Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

119–121

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Frankemölle, Hubert

Titel/Untertitel:

Vater unser – Awinu. Das Gebet der Ju­den und Christen. Paderborn: Bonifatius;

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 233 S. 22,0 x 14,5 cm. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-89710-499-0 (Bonifatius); 978-3-374-03024-8 (Evangelische Verlagsanstalt).

Rezensent:

Hans Klein

Bei ökumenischen Begegnungen ist der Beginn mit einem gemeinsamen Gebet nicht nur sinnvoll, sondern auch hilfreich. Denn das Gebet vermittelt eine existenzielle Betroffenheit, welche gemeinschaftsfördernd wirken kann. Gespräche über unterschiedliche Akzente bei der Lehre oder über von Traditionen geprägte Praxis können darauf aufbauen.
Es ist darum lobenswert, dass Hubert Frankemölle ein Buch über das vom Juden Jesus von Nazareth stammende und vom Judenchristen Matthäus an zentraler Stelle in seinem Evangelium verschriftlichte Vaterunser vorlegt, das eine gemeinsame Basis für das Gespräch zwischen Christen und Juden bilden soll und kann, weil auch Ansätze zur Überwindung lehrhafter Unterschiede aufgezeigt werden. Entsprechende Gespräche haben F. lange vor der Abfassung seiner Darlegung geprägt. Sie haben auch dazu geführt, dass einzelne Juden das Vaterunser mitbeten konnten.
Seine Absicht tut F. auf S. 166 f. kund: »An uns ist es, die Bemühungen früherer Generationen, das Vaterunser zu verstehen […], aufzunehmen und weiterzuführen und vor allem das systematische Prokrustesbett der römisch katholischen Kirche, d. h. deren ungeschichtliches, schematisches Lehrsystem auch bei der Deutung des Vaterunsers […] aufzubrechen. Der Glaube der Kirchenväter, die zu ihrer Zeit zu Recht den tradierten Glauben in Griechisch aktualisierten, kann dabei eine unersetzliche Hilfe sein, er kann aber auch den biblischen Glauben nicht ersetzen. Traditionen, die nicht in die gegenwärtige Lebens- und Sprachwelt übersetzt werden, erstarren zum Ritual.«
Nach einer kurzen Einführung (11–17) geht F. (I) auf sein Hauptthema ein: das Vaterunser beten im Angesicht Israels (18–32), und widmet sich daraufhin (II) der Darstellung der Gottesbilder in den Jesus vorgegebenen Traditionen (33–60). Danach (III) wendet er sich der Botschaft Jesu von Gott (61–74) und (IV) dem Vaterunser mit seinen einzelnen Bitten zu (75–171). Es folgt (V) eine Reflexion über die Normativität der Bibel bei Juden und Christen (172–207). Mit der ausgeführten Feststellung (VI), dass Juden und Christen denselben Gott anbeten (208–216), schließt das Buch. Im Anhang (217–233) befinden sich Hinweise zur Literatur (208 Titel).
F. bettet das Vaterunser in den Gottesglauben Jesu, der alttestamentlichen Frommen, der aramäisch und der griechisch sprechenden Juden zur Zeit Jesu und der frühen Christenheit ein und zeigt auf, dass der Glaube an den einen Gott bei aller Unterschiedenheit der Richtungen innerhalb des Judentums und des frühen Chris­tentums durchgehalten wurde. Die Ausprägung dieses Glaubens war entsprechend dem sozialen Stand und der historischen Erfahrung verschieden, die Anbetung dieses Gottes weitgehend gleich.
In der Auslegung des Vaterunsers geht es F. nicht um den Versuch, präzise zu beschreiben, wie Jesus, seine Tradenten und die Evangelisten das Vaterunser verstanden haben, sondern um die Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten des Verständnisses dieses Gebetes aufgrund der Aussagen des ersten Evangelisten, des Alten Testaments und des Judentums und damit um eine offene Auslegung, die ganz verschiedene Interpretationen für möglich hält, ein im Rahmen wachsender ökumenischer Annäherung dringend notwendiges und legitimes Unterfangen. Dazu seien einige wenige Gedanken wiedergegeben:
a) Bei der Anrede zeigt F. auf, dass Jesu Gottesanrede im Gebet mit abba (Vater) eine besondere, aber durchaus mögliche Art des Beginns eines Gebetes war. Man rief Gott zur Zeit des Neuen Testaments auch sonst mit Vater an, wenn auch nicht nachweislich in dieser kurzen Form. In den gewandelten heutigen Verhältnissen kann man bei dieser Anrede durchaus an die Mutter oder ein anderes Familienmitglied denken.
b) Die Herrschaft Gottes versteht F. mit DtJes und vielen Psalmen von der Schöpfung her. Das Gebet spricht die Erwartung aus, dass die in der Schöpfung angelegte Herrschaft Gottes in der vorfindlichen Welt durchgesetzt wird.
c) Der Wille Gottes ist in der offenbarten Tora festgehalten. Der Gedanke, dass Gott in der Geschichte seinen Willen durchsetzt, wird etwas vernachlässigt. Dafür betont F. mehrfach, dass es weniger um das Bekenntnis zu Jesus Christus ginge als um das Tun des Gotteswillens, unterlässt es aber herauszustellen, dass der Wille Gottes in der Tora und in den Texten des Neuen Testaments den Gliedern des Gottesvolkes gesagt ist, also zu Menschen, die sich zu Gott bzw. zu Jesus Christus bekennen. Denn »unser Vater – awinu« kann nur sprechen, wer sich Gott zugehörig weiß. Dieses Zugehörigkeitsbewusstsein, das eine Erwählung zur Sohnschaft sowohl der Juden als auch der Christen voraussetzt, basiert auf dem Zuspruch Gottes, dem Evangelium, den man in beiden Teilen der Bibel finden kann.
In sehr beachtlicher Weise hebt F. innerhalb seiner Reflexionen über die Normativität der Bibel hervor, dass die griechische Übersetzung des Alten Testaments (LXX) in die Tradition des Judentums gehört und dass Paulus seine Christologie von den Überlieferungen des griechischsprachigen Judentums her entwickelt, für ihn eine »Radikalisierung des jüdischen Glaubens« (201). Im Unterschied zu der Lehre der Kirchenväter müssen wir heute zwischen der (griechisch gedachten) »absoluten Wahrheit« und der »eigenen unbedingten Überzeugung« unterscheiden (204). »Die unbedingte Wahrheitsgewissheit der jeweiligen Glaubensgemeinschaft ist an das beglaubigte Tun gebunden – das ist bei […] den jüdischen Gebeten, somit auch beim Beten des Vaterunsers impliziert.« (205)
Das in vieler Hinsicht kenntnisreiche Buch ist eine reife Frucht langjähriger Studien zum Matthäusevangelium und ertragreicher Erfahrungen im jüdisch-christlichen Dialog. Es bietet eine Fülle von Informationen, die den gemeinsamen Weg von Juden und Christen fördern können. Möge diesem Aufeinander-Zugehen der Segen beschieden sein.