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Ausgabe:

April/1996

Spalte:

329–338

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Gérard Siegwalt

Titel/Untertitel:

Christus –­ Hindernis oder Brücke? Im Gespräch mit dem Judentum und dem Islam Peter Heidrich zum 65. Geburtstag

Es geht um den Dialog zwischen den drei abrahamitischen, den drei großen monotheistischen Religionen. Ich gehe vom Christentum aus, auch wenn das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus gerade ein Hindernis im Dialog mit dem Judentum und dem Islam darstellt. Das Problem ist doppelter Art:

Zunächst ist es eines, das sich seitens der christlichen Kirche dem Judentum und dem Islam gegenüber stellt. Denn so sehr der Islam Jesus als Propheten anerkennt und so sehr mehrere jüdische Theologen unserer Zeit Jesus ebenfalls als Propheten anzusehen lehren, so bekennen sie ihn beide doch nicht als Christus, als Messias im Sinne des Neuen Testaments. (Ich beziehe mich hierbei nicht auf die sog. messianischen Juden, die einen Sonderfall darstellen.)

Das Christusbekenntnis der christlichen Kirche stellt den beiden nichtchristlichen Religionen gegenüber insofern ein Hindernis dar, als es in der Kirche das Bewußtsein erzeugt hat, ein "Plus", ein Mehr zu haben und so Überlegenheitsgefühle weckte. Muß man aber nicht sagen, daß die Behauptung der Überlegenheit an sich schon den Charakter der Gnadenreligion, die der christliche Glaube ja doch ist, verleugnet ­ schenkt denn Gnade Überlegenheit? Umgekehrt jedoch empfinden sich das Judentum und der Islam ­ gerade wegen des Überlegenheitsbewußtseins der Kirche ­ nun ihrerseits überlegen. Das Hindernis besteht also darin, daß entgegengesetzte absolutistische Prätentionen aufeinanderstoßen.

Sodann ist das Christusbekenntnis natürlich ein Problem für Juden und Muslime aufgrund der Aussage der Menschwerdung des ewigen Gottessohnes in der Person Jesu von Nazareth, also aufgrund der trinitarischen Aussage. Das trinitarische Bekenntnis verstößt nach jüdischem und islamischem Verständnis gegen die Behauptung des Monotheismus. Dazu kommt von jüdischer Seite noch der Einwand, daß das Christusbekenntnis im Widerspruch steht zum offensichtlichen Nicht-Eintreten des messianischen Zeitalters, so wie es das Judentum versteht.

Es geht hier weder darum, die theologische Aussage des Christusbekenntnisses, noch darum, das Überlegenheitsgefühl des Christentums gegenüber dem des Judentums und dem des Islam kritisch zu verhandeln. Das führt uns nämlich nicht weiter angesichts des Problems ­ um nicht zu sagen angesichts des Spottes, die die drei abrahamitischen Religionen für die übrige Welt bedeuten. Denn zusätzlich zu den mancherlei Gegensätzen und Krankheiten, an denen die Welt sowieso schon leidet, ist sie ja außerdem gespalten und krank an den Gegensätzen, die jede dieser Religionen für sich und gegen die anderen beiden ausgebildet hat, krank eben an dem Überlegenheitsgefühl, das gleichzeitig ihre Trennung voneinander begründet.

Wir gehen in unserer Überlegung von der Gegebenheit dieser Religionen aus. Diese Gegebenheit ist ein schwerwiegendes kulturelles, soziales und politisches Faktum, nicht nur in der ganzen Welt überhaupt, sondern auch innerhalb Europas und unserer eigenen Länder. Unsere Länder sind ebenso wie unsere Welt mehr und mehr multikulturell und multireligiös.

Die Frage ist in knapper Form diese: Wird die Welt, werden unsere Länder im besonderen wegen dieses Phänomens der Multikulturalität und der Multireligiosität auseinanderbrechen? Gehen wir einer allgemeinen Libanisierung, einer Balkanisierung entgegen? Diese Frage stellt sich nicht nur wegen der zentrifugalen Kräfte der Ethnien, der sozialen Klassen, der wirtschaftlichen und politischen Interessen, sondern auch wegen der Religionen ­ wobei ich mich auf die abrahamitischen Religionen beschränke. Angesichts der Tendenz zur sozialen Desintegration steht der soziale Zusammenhalt dadurch auf dem Spiel.

Gewiß kann schon das Bedenken dessen, was da auf dem Spiel steht, dem christologischen Thema, um das es zwischen Kirche und dem Judentum ebenso wie dem Islam geht, eine neue Dimension verleihen. Wir stellen ja die christologische Frage nicht isoliert in einem Elfenbeinturm, sondern mitten in einer zerstrittenen Welt, zu deren Spaltungen wir alle beigetragen haben und noch beitragen, die Kirche ebenso wie die beiden anderen abrahamitischen Religionen.

So hat es den Antisemitismus bis hin zur Vernichtung der Juden in den Konzentrationslagern der Nazizeit gegeben; es gibt heute den palästinensischen Konflikt mit dem Staat Israel; es gibt den fanatischen Islam, es gibt den christlichen Integrismus.

Auschwitz hat zu einer Revision der Haltung der Christen gegenüber dem Judentum geführt. Hans Küng sagt mit Recht, daß dieser Wandel nicht durch die Theologie hervorgerufen worden ist, sondern durch geschichtliche und politische Ereignisse, für die Deutschland eine besondere Verantwortung trägt(1). Analog kann man die Frage stellen, ob angesichts der erwähnten Entartungen die drei abrahamitischen Religionen sich zu einer Metanoia führen zu lassen bereit sind, die das Selbstverständnis einer jeden erneuert. Die christliche Kirche kann nicht erwarten, daß das Judentum und der Islam sich ändern, wenn sie sich nicht selbst zuerst ändert. In Bezug auf das christologische Problem ist die Frage für die Kirche folgende: Hat das Glaubensbekenntnis zu Jesus Christus als dem Mensch gewordenen Gottessohn zuerst für die Kirche selbst und dann für ihre Beziehung zum Judentum und zum Islam therapeutische und integrative Kraft? Fest steht jedenfalls, wie Küng in Projekt Weltethos(2) sagt, daß es nicht nur kein Überleben ohne Weltethos gibt, sondern auch keinen Weltfrieden ohne Religionsfrieden und keinen Religionsfrieden ohne den Dialog zwischen den Religionen.

Das Thema dieses Vortrags fragt danach, ob der christliche Glaube ­ und dann auch die christliche Kirche ­ einen Beitrag zur Integration der verschiedenen Kulturen und Religionen in unserer Gesellschaft zu leisten vermögen, einen Beitrag zur Gesundung. Aber da ein solcher Beitrag von der eigenen Gesundheit abhängt, ist die Frage zunächst die nach der therapeutischen und integrativen Kraft, die das christliche Glaubensbekenntnis für die Kirche selbst und für ihre Beziehung zum Judentum und zum Islam hat.

Ehe wir auf diese Frage im Einzelnen eingehen, sind drei Voraussetzungen zu bedenken, die darin enthalten sind. Die erste Voraussetzung bezieht sich auf die Legitimität der gestellten Frage. Sie klärt, ob es angemessen ist, den christlichen Glauben als eine therapeutische und integrative Kraft zu verstehen. Dazu drei Hinweise.

Zunächst einige Worte zum Exklusivitätsprinzip, das sich durch die ganze Bibel hindurchzieht: Israel soll sich danach nicht mit den heidnischen Völkern vermischen, sondern soll die Reinheit seiner Erwählung bewahren. Jesus seinerseits sagt, er sei nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt 20,34). Paulus spricht vom Ärgernis des Kreuzes (1Kor 1) und davon, daß Christus nichts gemein hat mit Belial (2Kor 6,14 ff.). Hinweise dieser Art ließen sich ohne weiteres vermehren. Wir wissen, zu welchen Untaten das wörtliche Verständnis solcher Bibelstellen in der Geschichte geführt hat, und zwar schon zur Zeit der Bibel selbst: die Ausmerzung der Kananäer durch Israel etwa, oder die Tötung der Baalspropheten durch Elia. Oder denken wir ­ näher an uns ­ an die Scheiterhaufen der mittelalterlichen Inquisition, an die Verfolgung der "Schwärmer" durch die Lutheraner, an die Hinrichtung von Servet im Genf Calvins. Und dies alles ad maiorem Dei gloriam! Wir sind betroffen angesichts solcher Auswüchse. Sie helfen uns aber erkennen, daß es in der Religion etwas Dämonisches gibt, um mit Paul Tillich zu reden. Da, wo sie sich nämlich absolut setzt, d. h. wo sie ihr Verständnis von Gott absolut setzt, macht sie aus Gott einen Götzen, der dem Menschen zur Verfügung steht. Sie erschafft einen Gott zum Bilde des Menschen. Recht verstanden ist die Exklusivität Gottes jedoch polar auf seine Inklusivität bezogen. Der exklusive Gott, also Gott als Gott, ist der Gott der Liebe, der alle einschließt.

Sodann geht es um die Interpretation der Bibel. Ihre Aussagen sind immer wieder ­ und das fängt schon in der Bibel selber an ­ exklusivistisch mißverstanden worden. Der Exklusivismus ist aber etwas anderes als die Exklusivität, die immer auf Inklusivität bezogen ist. Die biblischen Aussagen müssen von der Mitte der Schrift her gedeutet werden, d. h. also, wie Luther sagt, von dem her, "was Christum treibet". Das ist der Kanon im Kanon. Oder anders ausgedrückt: die Deutung der Bibel muß nach der Analogie des Glaubens geschehen (vgl. Rm 12,6), reformatorisch gesagt: sie muß bezogen sein auf die Rechtfertigung aus Gnaden, durch den Glauben. Jede Deutung der Bibel muß im Sinn der von Paulus geforderten Unterscheidung der Geister (1Kor 12,10; siehe auch 1Jo 4,1) kritisch sein. Denn das Kriterium ihres Verständnisses ist der biblische Gott, der Gott, der sich Israel gegenüber und in Jesus, dem Christus, offenbart hat.

Schließlich ist die biblische Botschaft recht verstanden eine gesunde Botschaft. Als Botschaft vom Heil kann man sie geradezu als "therapeutisch" bezeichnen. So wird sie auch ausdrücklich von den Pastoralbriefen gekennzeichnet, nämlich als eine "gesunde Lehre" oder auch als "gesunder Glaube" (wörtlich: "hygienisch"). Die Gesundheit aber bezieht sich auf die Person, nicht unbedingt auf den Leib oder auf die ­ psychologisch verstandene ­ Seele, auch wenn die Gesundheit der Person gewiß diese oder jene physische oder psychische Schwäche, sofern sie bleibt, von innen her zu verklären vermag.

Die biblische Botschaft ist "gesund" einmal als Botschaft des exklusiven Gottes. Das bedeutet, daß dieser Gott Idole aller Art, und damit unsere Entfremdung, unsere Trennung von ihm, von uns selbst, von unseren Mitmenschen und von unserer Umwelt zunichte macht. Sie ist aber auch "gesund" als Botschaft des inklusiven Gottes, der in, mit und unter dem exklusiven wirkt. Indem er nämlich die Idole als Idole und die Sünde als Sünde bloßstellt, erneuert er, schafft er neu. Als gesunde, therapeutische Botschaft wirkt die biblische Botschaft darum zugleich auch integrativ, wenn auch durch einen Bruch hindurch, durch die Auflösung von dem, was entstellt, destruktiv und somit dämonisch ist. Gottes Heiliger Geist hebt die Mauer zwischen Juden und Griechen, zwischen Mann und Frau, zwischen reich und arm auf, weil er ein Geist der Gemeinschaft, der koinonia ist. Soweit die Hinweise zur Frage der Legitimität, den christlichen Glauben als eine therapeutische und integrative Kraft zu verstehen.

Die zweite Voraussetzung, die ich mache, ist die, daß wir an die biblische Botschaft immer von unseren Fragen, so wie sie sich in unserem persönlichen, aber auch wie sie sich im kollektiven Erleben stellen, herangehen.

Im Blick auf die Beziehung der Kirche zum Judentum haben wir schon darauf hingewiesen, daß das tiefe Erschrecken über die von Hitler ins Werk gesetzte "Endlösung" einen Wandel zur Folge gehabt hat. Wir wissen heute darum, daß der Genozid an den Juden von einer Kirche, einer Christenheit nicht unmöglich gemacht worden ist, die im Lauf der Jahrhunderte in ihrem Schoß mancherlei Keime des Antijudaismus und des Antisemitismus hat hochkommen lassen.

Was nun die Beziehung der Kirche zum Islam anlangt, so kann die Fragestellung nur die folgende sein: Wie kann die Kirche dazu beitragen, die Fermente der Intoleranz, des gegenseitigen Mißtrauens zu überwinden, die durch weitgehende wechselseitige Ignoranz entstanden sind und begünstigt wurden? Das Schicksal des Libanon und die heutige Situation auf dem Balkan sind reich an schmerzlichen, aber zwingenden Lehren in dieser Hinsicht. Dabei geht es nicht allein um das Überleben unserer Gesellschaften, sondern auch um die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens. Solange sich das Christentum integristisch und exklusivistisch verhält, hat es einem integristischen Islam nichts Positives entgegenzuhalten. Beide Religionen stehen sich dann auf der Ebene eines Kräftevergleichs gegenüber; potentiell befinden sie sich gleichsam in der Situation eines Religionskrieges. Dies ist mitnichten eine nur theoretische Sicht der Dinge. Der Krieg, der Brudermord ist bei einem sich integristisch verstehenden Christentum potentiell mitgegeben. Jedenfalls stellt ein solches Christentum einem integristischen Islam weder eine therapeutische noch eine integrative Alternative gegenüber, die sozialen Desintegrationskräften aller Art entgegenzuwirken vermöchte.

Mit diesen Andeutungen wollte ich darauf aufmerksam machen, daß wir die Fragestellungen, mit denen wir an die biblische Botschaft herantreten, von der gegenwärtigen Lage "diktiert" bekommen. Das Diktat aber ergibt sich aus den Krankheiten und Antinomien, die in den abrahamitischen Religionen gewachsen sind. Kann der christliche Glaube angesichts dieses Tatbestandes dennoch "Heilmittel" sein? Ich möchte im folgenden zeigen, inwiefern die Antwort auf diese Frage "ja" sein könnte.

Meine Argumentationsweise mag einfältig erscheinen. Ich gehe davon aus, daß beide, Botschaft und Situation, sich gegenseitig bedingen. Wenn wir die gegenwärtige Lage und die biblische Botschaft aufeinander beziehen, dann erkennen wir auf der einen Seite das Übel, welches diese Lage kennzeichnet, und auf der anderen Seite das Angebot, das die biblische Botschaft diesem Übel gegenüber bedeutet. Damit aber, daß wir das Übel als solches erkennen, kann es ­ jedenfalls vom Evangelium her ­ ein überwindbares Übel werden.

Die dritte Voraussetzung bezieht sich auf den missionarischen Charakter des Evangeliums und der Kirche als Kirche des Evangeliums. Die Lage, wie sie gerade skizziert wurde, und das Evangelium fordern beileibe nicht dazu auf, den missionarischen Charakter aufzugeben. Sie fordern vielmehr seine Vertiefung und seine Vergegenwärtigung. Die folgenden Ausführungen werden das noch zeigen.

Aber nun zu der oben gestellten Frage. Freilich kann, um das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Mensch gewordenen Gottessohn in seiner Bedeutung und in seinem Gewicht für unsere gegenwärtige Lage zu erweisen, nicht die gesamte Christologie entfaltet werden. Doch ihre wesentliche Grundstruktur muß in den Blick kommen.

Das, worauf es ankommt, ist die Weise unseres Verstehens der Person Christi. Ich unterscheide hier zwei Verstehensweisen: Die eine stützt sich auf den Gedanken der Überlegenheit des Christentums (oder sie wird umgekehrt ihrerseits durch diesen Gedanken gestützt). Dieses Verständnis erweist sich jedoch als zerstörerisch für die biblische Christologie in ihrer Fülle, zerstörerisch aber darum auch im Blick auf die therapeutische und integrative Kraft des christlichen Glaubens. Die andere Verstehensweise hingegen bezieht sich auf die biblische Christologie in ihrer trinitarischen Fülle.

Ich kennzeichne die zuerst genannte Christologie als sektiererisch, legalistisch (gesetzlich) und nicht-trinitarisch. Sie ist gewiß dem Schein nach biblisch, ja, sie gibt sich als streng biblizistisch, auf klare biblische Aussagen gegründet. Davon zwei oder drei Beispiele: Jo 14,6, das Wort des johanneischen Christus: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich"; Apg 4,12: "Es ist in keinem anderen Heil (denn in Christus), ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch welchen wir sollen gerettet werden"; 1Tim 2,5 f.: "Es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus, der sich selber hingegeben hat zu einer Erlösung für alle".

Solche Aussagen können als Waffen gebraucht werden und sind tatsächlich schon oft als solche gebraucht worden, um diejenigen, die das eigene Verständnis nicht teilen, mundtot zu machen. Die, die nicht durch "die enge Pforte " des umrissenen Verständnisses treten, gelten aber als verloren. Es ist leicht zu erkennen, daß dies Verständnis pathogen ist und statt integrative Kräfte zu fördern, also Glauben als Vertrauen, Hoffnung und Liebe, wie es das Evangelium tut, Kräften der Desintegration Vorschub leistet, Mißtrauen und Ressentiment sät und Macht ausübt.

Was nun den nicht-trinitarischen Charakter dieser sektiererischen und gesetzlichen Christologie anlangt, so ist zu sagen: Sie ist deshalb nicht-trinitarisch, weil sie die christologischen Aussagen, die sie aufnimmt und die sie verabsolutiert, gegenüber anderen christologischen Aussagen isoliert; davon soll gleich noch die Rede sein.

Das genannte Verständnis kann von seinem Sektarismus und seinem Legalismus nur durch die volle biblische Christologie geheilt werden, durch eine Christologie, die trinitarisch ist. Für die biblische Christologie in ihrer Fülle sind nun zwei Dinge bedeutsam. (Ich werde erst an zweiter Stelle von ihrem trinitarischen Charakter reden.) Zunächst muß gesagt werden, daß sie doppelpolig ist: Sie hat einen geschichtlichen Pol "unten" und einen ewigen Pol "oben".

Beide Pole sind dialektisch aufeinander bezogen, in welcher Reihenfolge man auch beginnt. Die Glaubenserfahrung der ersten christlichen Gemeinde hat sie vom geschichtlichen, als Christus bekannten Jesus hingeführt zum ewigen Gottessohn. Von da aus kann dann das neutestamentliche Kerygma ­ den umgekehrten Weg gehend ­ Jesus, den Christus der Geschichte, bezeugen als die Menschwerdung des ewigen Gottessohnes. Es verbindet Protologie ­ den ewigen Gottessohn ­, Geschichte ­ Jesus, den geschichtlichen Christus ­ und Eschatologie ­ die Auferstehung Jesu und die Erwartung seiner Parusie mit der vollen Erscheinung des Gottesreiches.

Verweilen wir einen Augenblick bei diesen beiden Polen. Der "obere" oder ewige teilt sich eigentlich, und zwar in einen protologischen und in einen eschatologischen Pol. Man kann insofern sogar von drei Polen in der Christologie reden. Ausgehend vom geschichtlichen Jesus, der als Christus bekannt wird, zeigt sich damit eine doppelte Beziehung; diejenige zum präexistenten (protologischen) Sohn und die zum Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels kommen wird, also zum postexistenten oder eschatologischen Gottessohn.

Die erste Beziehung ­ wir können sie mit dem Johannesprolog als die zwischen dem Mensch gewordenen Logos und dem Schöpferlogos am Anfang kennzeichnen (Jo 1,14; 1,1 ff.) ­ meint die dialektische Einheit von Schöpfung und Erlösung. Der Urheber beider ist der gleiche: der Logos oder der Sohn Gottes (vgl. 1Kor 8,6; Kol 1,13 ff.; Hebr 1,1-3). Der Erlöser ist der Schöpfer, kein anderer. Damit ist gesagt, daß der eine den anderen deutet: der Erlöser deutet den Schöpfer wie umgekehrt der Schöpfer den Erlöser.

Die biblische Soteriologie, die mit der biblischen Christologie gegeben ist, ist auf die biblische Kosmologie bezogen und umgekehrt. Deshalb gilt: Jede Verkündigung, die den Christus Jesus vom Schöpfersein trennt, die also das Heil von der Schöpfung trennt, ist einseitig. Sie läßt den Glauben verarmen, sie ist pathogen und desintegrierend. Entsprechend wirkt, wer das Heil absolut setzt, ohne es auf die Schöpfung zu beziehen, im Sinne der Einengung des Heils. Die von der Kosmologie losgelöste Soteriologie macht nämlich aus dem Menschen einen Gespaltenen, einen Schizophrenen. Eine dialektisch auf die Kosmologie bezogene Soteriologie aber drückt das Heil des Menschen als Geschöpf, in der Fülle seines persönlichen und kollektiven Wesens aus.

Dies ist natürlich keine eindeutig empirisch feststellbare, sondern eine Glaubensaussage. Aber man erkennt leicht den dynamischen oder missionarischen Charakter dieser Aussage für die Empirie. Die biblische Soteriologie macht aus dem erlösten Geschöpf Mensch einen Täter, freilich nicht seines Heils, sondern so, daß er zur Heiligung der Welt beiträgt.

Die zweite Beziehung ­ die zwischen dem geschichtlichen Jesus Christus und dem eschatologischen Gottessohn ­ meint die dialektische Einheit zwischen der Erlösung (von der dialektischen Einheit mit der ersten Schöpfung haben wir gerade gesprochen) und der neuen, eschatologischen Schöpfung, dem neuen Himmel und der neuen Erde, dem offenbaren Reich Gottes. Es handelt sich auch hier um eine dialektische Einheit, nicht um Identität. Die Identität ist schon durch die Wirklichkeit widerlegt. Das sieht die jüdische Kritik zurecht, für die Jesus darum konsequenterweise gerade nicht der Messias ist. Doch übersieht sie, daß es sich bei der besagten Einheit von Erlösung und neuer Schöpfung um eine Glaubensaussage handelt.

Einheit zwischen Erlösung und neuer Schöpfung als dialektische meint die Hinordnung der Erlösung auf das Reich Gottes. Das Reich Gottes ist im Glauben an Christus, den Erlöser, schon antizipiert, vorgegeben.

Mit der dialektischen Einheit zwischen Erlösung und erster Schöpfung ist gegeben, daß die erste Schöpfung in der Erlösung und damit im Glauben an Christus aktualisiert, vergegenwärtigt ist. Mit der dialektischen Einheit zwischen Erlösung und neuer Schöpfung ist gegeben, daß diese durch den Glauben an Christus antizipiert, vorgegeben ist.

Jede Verkündigung des Christus Jesus, die ihn vom Gottesreich trennt, nimmt der biblischen Soteriologie, die mit der Christologie gegeben ist, ihre Hoffnungsdimension und unterbindet die Liebe. Die Liebe aber bringt ­ so die schöne Formulierung von Paul Schütz ­ die Hoffnung unserer Erde nahe. Oder anders gesagt: die Hoffnung des Glaubens ist der Motor der Liebe. Die biblische Christologie, die den geschichtlichen, als Christus bekannten Jesus protologisch auf die Schöpfung und eschatologisch auf die neue Schöpfung bezieht, ist "therapeutisch" und "integrativ" durch ihren Charakter als Christologie des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.

Schon durch ihre dreigliedrige Struktur überwindet die biblische Christologie jede sektiererische und gesetzliche Enge, wenn sie von der Einzigkeit Christi spricht. Seine Einzigkeit ist die des Schöpfer-Erlösers und die des eschatologischen Vollenders. Die "enge Pforte" des Glaubens, als Hinweis darauf, daß der Glaube eine Absage (abrenuntiatio) an die Götzen und somit an die Sünde einschließt, führt hinein in die unendliche Weite der Schöpfung Gottes und seines Endzieles einer neuen Schöpfung, die in, mit und unter der ersten Schöpfung schon anbricht. Dieser dynamische Zeit-Raum, der von der ersten bis zur neuen Schöpfung reicht, steht in Christus für den Glauben offen.

Ich komme nun zur zweiten Kennzeichnung der biblischen Christologie: sie setzt das eben Gesagte voraus und verbindet es mit der trinitarischen Aussage. Diese ist eine Entfaltung der biblischen Christologie. Ich beschränke mich hier auf den Hinweis, daß nach der neutestamentlichen und kirchlichen Bezeugung die Einheit des biblischen Gottes (man denke an das Sch’ma Jisrael, Dt. 6,4) die des Vaters ist, des Vaters, der im Sohn aus sich selbst herausgeht und der das, was er im Sohn schafft ­ die Schöpfung und die Erlösung ­ mit sich verbindet durch den Heiligen Geist. Der Vater ist ­ um mit K. Barth zu reden ­ die transzendente Seinsweise Gottes; er ist als Gott, als der ganz Andere zugleich in Beziehung zu dieser Welt, der Gott also über diese Welt und als solcher der wahre Gott dieser Welt. Gott erweist sich als Gott durch seine "mütterliche" Vaterschaft, dadurch, daß er ein "fruchtbarer" Gott ist, daß er "gebiert". Seine gebärende Vaterschaft kennzeichnet ihn zunächst in sich selber durch die Beziehung, die er zu sich selbst hat. Dies ist die Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn. Aber sie geht auch über das innergöttliche Leben hinaus. D. h. die mütterliche Vaterschaft Gottes bewahrheitet sich durch den Sohn über diesen hinaus; sie erweist sich in der außergöttlichen Frucht, die sie trägt, nämlich in der Schöpfung, in der Welt.

So ist der Sohn Gottes die außerhalb seiner (Gottes) selbst, unserer immanenten Welt zugekehrte Seinsweise; in diesem Sinn ist er die immanente Seinsweise des transzendenten Gottes. Diesen Sachverhalt bezeugen sowohl die Schöpfung als auch die Erlösung, denn die Erlösung ist nichts anderes als die fortgesetzte Schöpfung. Deshalb werden im Neuen Testament beide in ihrer dialektischen Einheit dem ewigen Gottessohn zugeschrieben. Die göttliche Sohnschaft Christi ist der Ursprung der Sohnschaft der durch ihn geschaffenen Menschheit.

Im Alten Testament wird Israel als "Sohn Gottes" bezeichnet. Präziser müßte man sagen: Israel ist Gottes erster Sohn. Damit weisen wir auf die Sonderstellung Israels hin, die an seiner Erwählung hängt und bekommen zugleich die Tatsache in den Blick, daß alle Völker berufen sind, Gottes Söhne zu sein, ein jedes nach seiner Art und alle in gegenseitigem Frieden.

Im Neuen Testament erhält Jesus den Titel "Sohn Gottes". Er ist par excellence der Gesandte des Vaters, der seine Gemeinschaft mit dem Vater durch seinen vollkommenen Gehorsam gegen ihn zeigt. In ihm, dem Sohn, werden Juden und Griechen, Männer und Frauen, Sklaven und Freie zu Söhnen und Töchtern Gottes. Sie sind es, indem sie Gott Abba, Vater, nennen (Rö 8,15). Sie tun dies mit Jesus, dem Christus, und durch ihn und in ihm.

Der Heilige Geist als vinculum amoris (Liebesband), das zwischen dem Vater und dem Sohn besteht (so der Ausdruck Augustins), übersteigt seinerseits die innergöttliche Wirklichkeit. In den opera ad extra trinitatis, d. h. in der Schöpfung und in der Erlösung, ist der Heilige Geist die gegenwärtige (präsente) Seinsweise Gottes. Der Zeitraum, der sich von der ersten Schöpfung bis zur neuen Schöpfung hinzieht und das Werk Gottes durch den Sohn ist, ist eben dieses Werk im Heiligen Geist. Der Spiritus Creator der ersten (siehe Gen 1,2) ist auch der der neuen Schöpfung; er bezeichnet die Gegenwärtigkeit, die Präsenz Gottes. Der Heilige Geist ist als Gott präsent in der Schöpfung und besonders im Menschen.

Er ist Gott in uns; er ist der sich im Sohn offenbarende Vater, der uns durch den Sohn zu sich zieht. Anders gewendet: Er ist Gott in uns als der, der uns in Jesus den Sohn erkennen lehrt und durch den Sohn zum Vater führt. Die Dreifaltigkeit meint also den lebendigen Gott, der in Beziehung zu sich selbst ist und dessen Beziehung zu sich selbst offen ist nach außen, hin auf unsere Welt, wie Rublew es eindrücklich auf seiner Dreifaltigkeitsikone dargestellt hat.

Wir halten fest: das trinitarische Glaubensbekenntnis enthält die christologische Aussage, wie umgekehrt das christologische Bekenntnis die trinitarische Aussage enthält. Versuchen wir nun das, was wir über die therapeutische und die integrative Kraft der christologischen Aussage ausgeführt haben, auf die trinitarische Aussage zu beziehen.

Der therapeutische Charakter zeigt sich darin, daß Welt und Mensch dabei einerseits auf Gott bezogen, andererseits aber von Gott auch unterschieden werden, so daß ihnen ein Raum der Freiheit und der Verantwortung zugewiesen ist. Dieser letzte Sachverhalt aber ist höchst bedeutsam für die drei abrahamitischen Religionen. Alle drei sprechen nämlich sowohl von der Herrschaft Gottes über diese Welt wie auch von dem Raum der Freiheit und der Verantwortung, der dem Menschen gegeben ist. Sie unterscheiden also ­ im Prinzip auch der Islam ­ zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Regiment(3). Diese Unterscheidung ist gesund, hilfreich, therapeutisch.

Genau diese Unterscheidung aber wird von jedem Fanatismus verworfen. Aller Fanatismus ist ungesund, eine Krankheit, weil er die Distanz zwischen Gott und der Welt, die Distanz zwischen Gott und dem Menschen verkennt oder verwirft, und weil er die Freiheit und die Verantwortlichkeit des Menschen erstickt. Er entspringt einem falschen Verständnis von Monotheismus ­ gleich ob dieser trinitarisch oder nicht-trinitarisch ist, weil er den Monotheismus im Sinne eines Absolutismus versteht und eben dadurch Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen negiert. Wir rütteln mit dieser Feststellung nicht an der Absolutheit Gottes selbst, aber wir unterscheiden sie von dem Mißverständnis des Absolutismus.

Demgegenüber erweist sich der recht verstandene Monotheismus als therapeutisch, insofern er die Idole ­ auch Gott als Götzen ­ umwirft und den Menschen zusammen mit der erschaffenen Welt coram Deo in Beziehung zum wahren Gott stellt. Die drei abrahamitischen Religionen sind also als monotheistische Religionen insofern "therapeutisch", als der Monotheismus nicht im Sinn eines Absolutismus entstellt ist.

Das heißt in unserem Zusammenhang: da, wo die christliche Kirche mit ihrem christologischen und trinitarischen Bekenntnis die Versuchung des Absolutismus überwindet, wo ihr Glaube also "gesund" ist, kann sie dem Judentum und dem Islam helfen, diese Versuchung ihrerseits zu überwinden. Dazu ist eine ebenso klare wie solidarische Kritik vonnöten, eine Kritik, die in der Wahrheit und in der Liebe bleibt (siehe Eph 4,15). Diese Kritik bezieht sich auf alles, was den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott des Mose und schon den Gott des Noah und schließlich ­ in eminenter Weise ­ den Gott Jesu verzerrt.

Wir können hinzufügen: Ein gesundes Christentum ist eine positive Herausforderung für das Judentum und den Islam; es ist Salz der Erde und Licht der Welt. Ein krankes Christentum kann einem kranken Judentum und einem kranken Islam nicht helfen. Umgekehrt gilt aber auch, daß ein gesundes Judentum und ein gesunder Islam eine positive Herausforderung für ein krankes Christentum darstellen.

Wenn wir nun von der integrativen Kraft der trinitarischen Aussage reden, so gilt es zunächst zu sehen, daß die integrative Kraft nicht das Monopol des Christentums ist. Auch das Judentum ist integrativ, genauer: der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist es. Dieser Gott sieht einen Platz für Ismael vor, zwar außerhalb von Israel, aber doch in Beziehung zu ihm. Ismael ist der erste, sozusagen außereheliche Sohn Abrahams: auf ihn berufen sich in besonderer Weise die Muslime. Die Erwählung Israels bedeutet Sendung im Gegenüber zu der Nachkommenschaft Ismaels und inmitten der Völker, ohne daß damit jedoch eine Überlegenheit Israels ausgesagt wäre. Es ist vielmehr so, daß die Besonderheit Israels und die Andersartigkeit der Nachkommenschaft Ismaels bzw. diejenige der Völker einander bedingen(4). Es besteht eine wechselseitige kritische Beziehung zwischen Israel und der Nachkommenschaft Ismaels oder, wenn wir die Völker einbeziehen, zwischen den dreien.

Und so ist auch der Weg Gottes mit Ismael und mit den Völkern ein Heilsweg. Erst der Bruch der Beziehung, die zwischen Israel und den beiden anderen besteht, hat desintegrierend gewirkt. Desintegrierend wirkt es immer, wenn Anspruch auf ein Monopol erhoben wird, ganz gleich, ob das Monopol von Israel oder von Ismael oder von den Völkern beansprucht wird. Auch der Islam ist im Grunde integrativ. Der Koran erkennt die Verschiedenheit der anderen Buchreligionen durchaus an und fordert ihnen gegenüber Respekt. In seinem tiefsten Wesen ist der Islam den beiden anderen Religionen gegenüber tolerant eingestellt(5).

Das Christentum ist mit seinem christologischen und trinitarischen Bekenntnis ebenfalls integrativ zu nennen, wenn es in seiner biblischen Fülle erkannt wird. Die Dreifaltigkeit hat integrativen Charakter, denn sie ist dem Wesen nach Relation, Relation in sich selber, Relation aber auch in Beziehung zur Schöpfung, zur Welt. Sie erstickt diese nicht, sondern schenkt ihr Atemraum.

Was wir bereits im Blick auf das Judentum und den Islam herausstellten, das zeichnet das Christentum gerade in besonderer Weise aus. Es gibt dafür zwei Gründe: Zum einen anerkennt und respektiert wahres Christentum die Verschiedenheit der abrahamitischen Religionen. Wahres, biblisches Christentum geht von dieser Verschiedenheit aus und ist ihr gegenüber ebenso solidarisch wie kritisch. (Diese Charakterisierung versteht sich ­ nota bene! ­ dogmatisch, leider nicht als Aussage über einen geschichtlichen Tatbestand.)

Zum anderen vernimmt wahres Christentum in dieser solidarischen und kritischen Beziehung einen Appell, der sich sowohl an es selbst wie an die beiden anderen richtet. Dieser Appell, verbunden mit der Bezeugung Gottes, des Vaters Jesu Christi, ruft alle dazu auf, im Glauben an den lebendigen Gott zu wachsen. Der Appell erhält seine Glaubwürdigkeit dadurch, daß wahres Christentum die therapeutische und integrative Kraft Gottes selbst unermüdlich in Glaube, Hoffnung und Liebe an sich geschehen läßt.

Das Christentum kann den lebenden Gott nur wahrhaft bezeugen, wenn es seine Gegenwart und sein Wirken auch in den beiden anderen abrahamitischen Religionen erkennt und anerkennt. Es kann ihn also nur in Demut und ohne Arroganz bezeugen, im Bewußtsein darum, daß Gott in keiner Religion eingesperrt ist, weil er sonst zum Idol würde. Es geht also um das Bewußtsein dessen, daß Gott Gott ist; darum, daß Gott im Himmel ist und wir auf Erden, und daß wir, wie alle Menschen, die nach seinem Bilde erschaffen sind, Bettler sind vor Ihm. In dieser Erkenntnis besteht der wahre Reichtum, den Juden, Mohammedaner und Christen gemeinsam aufzuweisen haben. Von diesem Reichtum ist zu reden, ohne daß die zwischen den Religionen bestehenden Unterschiede nivelliert werden.

Halten wir am Ende dies fest: Die christliche Kirche steht und fällt mit der christologischen und trinitarischen Aussage. Nur durch sie ist die Kirche christlich, nur so hat sie Relevanz, therapeutische und integrative, also Heilskraft im Blick auf sich selbst wie im Blick auf die anderen abrahamitischen Religionen, ja, darüber hinaus für die menschliche Gesellschaft. Die kritische Solidarität, von der wir oben sprachen, ist für die christliche Kirche wesentlich in der gleichen Weise: gegenüber sich selbst in ihrer empirischen Gestalt wie gegenüber anderen. Kirche ist nur Kirche als Hefe im Teig; kritische Solidarität zeigt sich im kritischen Dialog.

Wir fragen abschließend nochmals: Stellt das christologische Problem, das mit der trinitarischen Aussage verbunden ist, ein Hindernis oder eine Brücke zwischen der christlichen Kirche und dem Judentum einerseits, dem Islam andererseits dar?

Erstens: Die Offenbarung Gottes ist immer ein Skandalon, ein Stein des Anstoßes für den sündigen, götzendienerischen Menschen. Sie bedeutet insofern eine Herausforderung und dadurch auch ein Hindernis. Dieses Hindernis ausräumen zu wollen, würde bedeuten, die Religion im Keim zu töten. Damit aber wäre niemandem gedient, weder Gott noch dem Menschen. Dies gilt grundsätzlich sowohl für das Judentum wie für das Christentum als auch für den Islam.

Zweitens: Nur ein Hindernis, das ausgehalten, nur ein Anstoß, der auf sich genommen wird, kann zur Brücke werden. Die Kirche kann sich nur dann zu Recht auf Christus berufen, wenn sie die christologische und die trinitarische Aussage den Anfragen aussetzt, die aus dem Judentum und dem Islam, aber auch aus der Gesellschaft allgemein an sie kommen, wenn sie also den Dialog aufnimmt, wenn sie sich den Gegebenheiten stellt. Wenn sie es ihrem Bekenntnis überhaupt erlaubt, sich als Brücke zu erweisen. Das setzt voraus, daß sie die christliche Wahrheit in Liebe bezeugt, und daß sie diese Wahrheit bedenkt in Bezug auf die Situation, in der sie sich als therapeutische und integrative Kraft ja allererst erweisen soll.

Drittens: Nur die Anerkennung, nur die Annahme des Hindernisses, das das christliche Glaubensbekenntnis darstellt, ermöglicht die wirkliche Begegnung mit dem Judentum und dem Islam. Wir können freilich die Verschiedenheit zwischen dem Judentum und dem Islam einerseits und dem Christentum andererseits nur im Glauben recht aushalten, und das heißt eigentlich: im Stillesein vor Gott. Nur dies Stillesein ermöglicht letztlich das Gespräch. Die Furcht Gottes ­ im Sinne das Alten Testaments ­ also der Glaube an die unverfügbare Gottheit Gottes, und zwar des Gottes Abrahams, Isaaks, auch Ismaels, und Jakobs, begründet sowohl den absoluten Respekt vor der Andersartigkeit des anderen als auch das Bewußtsein des notwendigen Aufeinander-Bezogen-, ja des Aufeinander-Angewiesen-Seins im Gespräch. Nur das Gespräch miteinander ermöglicht die gegenseitige Bezeugung der jeweils erkannten Glaubenswahrheit. Nur das Gespräch gibt der Liebe Raum in der Bezeugung der erkannten Wahrheit. Und nur die Wahrheit ist Wahrheit, die, indem sie der Liebe Raum gibt, es Geist Raum gibt, der in alle Wahrheit leitet. Er allein wandelt Menschen, so daß sie, die auf so manche und verschiedene Weise füreinander ein Hindernis bedeuten, zu Brückenbauern werden können.

Fussnoten:

(1) In: Christentum und Weltreligionen, Piper, München, 1984.
(2) Piper, München, 1990.
(3) Siehe hierzu das einschlägige Kapitel in: G. Siegwalt, Dogmatique pour la catholicité évangélique, II/1.
(4) Ich verweise hierzu auf das Kapitel über die Erwählung im angegebenen Band der Dogmatique.
(5) Siehe H. Küng, Christentum und Weltreligionen, ad loc., und auch R. Garaudy, Promesses de l’islam, Seuil, Paris, 1981.