zu urteilen. Andererseits ist nach Auskunft aller beteiligten Fachvertreter schon der bloße Akt der Einrückung der eigenen Arbeit in den Kontext der Arbeit anderer Fächer nicht ohne Rückwirkung auf die Einzelfächer geblieben, etwa in der Wahrnehmung von materialen Überschneidungen und Gemeinsamkeiten, damit aber auch in der Wahrnehmung, dass Gesichtspunkte und Befunde anderer Fächer Anlass zu konkretisierter Wahrnehmung der Ge­genstände des eigenen Faches und zu neuen Forschungsansätzen werden können. Derartige Erfahrungen sind von mehreren Seiten als Frucht der Zusammenarbeit an der EdN protokolliert worden, besonders drastisch von Seiten der Rechtsgeschichte (15, 948). Man darf also durchaus erwarten, dass das Verbleiben im Fächerkontext schließlich auch einmal dazu führen wird, dass jedes Fach Epochengrenzen nicht selbständig festlegt, sondern sie als für alle Fächer, die sich als Glieder eines Kontextes anerkennen, gemeinsame anerkennt und dann seinen eigenen Gegenstand als Element dieses Kontextes sieht und damit möglicherweise markant anders als bisher.4
Freilich würde das eine Antwort auf die Frage voraussetzen, welchen realen Sachverhalt die angesprochene und bejahte »Kontextualisierung« des eigenen Faches eigentlich genau meint. Das könnte ganz Verschiedenes sein. Im schlichtesten Falle lediglich die Ko­-existenz im einheitlichen institutionellen Kontext universitärer Fächer. Tatsächlich jedoch ist mehr gemeint: nämlich ein Kontext von Fächern, der in der Tatsache, dass die Gegenstände der Fächer füreinander Kontext sind, begründet ist. Diese Annahme müsste dann auch Auskunft über ihre eigene Voraussetzung geben können. Was ist in der Überzeugung, dass die Gegenstände anderer Fächer Kontext für den Gegenstand des eigenen Faches sind, immer schon als vorangehende Überzeugung vorausgesetzt? Offenbar doch wohl zumindest, dass der Gegenstand des eigenen und die Gegenstände der anderen Fächer, die seinen realen Kontext bilden, in ein und demselben Bereich von Realem koexistieren. Das ist eine schlichte, aber keineswegs triviale Überzeugung. Freilich kann auch bei offener Anerkennung dieser Voraussetzung der »Kontext«charakter der Gegenstände der verschiedenen Fächer signifikant unterschiedlich bestimmt sein, aufgefasst und berück­sichtigt werden – mit denkbar weitreichenden Konsequenzen: Entweder können die verschiedenen Gegenstände der verschiedenen Fächer Kontext füreinander sein in der Weise, wie aneinander grenzende Parzellen auf einer gemeinsamen Bodenfläche füreinander Kontext sind, von denen jede zwar an eine andere grenzt, aber auch von dieser unterschieden und ihr gegenüber selbständig ist, mit der Folge, dass zwar die ganze Fläche erst erkannt und beschrieben ist, wenn alle Parzellen vermessen und beschrieben sind, von denen aber eine jede für sich allein vermessen und beschrieben werden kann und auch muss. Oder die verschiedenen Gegenstände der verschiedenen Fächer sind füreinander Kontext, dass sie nicht diese Selbständigkeit gegeneinander aufweisen, sondern voneinander nur unterschieden sind entweder als bestimmte Momente in einem von seinen Momenten durchaus unterschiedenen Ganzen (wie etwa bestimmte Phasen eines Prozesses von diesem als Ganzem und den für diese Ganzheit des Prozesses wesentlichen anderen Phasen), oder aber als voneinander irreduzibel unterschiedene durchgehende Aspekte ein und desselben Realen (wie etwa Vorderseite, Rückseite und Kante eines Geldstückes oder das Verhalten eines Partners A zu einem Partner B und das Verhalten des Partners B zu dem Partner A in der Einheit der Interaktion von A und B). In beiden Fällen wären die verschiedenen Gegenstände der verschiedener Fächer, die füreinander Kontext sind, nicht einfach selbständig gegeneinander, sondern entweder unselbständige Momente in einem sie umfassenden realen Ganzen oder aber zwar durchgehende, und insofern gleichursprüngliche, aber dennoch ebenfalls unselbständige Seiten eines Ganzen, für das und an dem sie gleichwesentlich sind. In jedem dieser beiden möglichen Fälle würde das behauptete Kontextverhältnis der Fächer einschließen, dass zwischen ihnen Bedingungsverhältnisse real sind.
Die EdN gibt auf diese Fragen keine explizite Antwort. Aber der Klarheit suchende Benutzer kann nicht übersehen, dass das in der EdN behauptete Kontextverhältnis der Gegenstände der Fachgebiete nicht das zuerst erwogene von benachbarten Parzellen ist, sondern durchgehend das zuletzt beschriebene, also jedenfalls ein solches, welches die reale Selbständigkeit der Gegenstände der Fächer gegeneinander ausschließt und das Bedingtsein jedes dieser Gegenstände durch alle anderen einschließt. So ist die neuzeitliche Geschichte von Recht und Verfassung nicht real außerhalb der neuzeitlichen Geschichte der Staatsbildung, sondern nur als eine der wesentlichen Implikationen der Letzteren; aber diese auch nicht ohne die in ihr implizierte – und sie damit ebenfalls bedingende – neuzeitliche Geschichte von Recht und Verfassung. Und wie steht es mit den Gegenständen des Fachgebietes »Bildung, Kultur Kommunikation« auf der einen und den Gegenständen der Fachgebiete »Kirche und religiöse Kultur« sowie »Literatur, Kunst Musik« auf der anderen Seite? Sind die beiden Letztgenannten real außerhalb des Erstgenannten? Sind sie nicht seine Implikate, also durch ihn bedingt und ihn bedingend? Sind Technikgeschichte, Medizingeschichte und Wirtschaftsgeschichte real außerhalb der Umweltgeschichte, durch diese bedingt und sie bedingend? Zwar spricht nichts dafür, den Gegenstand der Geschichte der Wirtschaft sowie den Gegenstand der Geschichte von Bildung (mit all ihren Implikaten) oder den Gegenstand der Geschichte von Naturwissenschaft als Implikat des Gegenstands der Geschichte von Staat und Recht aufzufassen; nichts spricht dafür, den Gegenstand der Geschichte von Staat und Recht, von Bildung (mit all ihren Implikaten) und von Naturwissenschaft als Implikat der Geschichte von Wirtschaft (Technik und Medizin) aufzufassen; nichts spricht dafür, dass die Geschichte von Staat und Recht, von Wirtschaft (Technik und Medizin) und von Naturwissenschaft Implikat der Geschichte von Bildung wäre; und nichts dafür, dass die Geschichte der Naturwissenschaft die Geschichte von Staat und Recht, von Wirtschaft (Technik und Medizin) und von Bildung (mit alle ihren Implikaten) implizieren würde. Aber sind etwa die Geschichte von Staat und Recht, von Wirtschaft (Technik und Medizin), von Bildung (mit allen ihren Implikaten) und von Naturwissenschaft real unabhängig voneinander? Bedingt nicht jede von ihnen alle anderen? Handelt es sich bei ihnen um etwas anderes als die vier Aspekte der Geschichte der Lebensformen und des Zusammenlebens der Menschen in Europa, um Aspekte, aus deren durchgehender Wechselbedingung sich eben die Geschichte, das Werden und Vergehen dieser neuzeitlichen Ordnungen des Zusammenlebens der Menschen in Europa ergibt? Und ist wiederum diese Geschichte real außerhalb der Interaktionen dieser europäischen Welt mit den außereuropäischen Welten, die die Weltgeschichte ausmacht? Auf alle diese Fragen muss man wohl mit »Nein« antworten. Das aber heißt dann: Die Kontextualität der Gegenstände der in der EdN vereinten Fachgebiete hat den präzisen Sinn eines durchgehenden wechselseitigen Bedingungsverhältnisses. Ein solches durchgehendes Bedingungsverhältnis eignet diesen geschichtlichen Gegenständen, sofern sie teils die gleichwesentlichen Aspekte eines ein­-zigen Realen sind, nämlich die sich wechselseitig bedingenden As­pekte der neuzeitlichen Geschichte der Gestalten des Zusam­menlebens der Menschen in Europa; diese ist ihrerseits Implikat der globalen Ge­schichte des Zusammenlebens der Menschen, die ihrerseits wiederum Implikat der globalen Umweltgeschichte der Menschheit ist.
Ist diese durch die Interdependenz ihrer Gegenstände begründete reale Interdependenz der in der EdN vereinten Fächer konsequent wahrgenommen? Das wäre dann der Fall, wenn jedes Fach seinen Gegenstand explizit als einen solchen behandelt, der durch die Gegenstände aller anderen Fächer bedingt ist und sie bedingt. Es ist nicht verwunderlich, dass beim ersten Versuch dieser Fächer, sich und ihre Gegenstände gegenseitig als Kontext anzuerkennen, die wechselseitigen Bedingungsverhältnisse zunächst nur punktuell wahrgenommen werden und zu expliziter Darstellung kommen.
Am deutlichsten ist das der Fall in den Fachgebieten »Bildung etc.«, »Kirchen und religiöse Kultur« sowie »Literatur, Kunst Mu­sik«, die ihren Gegenstand konsequent als gesellschaftliche Praxis konzipieren und damit immerhin auch dessen unübersehbare durchgehende Bedingtheit durch die Entwicklungen auf den Gebieten Staat, Wirtschaft, Technik, auch Naturwissenschaft, thematisieren. Was einschließt, dass auch ihre Instrumentalisierung – vor allem durch das Leben des Staates – zur Sprache kommt.
Auch das Fachgebiet »Staat« sieht seinen Gegenstand bezogen auf den der Fachgebiete »Bildung etc.«, »Kirchen etc.« und »Literatur, Kunst, Musik«. Freilich schwerpunktmäßig ganz unter dem Gesichtspunkt der Ingebrauchnahme oder Beeinflussung dieser Lebensbereiche durch den Staat: Der Staat nimmt die Bildung in seine Hand, entwickelt sich zu ihrem Förderer; er ist es, der zu­nächst für die gesamtgesellschaftliche Geltung konfessionell-kirchlichlicher Normen sorgt und diesen dann in einem Netz naturrechtlicher Obernormen ihren Platz und ihre relative Geltung sichert; er setzt die höfische Repräsentation als Herrschaftsinstrument ein und fördert die dafür gebrauchten Künste. Relativ wenig mitgeteilt und sichtbar wird, ob und wie reale Vorgänge im Bereich von »Bildung etc.« und »religiöser Kultur« die neuzeitliche Entwicklung und Festigung der Staaten ihrerseits und von sich aus und tragend bedingt – und nicht nur auf der Ebene der Theorie reflektierend begleitet und programmatisch orientiert und legitimiert – haben. Deutlich herausgestellt wird hingegen, dass die neuzeitliche Entwicklung und Festigung der Staaten nicht nur einherging mit mannigfachen Förderungen des Wirtschaftsgeschehens, sondern dass dieses auch umgekehrt die Entwicklung der Staaten von sich aus tragend und fördernd bedingt hat.
Das Fachgebiet Wirtschaft jedoch präsentiert seinen Gegenstand in seinen hochinformativen Artikeln gleichwohl in ein­drucksvoller Selbstgenügsamkeit: In Wechselwirkung steht er allenfalls mit gewissen technologischen Entwicklungen (die aber auch ihrerseits zu erheblichen Teilen in gewerblichen, also wirtschaftlichen Motiven wurzeln) und mit der Entwicklung der Staaten und der Rechtsordnung. Überhaupt kein Thema ist jedoch, ob und wie der neuzeitliche Übergang von einer regional begrenzten, statischen, sozial kontrollierten Normen unterworfenen Be­darfsdeckungswirtschaft zur – in überregionaler, schließlich sogar weltweiter Marktintegration agierenden – kapitalmaximierenden Wirtschaft seinerseits von Vorgängen im Bereich »Bildung«, »Kirchen und religiöser Kultur« tragend bedingt und ermöglicht wäre. Mit einer Ausnahme: Der in seiner relativen Kürze dennoch glänzende Artikel »Wirtschaftsethik« (Roman Köster, München) lässt tief blicken und gibt Anlass zu weitreichenden Überlegungen. Der durch den Begriff »Wirtschaftsethik« intendierte reale Gegenstand umfasst a) die tatsächlichen Gesinnungen (Einstellungen und Haltungen, also das Ethos) sowohl aller einzelnen Partizipanten der wirtschaftlichen Interaktion als auch derjenigen, die auf die Pflege und Entwicklung der wirtschaftlichen Ordnung und Institutionen Einfluss haben, b) gesellschaftlich anerkannte Normen für beides, für die wirtschaftliche Interaktion aller Beteiligten und für die Entwicklung und Pflege der Wirtschaftsordnung, c) Institutionen der Beobachtung und Beurteilung der Erfüllung dieser Normen auf der Ebene a sowie d) Institutionen, welche für die Erfüllung der Normen auf der Ebene a sorgen. Anerkannt wird, dass diese Elemente in der am Anfang der Neuzeit noch weitverbreiteten regional begrenzten Bedarfsdeckungswirtschaft sämtlich realisiert waren. Man stößt auf den seltenen Fall einer Würdigung der positiven Funktion der Normen des »gerechten Preises« und auch des »Zinsverbotes« (gegen arbeitsloses Einkommen und gegen eine Kapitalisierung der Zeit, die zwar dem Menschen gewährt ist, aber ihm nicht gehört, sondern allein Gott) unter den wirtschaftlichen Bedingungen der damaligen Situation. Fakt ist, dass die mit dem Beginn der Neuzeit einsetzende zunehmende Marktintegration zunächst eine Besinnung auf den »natürlichen« Charakter dieses marktorientierten Wirtschaftens einsetzt, mit ethisch rechtfertigender Wirkung. Eingeschlossen ist die Neubestimmung des »gerechten Preises« als des am Markt herausgebildeten Preises (so schon die spanische jesuitische Scholastik: Molina). Mit der Anerkennung des > »Eigennutzes« als des Motors für die Verbreitung des marktorientierten, kapitalmaximierenden Wirtschaftens kommt es dann weiterhin zur Besinnung auf den ethischen Charakter dieses handlungssteuernden Impulses; seine ethische Rechtfertigung erfolgt – zunächst durchaus im Auftrag der (von ihm getrieben soziale Macht aquirierenden) bürgerlichen Kreise – schon zu Be­ginn des 15. und 16. Jh.s unter Hinweis auf seinen sozialen Nutzen. 5 Offen bleibt damit natürlich die Frage, wodurch und wie der Eigennutz der beteiligten Akteure jeweils inhaltlich bestimmt und somit darüber entschieden wird, was die wirtschaftlichen Akteure als ihr wahres, und sie daher effektiv beherrschendes Selbstinteresse verfolgen. Der Artikel hält (wiederum: seltener Fall) die präzis belegte wirtschaftsgeschichtliche Erfahrung fest, dass sich diese inhaltliche Bestimmung des das Wirtschaftshandeln im Einzelfall jeweils steuernden Selbstinteresses jedenfalls nicht als eine überall gleiche, »natürliche« ergibt, sondern Gegenstand von gezielten Er­ziehungsmaßnahmen wird (14, 1153). Dies ist, soweit ich sehe, in den Artikeln des Fachgebiets Wirtschaft die einzige Stelle, an der thematisiert und sichtbar wird, dass es auch eine tragende Abhängigkeit des realen Wirtschaftens von der geschichtlichen Entwicklung der Bildung und der religiösen Kultur geben könnte. Wobei umgekehrt signifikant ist, dass die Art von »Bildung«, die hier ins Spiel kommt (nämlich: Bildung der affektiven Strebensrichtung im Personzentrum), für den Schlüsselartikel des Fachgebiets > »Bil dung« keine Rolle spielt (> »Affekt« ist – typisch – Thema ausschließlich des Fachgebiets Literatur, Kunst, Musik; > »Gefühl« wird– ebenso typisch – im Fachgebiet Religion thematisch; und jedenfalls nicht mehr als Gegenstand der > »Ethik«: etwa als struktureller Kern des persönlichen Ethos; auch unter > »Tugend« wird das affektive Streben und seine Grundrichtung nicht als Entscheidungsort zwischen Sittlichkeit und Unsittlichkeit thematisch, sondern nur als Gegenstand des Beherrschtwerdens durch die Vernunft).
Der nach- und mitdenkende Benutzer wird sich jedoch an die anderweitigen Hinweise auf das in der neuzeitlichen »Bildung« verbreitende veränderte Bewusstsein von Zeit (als dem Menschen zur Verfügung stehend) und Geschichte (als durch keinen eschatischen Horizont mehr begrenzte ins Unendliche offene Zukunft: > »Ge­schichtsbewußtsein«) erinnern, die als solche wesentliche Mo­mente von internalisierten und strebensbestimmenden (religiösen oder philosophischen) Weltanschauungen sind. Und er wird sich fragen, ob die klassische – auf M. Weber und W. Sombart zurückgehende – Vermutung, dass es de facto lebensbestimmende weltanschauliche (religiöse bzw. philosophische) Globalüberzeugungen sind, die das effektive Selbstinteresse der Menschen inhaltlich be­stimmen und damit auch den realen Grund für die basale Orientierung und Motivierung seines wirtschaftlichen Handelns bilden, in Wahrheit obsolet ist oder sich nicht doch durch eingehendere historische Forschung bestätigen ließe – gerade für die Epoche der Neuzeit und den sich in ihr vollziehenden Wandel zu derjenigen Wirtschaftsordnung, die dann die »Moderne« beherrscht und prägt.
Es gehört zum Reiz der EdN, dass das lockere Nebeneinander der Fachgebiete und ihrer Gegenstände dem Benutzer zwar – wie oben gezeigt – den starken Eindruck einer sie verbindenden durchgehenden Wechselbedingung vermittelt, diese aber, wie es in einer ersten Kontextualisierung etablierter Einzelfächer nicht anders möglich und zu erwarten ist, nicht durchgehend explizit macht und so den Benutzer zu eigenen Fragen und Hypothesen anregt.
Gelegentlich werden die Fragen auch zu Bedenken – so angesichts der erstaunlichen Tatsache, dass »Philosophie« und »Ge­schichte« dem Fachgebiet »Bildung« zugewiesen, gleichzeitig aber in der Fachgebietsaufteilung »Wissenschaft« nur als »Naturwissenschaft« auftritt. Zwar machen wichtige Artikel des Fachgebiets »Bildung etc.« deutlich, dass die Neuzeit (gerade im Unterschied zu den Einseitigkeiten des Diskurses in der neuesten Moderne) als Wissen im emphatischen Sinne gerade nicht nur das aus dem theoriegeleiteten Experiment stammende Wissen über die chemischen und physikalischen (und schließlich auch biotischen) Prozesse verstand, sondern als zu diesem System des Wissens hinzugehörig und in seiner institutionellen Pflege, Tradition und Erweiterung in Schulen, Universitäten und Akademien unverzichtbar explizit auch das aus der Arbeit des Begriffs stammende (und in diesem formalen Sinne »philosophische«) Wissen über die universale, also kategoriale, Verfassung des für uns und unseresgleichen erkennbaren Realen angesehen hat und ebenso das aus der Erforschung der Geschichte stammende geschichtliche Wissen über das Gewordensein des menschlichen Zusammenlebens und seine Regeln (etwa: > »Geisteswissenschaft«, > »Geschichtswissenschaft«, > »Rechtswis senschaft«). Gleichwohl zeichnet der Schlüsselartikel > »Wissen« die neuzeitliche Geschichte des Wissens als eine von naturwissenschaftlichen »Wissensidealen« beherrschte Entwicklung hin zum Wissen der »positiven Wissenschaften«. Der Artikel > »Wissenschaft« benennt lediglich Philosophie und Geschichtswissenschaft als zugehörig, ohne jedoch den geringsten Einblick in das neuzeitliche Werden des Begriffs »Wissenschaft« und seinen am Ende der Epoche erreichten komplexen Gehalt zu liefern. Der Artikel »Wissenschaftsorganisation« ist, inspiriert von einschlägigen heutigen Debatten, auf der Suche nach Vorläufern von allem, was heute »Organisation« von Wissen – verstanden als ein Bestand von hantierbarem »Gewußten« – heißt: »Wissensorganisation meint somit die externe Wissensgenese, die Formate, die Medien, Kommunikation, Apparate und Verarbeitung sowie die Institutionen des Wissens.« > »Wissensgesellschaft« ist dann mit der »sozialen Umsetzung des Wissens« beschäftigt. Diese letztgenannten Artikel sind von einer Rede von »Wissen« geleitet, das aus dem Jargon heutiger Wissenspolitik stammt, sie durchkämmen die Überlieferung nach Vorformen des Heutigen, gewähren aber über den Eigensinn und die Komplexität des Strebens nach Wissen, seiner Pflege, seiner Diskussion und des Umgangs mit ihm in der guten alten Neuzeit keinerlei Aufschluss. Sie sind ein Muster desjenigen Umgangs mit Geschichte, der im Ansatz vermeidet, den Blick in die Geschichte zum kritischen Blick in den Spiegel werden zu lassen – zur kritischen Prüfung, ob wenigstens das schon einmal erreichte Niveau erhalten ist (ohne das ist kein Fortschritt denkbar und real). – So viel zur Kontextualisierung.


IV.


Der Benutzer der EdN wird aber auch noch zu einer weiteren Frage angeregt: Wo bekommt er das heutige Fach »neuere Geschichte« selbst, als dessen Bestandsaufnahme sich die EdN ja versteht, zu Gesicht? Im Gesamtkomplex der kontextualisierten Fachgebiete? Steht es unsichtbar hinter bzw. neben diesen Fachgebieten? Oder begegnet es dem Benutzer in einem dieser Gebiete unter anderem Namen? Da die jeweils vier Fachgebiete auf den universitären Ort ihrer etablierten Pflege verweisen und da die Staatengeschichte ein klassischer und nicht zu verabschiedender Gegenstand der Ge­schichtswissenschaft ist, ist sicher, dass uns dieses Fach jedenfalls im Fachgebiet 1 (Staat und politische Herrschaft) begegnet. Aber nicht nur da. Es begegnet dem Benutzer implizit auch in der historischen Betrachtung geschichtswissenschaftsrelevanter Sachverhalte in den Artikeln > »Geschichte«, > »Geschichtswissenschaft«, > »Geschichtsbild«, > »Geschichtsbewußtseins«, > »Historik«, > »His­-toriker«, > »Historiographie«, > »Historische Methode«, > »Historismus«, > »Objektivität«, > »Weltgeschichte« – jedenfalls dann, wenn das Selbstbewusstsein, das Gegenstands- und das Methodenbewusstsein der Geschichtswissenschaft, also auch ihrer Teildisziplin »neuer Geschichte«, heute (in der Moderne), nicht zurückgefallen ist hinter das in der Neuzeit erreichte Niveau. Und ebenso dürfte es das Fach »neuere Geschichte« sein, aus dem die methodischen Grundregeln des Gesamtwerks (Vorwort: 1, VIIb ff.) stammen sowie die Bestimmung der den übrigen Fachgebieten vorgegebenen Epochengrenzen (dazu > »Neuzeit«).
Da Geschichtswissenschaft in ihrem Selbst- und Gegenstandsbewusstsein nicht hinter das in der Neuzeit Erreichte zurückgefallen ist (der Rezensent geht davon aus), gelten für sie auch heute noch zwei Grundsätze, die sich gegenseitig interpretieren.
Erster Grundsatz: »Jede Geschichtsbetrachtung hat sich in letzter Konsequenz in eine universale Perspektive einzuordnen« (4, 583). Das gilt, wenn man mit variablen inhaltlichen Bestimmungen der »einen universalen Perspektive« rechnet, nicht nur für die theologische und philosophische Geschichtsbetrachtung, sondern gerade auch für die gegenwärtige moderne Geschichtsbetrachtung, die jede regionale Geschichte versteht als eine de facto in die Weltgeschichte, verstanden als die Einheit der globalen Interaktion aller regionalen Welten, also auch Europas mit allen außereuropäischen Welten, eingebettete (14, 847–850). Dabei ist mit dem in der Moderne festgehaltenen neuzeitlichen Bewusstsein von der Offenheit der innerweltlichen Geschichte (4, 594) auch die ganze Tiefe der Vergangenheit sowie die unbeschränkte Offenheit der Zukunft dieser globalen Geschichte des »Weltsystems« (15, 880 ff.) als realer Gegenstand der Geschichtswissenschaft anzuerkennen. Was – nota bene – nicht einschließt, mit irgendeinem theologisch oder philosophisch erkennbaren festgelegten Verlaufsschema dieser einen Geschichte des Weltsystems zu rechnen, etwa im Sinne irgendeines Fortschritts-, Verfalls- oder Zyklenschemas (4, 604 ff. 609 ff.), sondern die Offenheit für die Abfolge unvorhersehbar kontingenter Konjunkturen erlaubt.
Zweiter Grundsatz: »Der Begriff (sc. der Objektivität [im Sinne eines Bezogenseins auf Reales, das vom einzelnen Menschen und seinen Akten unabhängig, weil ihm zu erkennen vorgegeben ist]) ist für die Geschichtswissenschaft unverzichtbar, da ohne ihn eine Trennung zwischen einer auf historischer Wirklichkeit (Faktizi-tät) zielenden Historiographie und einer auf die Vergangenheit pro­jizierten Fiktion (z. B. im historischen Roman) unmöglich ist« (9, 291).
An diesen zweiten Grundsatz knüpft sich die Frage, welche Sachverhalte das objektiv Reale sind, welches der Geschichtswissenschaft vorgegeben ist und ihre eigene Objektivität ausmacht. Darauf geben die methodischen Grundsätze im Vorwort der Enzyklopädie eine Antwort. Sie stellen die Regel auf, in den Artikeln sowohl die realen geschichtlichen Ereignisse als auch die Stimme der Zeugnisse von diesen Ereignissen wie dann auch die ihre Auffassung leitende Sicht des gegenwärtigen Historikers zur Sprache zu bringen (1, VIIIa f.). Das schließt im Blick auf die Frage nach dem der Geschichtsschreibung vorgegebenen Realen aus, dass dieses auf die physische Selbständigkeit und Beschaffenheit der Quellen und Monumente beschränkt ist. Vielmehr schließt das objektiv Reale, auf das die Geschichtsbetrachtung bezogen ist und das ihre eigene Objektivität ermöglicht, mit den realen Quellen und Dokumenten zugleich auch das durch sie belegte oder dargestellte geschichtliche, also erinnerte und erinnerbare, reale Geschehen ein. Daher kann und soll der Historiker und die Historiographie über das reale Geschehen und die es bezeugenden Quellen und Monumente Auskunft geben. Über die seine Auffassung von beidem leitende eigene Sicht kann er angemessen Auskunft geben, weil und sofern auch diese ihm zu verstehen vorgegeben ist – unbeschadet der Tatsache, dass sie ihm durch eigene Reflexionsarbeit zuteil geworden ist. Dieses Programm schließt ein, dass für die Geschichtsbetrachtung und -darstellung zweierlei zugleich konstitutiv und wesentlich ist: einerseits die Auffassungsaktivität des Historikers, die stets relativ ist auf den objektiven Standpunkt des Historikers in der gemeinsamen Welt und auf seine persönlichen Auffassungsvoraussetzungen, aber zugleich andererseits auch das Bezogensein dieser seiner Auffassungsaktivität auf und ihr Bestimmtsein durch das ihm zu verstehen vorgegebene Reale der Quellen und Monu­mente und des Geschehens, das sie bezeugen. Objektiv ist der Historiker und die Historiographie nicht, weil er nicht selbst auffassend und darstellend tätig und seine Darstellung nicht perspektivisch und nicht voraussetzungsbedingt wäre (beides ist unmöglich), sondern objektiv (und nicht willkürliche Projektion) ist sie, weil sie faktisch auf in sich selbst bestimmtes Reales bezogen und zur Angemessenheit ihm gegenüber entschlossen ist, also auch fähig und bereit, sich durch ein deutlicheres Präsentwerden dieses vorgegebenen Realen korrigieren zu lassen.
Alle diese Implikationen von geschichtswissenschaftlicher Ob­jektivität gelten für alles, was von der Geschichtswissenschaft als real behauptet wird. Sie gelten also auf jeden Fall für die Behauptung der realen Globalgeschichte. Diese Behauptung ist objektiv, weil sie auf ein zu verstehen vorgegebenes Reales bezogen ist und dieses in seiner Eigenbestimmtheit zu erfassen intendiert (also einer Intention folgt, die durch sich selbst ausschließt, dass sie anders als in langfristiger Detail- und Teamarbeit realisiert werden könnte). Objektiv ist aber auch die Behauptung, dass in der Globalgeschichte des Weltsystems verschiedene regionale Welten inter­agieren. Das heißt, diese verschiedenen Welten sind so vorgegeben, dass sie in ihrer jeweiligen faktischen Eigenbestimmtheit und Unterschiedlichkeit als Interaktionspartner erfasst werden können.
Dies vorausgesetzt gewinnt dann für die EdN die Frage fundamentale Bedeutung, ob auch die für ihre Gesamtanlage grundlegende Annahme von so etwas wie einer geschichtlichen Epoche objektiv, also auf ein in sich selbst bestimmtes erkennbares Reales bezogen ist und ob die speziellere Annahme einer Epoche europä­ische Neuzeit objektiv, also auf Reales in der Geschichte bezogen und daher auch auf ihre Angemessenheit gegenüber diesem Realen überprüfbar ist.
Hierzu finden sich nun zahlreiche Passagen, die man als Be­hauptung der Nichtobjektivität der Rede von Epochen überhaupt und daher auch der Nichtobjektivität der Rede von der »Epoche der europäischen Neuzeit« verstehen könnte: Diese Rede, heißt es, sei lediglich das Resultat einer »Interpretation«, welche in dem Kontinuum des Geschichtsprozesses durch interpretierende Eingriffe allererst Bestimmtheit und Ordnung setzt (etwa: VIIIb; IXb; Xb; 3,379; 5, 536; 9,158). Aber diese Aufweichung des Objektivitätsanspruchs der Rede von der »Epoche der europäischen Neuzeit« ist unnötig, falsch und daher auch gefährlich. Sie ist unnötig, weil – wie soeben gesehen – die Anerkennung der Epochenauffassung als notwendig bedingt durch eine perspektivische und voraussetzungsgebundene subjektive Tätigkeit der Historiker keineswegs ausschließt, dass diese Tätigkeit auf ein zu erkennen vorgegebenes Reales

Es sind offenbar für das Erste die realen überdauernden Bedingungen des Zusammenlebens von Menschen als innerweltlich-leibhafter Personen und für das Zweite die realen überdauernden Bedingungen von Weisen des menschlichen Zusammenlebens in Regionen, für die charakteristisch ist, dass sowohl innerhalb dieses regionalen Zusammenlebens jeweils eigentümliche > »Ordnungen« des Interagierens real sind als auch zwischen den verschiedenen regionalen Gebilden des Zusammenlebens (»Welten«) – Ordnungen des Interagierens, die als solche (eben als Ordnungen) nur als (syn- und diachron) mehr oder weniger übergreifend dauernde real sein können und sind. Dieser für das Zusammenleben von Menschen wesentliche Charakter der jeweiligen Ordnungen (wo­bei es sich nota bene um Ordnungen des Zu­sam­menlebens von Personen handelt, also nicht um die Ordnung von Herden, sondern um die Ordnung von Gesellschaften) verleiht dem Prozess des menschlichen Zusammenlebens den realen Charakter eines Prozesses des Werdens in Ordnungen, innerhalb dessen wiederum syn- und diachron mehr oder weniger übergreifende Ordnungen werden, die als derart mehr order weniger weitreichend dauernde ihrerseits reale Prozessidentitäten stiften. Somit ist es nicht nur möglich, sondern erforderlich, dass die geschichtswissenschaft­liche Betrachtung von > »Geschichte« mit realen Prozessidentitäten innerhalb der realen Identität der menschlichen Geschichte fragt. Und nach welchen Arten von realen Prozessidentitäten? Nun eben nach denen, welche aufgrund der dauernden conditio humana, die die Identität der Globalgeschichte trägt, für die interaktionelle, und das heißt eben: in Ordnungen verlaufende, Bewältigung der wesentlichen Aufgaben des Zusammenlebens unverzichtbar sind.
Die EdN beweist, dass und wie erfolgreich die Geschichtswissenschaften ebendies tun, indem sie nach der Identität von Ordnungen der Herrschens, also dem Werden, der Dauer, der Entwicklung und dem Enden von Staaten fragen, nach der Identität von Ordnungen des Wirtschaftens, nach der Identität von Ordnungen der Kommunikation, der Tradierung und Erweiterung von Bildung (einschließlich Religion/Weltanschauung und jeder Art von Wissen). Die EdN beweist, dass die Koexistenz und durchgehende Interdependenz dieser aufgabenspezifischen Ordnungen ein in der Geschichte vorgegebenes Reales ist und als solches angemessen erkennbar (wenn auch – wie oben bemerkt – noch nicht durchgehend erkannt). Und damit lässt die EdN auch schon de facto erkennen, dass Epochen in der Geschichte selbst real sind und worin dieses Reale besteht: Epochen sind in der Geschichte real als die jeweilige reale Gesamtordnung der Wechselwirkung zwischen den Ordnungen der wesentlichen Funktionsbereiche eines regionalen Zusammenlebens (offenbar – durch die EdN insgesamt erwiesen – immer zumindest des Herrschens, des Wirtschaftens und der Kommunikation von Bildung [einschließlich von Religion/Weltanschauung und jeder Art von Wissen]). Diese Gesamtordnungen der Interdependenz zwischen den Funktionsbereichsordnungen entstehen durch Veränderungen in den Ordnungen der Funktionsbereiche (Veränderungen, die die bisher jeweils reale Gesamtordnung auflösen), sie erhalten sich als überdauernde Bedingungen der Interaktion in allen einzelnen Funktionsordnungen und ihren Teilordnungen sowie in den durch sie bedingten Ordnungen der Lebenswelt und ihres Alltags, und sie gehen nach mehr oder weniger langer Dauer schließlich wiederum aufgrund wirksamer Veränderungen in den Funktionsbereichsordnungen selbst in andere Gesamtordnungen der Interaktion zwischen den Funktionsbereichsordnungen über. Epochen dieser Art sind in der Geschichte real, und die Geschichtswissenschaft ist aufgefordert, sie in ihrer Eigenart angemessen zu erkennen, d. h. ihre Grenzen (Beginn und Ende) angemessen zu bestimmen.
Unter diesem Gesichtspunkt kann der Rezensent den in der EdN behaupteten Grenzen der Epoche der europäischen Neuzeit nur uneingeschränkt zustimmen: Die Epoche beginnt, als im bisherigen Kampf zwischen den Trägern und Institutionen der Funktionsordnung Bildung (Religion/Weltanschauung und alle Arten von Wissen) und Herrschaft sich durch Veränderungen in beiden die Schale eindeutig zugunsten der Letzteren neigt (das ist in der Tat spätestens seit der Mitte des 15. Jh.s der Fall), und sie endet in dem Moment, in welchem die in der Epoche der Vorherrschaft des Systems politische Herrschaft zu wachsender Effizienz und Dynamik erstarkte Ordnung des kapitalistischen Wirtschaftens ihre nun errungene Dominanz in der Gesamtordnung der Interdependenz der Funktionsordnungen offen manifestiert (was gerade noch nicht in der ersten, wohl aber in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s der Fall ist). Was wiederum heißt: Die »Moderne« im Sinne der EdN ist diejenige Epoche der europäischen Geschichte, in der die europäische Welt von den Belangen des Funktionssystems Wirtschaft beherrscht wird und in deren jüngster, spätestens seit 2007 angebrochenen Phase die Herrschaft des Geldes offenbare Realität geworden ist: Weitestreichende politische Entscheidungen werden im Schlepptau einer Währungsrettung vollzogen. 6
Fazit: Die heutige Geschichtswissenschaft könnte sich uneingeschränkt zur Realität von Epochen und die heutige Teildisziplin »neuere europäische Geschichte« könnte sich uneingeschränkt zur Realität der Epoche »europäische Neuzeit« bekennen, wenn sie an dem zentralen Wahrheitsmoment in der Bestimmung des Gegenstandes der Geschichtsforschung durch die Klassiker der neuzeitlichen Universalgeschichtsschreibung – von Voltaire über Vico, Herder und Schleiermacher bis Droysen (die in den einschlägigen Artikeln pointiert protokolliert werden) – festhält: dass eben die reale Sozialnatur der Menschen, die überdauernden Strukturbedingungen des menschlichen Zusammenlebens der reale Möglichkeitsraum sind, innerhalb dessen sich alle möglichen Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens bewegen und daher auch die Abfolge der Variationen der schon real gewordenen Ordnungen. Es stimmt zuversichtlich, dass in der EdN vielerorts (gerade auch in der wegweisenden »Schlußbetrachtung«) der Gedanke auftaucht, der Leitfaden zu einer nicht willkürlichen Erfassung des in der Geschichte Realen sei die Orientierung an »grundlegenden an-thropologischen Gegebenheiten«, also an Grundstrukturen des Menschseins (etwa: 4, 580; 15, 935.936.952.1055.1076).
Diese Orientierung an dem Realen der Geschichte ermöglicht auch einen ganz gelassenen Umgang mit der in den Fachgebieten der EdN und ihren Artikeln immer wieder auftauchenden Frage nach dem »europäischen Sonderweg«: Es ist eben eine globalgeschichtliche Realität, dass just von dem in der europäischen Neuzeit erstarkten Staatensystem Europas eine Expansion ausging, die zu einer jahrhundertelangen und erst in der Moderne ihre Spitze erreichenden zutiefst asymmetrischen Ordnung der Interaktion mit anderen Welten geführt hat, die in der bisher bekannten Globalgeschichte nicht seinesgleichen hat. Wenn dieses Faktum anerkannt ist, kann nach den Möglichkeitsbedingungen dieses Vorgangs in der europäischen Welt selber und in den anderen Welten gefragt und schließlich auch die Frage gestellt und irgendwie be­antwortet werden, wie diese Epoche der Globalgeschichte zu »würdigen« ist.
Gesamtbeurteilung aus der Sicht eines Theologen: Was im Vorwort der EdN vorgreifend behauptet wird – »Unter methodischem Gesichtspunkt resultiert sie nicht aus dem bloßen Sammeln und Aneinanderreihen von Wissensbeständen, sondern folgt einem theoretisch und sachlich begründeten Gesamtkonzept neuzeitlicher Geschichte.« –, ist in den 15 Textbänden glänzend eingelöst. Dass das leitende »Gesamtkonzept neuzeitlicher Geschichte« ein lockeres, nicht überanstrengtes, sondern einfach aus der Fruchtbarmachung einer entschlossenen »Kontextualisierung« etablierter Geschichtsforschung (ihrer methodischen Standards, ihrer Detailforschungen und ihrer gesicherten Ergebnisse) in allen be­teiligten Fakultäten folgt, muss ebenfalls als Stärke gewürdigt werden. Dass die Epoche der europäischen Neuzeit ein reales Ganzes ist, dass sie durchgehend interdependente Aspekte (eben die Ge­schichte ihres Herrschaftssystems, ihrer Wirtschaftsordnung und ihre Bildungssystems hat), dass die Phänomene in jedem dieser Bereiche nur aus dieser Interdependenz mit allen anderen verstanden werden können – dies alles kann unter Verweis auf die EdN als Fakt behauptet werden.
Und unter Verweis auf die EdN kann in Zukunft ebenso als Fakt be­hauptet werden, dass der erreichte Stand der Forschung be­stimmte Folgefragen aufwirft und welcher Art diese Fragen sind, deren Relevanz sich nicht einfach aus persönlichen Interessen, sondern aus dem Stand der Forschung ergibt. Diese im erreichten Stand der geschichtswissenschaftlichen Forschung begründeten Fragen betreffen natürlich zum erheblichen Teil weiter zu klärende Details – aber eben nicht nur. Vielmehr betreffen sie auch weitreichende Grundfragen wie die nach den Triebkräften in den faktisch vollzogenen langfristigen Veränderungen der Ordnungen oder die nach der Qualität der vollzogenen Veränderungen. Und schließlich beweist die EdN auch, dass die alten Fragen nach den Grundannahmen über das Wesen der realen Geschichte, die die Geschichtsbetrachtung entweder explizit leiten oder aber implizit beherrschen, nicht müßige und unnütze Spekulation sind, sondern durch den »state of the art« selbst aufgeworfen werden. Mit all dem ist die EdN in der Tat geeignet, »einen Beitrag zur historischen Selbstaufklärung unserer Gegenwart leisten« zu können – gerade weil deutlich wird, dass diese Gegenwart nicht mehr die der Neuzeit, sondern die der Moderne ist. Denn damit ist die Frage aufgeworfen, ob diese Moderne die Errungenschaften der europäischen Neuzeiten festhalten und weiterentwickeln will und kann, oder ob sie hinter die Errungenschaften der Neuzeit zurückfällt – was keineswegs außerhalb des Bereichs des Möglichen liegt.
Die möglichen und hoffentlich nicht ausbleibenden Rückwirkungen auf Forschung und Lehre in der Theologie sieht der Rezensent in mehrerem:
Erstens kann ein durch seine Undeutlichkeiten enervierender Dauerdiskurs über die Bedeutung von Neuzeit und Moderne für die Kirchen und die Theologie endlich auf solide geklärte Fundamente gestellt werden.
Zweitens können alle mit der geschichtlichen Gegenwart Kirche und Theologie beschäftigten Teildisziplinen der Theologie – von der Kirchen- und Theologiegeschichte über die Systematische bis zur Praktischen Theologie – sich von dem durch die EdN gebotenen Bild der Epoche der Neuzeit dazu inspirieren und anleiten lassen, nach den konkreten veränderten Grunddimensionen der folgenden Epoche, der »Moderne« zu fragen, durch die alle realen Aufgaben und alle realen (durchaus beschränkten) Wirkungsmöglichkeiten der Arbeit in Kirche und Theologie bestimmt werden. Es könnte deutlich werden, dass jeder Antimodernismus Realitätsverweigerung ist, aber auch, dass ein Eingehen auf die Moderne in etwas anderem zu bestehen hat als in »Modernisierung«, dass vielmehr zumindest die Errungenschaften der Neuzeit zu erhalten sind.
Drittens markiert die EdN auch den sachlichen Schwerpunkt solcher Überlegungen. Er betrifft das konkrete Verständnis von »Bildung«: Fakt ist, dass es in der Neuzeit zu einem Verständnis von Bildung gekommen ist, das einen sachlichen Schwerpunkt im Bereich von Intellekt und gesellschaftlicher Gewandtheit als Be­dingung gesellschaftlichen Aufstiegs hat und seinen institutionellen Schwerpunkt in den Erlebnisräumen von Literatur, Kunst und Musik sowie in der Reflexionsinstitution Philosophie. Fakt ist auch, dass diese Entwicklung sich in der Moderne zugespitzt hat in einem sachlichen Verständnis von Bildung, das den Erwerb von Informationen und technischen Fähigkeiten als Bedingung des Erfolgs am Arbeitsmarkt meint und seine institutionellen Schwerpunkte in den Institutionen der Ausbildung hat. Zu fragen ist jedoch, ob damit überhaupt die ganze Realität von Bildung in der Neuzeit (und auch in der Moderne) erfasst ist. Wurden die kirchlichen Institutionen (insbesondere des öffentlichen und des privaten Kultus) einer Bildung, die seit eh und je (auch konfessionsübergreifend) auf die Innerlichkeit des Herzens, auf die Bildung von handlungsorientierender und -motivierender Affektivität und auf die Breite der Bevölkerung zielte, in der Neuzeit etwa einfach wirkungslos?
Das war sicher nicht der Fall. Wie verhielt (und verhält) sich dann diese Bildung des Herzens zu jener des Verstandes, des Benehmens und des Geschmacks? Besteht zwischen beiden ein einfaches Additions- oder nicht vielmehr ein komplexes Konstitutions- und Bedingungsverhältnis? Welche Institutionen befördern oder erschweren dieses Zusammenspiel? Sind die Bewegungen der ausgehenden Neuzeit und der Moderne verständlich ohne die geschichtlich wirksamen realen Bestände an handlungsorientierender und -motivierender Affektivität? Wie waren sie real beschaffen und in welchen Erlebnisräumen sind sie zustandegekommen?
Viertens schließlich wäre zu hoffen, dass die Vertiefung von Theologen in die EdN Anlass gibt, endlich und definitiv Schluss zu machen mit dem Gegensatz von historischer und systematischer Arbeit. Beide verlangen sich wechselseitig.
Kurzum: Wie jeder Bibliothek eines Theologen eine TRE und eine RGG4 zu wünschen sind, so auch eine EdN. Sie verhilft dem Theologen zu einem Blick über den Tellerrand auf das Ganze des geschichtlichen Lebens, der sein Selbstbewusstsein nur schärfen kann.

Fussnoten:

*) Enzyklopädie der Neuzeit. Gesamtausgabe in 16 Bänden. Hrsg. v. F. Jae­ger. Stuttgart: Metzler 2005–2012. Bd. 1: Abendland – Beleuchtung. 2005. Bd. 2: Beobachtung – Dürre. 2005. Bd. 3: Dynastie – Freundschaftslinien. 2006. Bd. 4: Friede – Gutsherrschaft. 2006. Bd. 5: Gymnasium – Japanhandel. 2007. Bd. 6: Jenseits – Konvikt. 2007. Bd. 7: Konzert – Männlichkeit. 2008. Bd. 8: Manufaktur – Naturgeschichte. 2008. Bd. 9: Naturhaushalt – Physiokratie. 2009. Bd. 10: Physiologie – Religiöses Epos. 2009. Bd. 11: Renaissance – Signatur. 2010. Bd. 12: Silber – Subsidien. 2010. Bd. 13: Subsistenzwirtschaft – Verzweiflung. 2011. Bd. 14: Veteran – Yin-Yang-Symbolik. 2011. Bd. 15: Zadruga – Zyklizität. 2012. Bd. 16: Register: 2012. CCCLVI, 9687 S. m. zahlr. Abb., Ktn. u. Tab. 24,0 x 17,0 cm. Geb. EUR 3198,40. ISBN 978-3-476-01935-6.
1) Der Grundsatz wird gelegentlich glücklich unterlaufen. So z. B. im Artikel »Weltwirtschaftszentren«, der neun von ihnen – Venedig, Lissabon, Sevilla, Antwerpen, Amsterdam, London, Batavia (Jakarta), Kalkutta – in eindrucksvoller Auswahl (interessant, welche Namen nicht auftauchen) skizziert.
2) Dass Graf es weiterhin just als ein solches behandelt und würdigt, ist vor dem Hintergrund seiner eigenen Darlegungen schlicht unverständlich.
3) Dieser vom Rezensenten schon seit den frühen 1990er Jahren vertretenen These stimmt im Ergebnis nun auch Graf zu (11, 538).
4) Wie schon angedeutet, vermutet der Rezensent solche Veränderungen in der Gegenstandswahrnehmung für die Kirchen-, Theologie- und Religionsgeschichte der europäischen Neuzeit, wenn diese Disziplinen sich auf die Epochengrenze in der Mitte des 19 Jh.s einlassen.
5) R. Köster benennt hier den Ansatzpunkt für die Antwort auf das, was F. W. Graf noch eine »spannende« Frage nennt: Wie es nämlich in Mandevilles Bienenfabel zu einer positiven Würdigung von »Lastern« kommen konnte.
6) Der Rezensent findet durch die Bestimmung der Epochengrenzen in der EdN eigene, schon in den frühen 1990er Jahren vorgetragene Einsichten bestätigt: E. Herms, Kirche in der Zeit, in: Ders., Kirche für die Welt, Tübingen 1995, 231–317.