Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

112–113

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schlag, Thomas

Titel/Untertitel:

Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive.

Verlag:

Freiburg/Basel/Wien: Herder 2010. 650 S. 22,7 x 15,2 cm = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 14. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-451-34001-7.

Rezensent:

Norbert Mette

Worin besteht der Beitrag evangelischer Religionspädagogik zur demokratischen Bildung im hiesigen politischen Kontext bzw. worin kann und soll er bestehen? Das ist die Leitfrage, der die umfangreiche Habilitationsschrift von Thomas Schlag nachgeht. Dabei nimmt sie eine doppelte Blickrichtung ein, die die Unter­-suchung in zwei Teile gliedert: eine retrospektive und eine perspektivistische. Das heißt, dass zum einen das Augenmerk darauf gerichtet wird, wie sich die evangelische Religionspädagogik in dem Zeitraum zwischen 1949 und 1990 mit Fragen politischer und demokratischer Bildung beschäftigt und auseinandergesetzt hat. Zum anderen wird in systematischer Absicht der Frage nachgegangen, welcher Beitrag durch die evangelische Bildungspraxis für eine demokratische Bildung im Kontext öffentlicher Bildung in der Demokratie geleistet werden kann.
Die Arbeit beginnt mit drei einführenden Kapiteln, die der Orientierung für die beiden folgenden Hauptteile dienen. Nachgegangen wird den Voraussetzungen der Untersuchung, nämlich ihrer Verortung im hiesigen politischen Kontext, in der evange­lischen Religionspädagogik und ihrer Tradition sowie spezifisch ihres Bezugs auf das Jugendalter. Vom Thema her ergibt sich, dass über die Religionspädagogik hinaus eine inter- sowie eine trans­-disziplinäre Orientierung erforderlich ist, einerseits innerhalb der Theologie hin zur theologischen Ethik und andererseits hin zur Politikdidaktik. Schließlich werden die Zielsetzungen der Arbeit in ihrer doppelten Perspektivierung begründet und konkretisiert.
Materiale Grundlage für die retrospektive Annäherung an die generelle Leitfrage bildet die im Jahr 1949 gegründete Zeitschrift »Der Evangelische Erzieher«. Aus der Durchsicht der Beiträge dieser Zeitschrift auf markante thematische Schwerpunkte hin hat sich für S. eine Einteilung in fünf Phasen nahegelegt, die er nachein­ander durchgeht: (Neu-)Orientierungen (1949–1957), Aufbrüche (1958–1965), Umbrüche (1966–1969), Reformen (1970–1979) und Stabilisierungen (1980–1990). Für jede dieser Phasen führt er einen bzw. zwei Religionspädagogen an, die für sie jeweils besonders charakteristisch sind, und porträtiert diese in ihrem Einfluss auf die Zeitschrift, aber auch darüber hinaus. Im Einzelnen handelt es sich um Oskar Hammelsbeck und Helmuth Kittel, um Martin Stallmann, um Klaus Wegenast und Hans Bernhard Kaufmann, um Karl Ernst Nipkow und Dietrich Zilleßen, um Peter Biehl und Henning Schröer. Wer sich in der jüngsten Zeitgeschichte der evangelischen Religionspädagogik ein wenig auskennt, wird spontan fragen, was denn diese Personen miteinander verbindet. In der Tat sind sie in ihrer konzeptionellen Ausrichtung sowie in der von ihnen vertretenen politischen Orientierung höchst unterschiedlich. Aber genau das ist für das Fach in dieser Epoche kennzeichnend, wie auch die weiteren aus dem »Evangelischen Erzieher« angeführten Beiträge belegen. Der Ertrag des historischen Rück­blicks besteht also nicht darin, eine gemeinsame politische Linie innerhalb der Religionspädagogik herausgefunden zu haben, sondern – so S. – auf eine Deutungskultur gestoßen zu sein, »für die Subjektorientierung, Gegenwartsrelevanz, interdisziplinäre Ausrichtung und prinzipielle Entwicklungsoffenheit zu unhintergehbaren Maximen der Theoriearbeit geworden sind« (497) und die statt auf »schroffe Alternativbildungen« auf konstruktive Vermittlungsversuche hin angelegt war.
Diesen Optionen folgt der zweite Hauptteil der Untersuchung, in dem – wie vermerkt – S. seine eigene Grundlegung und Entfaltung einer evangelischen Religionspädagogik in politischer Perspektive darlegt. Er geht dabei in dem ersten Abschnitt von einer für das Jugendalter charakteristischen Befindlichkeit aus, nämlich den sich aufdrängenden Fragen nach der individuellen und ge­meinsamen Lebensführung und der Suche nach der Zukunft, und erörtert sie im Einzelnen sowohl in ihrer politischen als auch in ihrer religiösen Bedeutsamkeit. Im zweiten Abschnitt begibt er sich auf das Feld der Politikdidaktik und wendet sich dabei insbe sondere der pragmatistischen Demokratiepädagogik im Gefolge von John Dewey zu, weil diese ihr Bemühen auszeichnet, an erfahrbaren Wirklichkeiten der Lebensführung anzuknüpfen. Als solche schälen sich heraus: in Bezug auf die individuelle Dimension »Anerkennung erfahren«, in Bezug auf die soziale Dimension »Verantwortung lernen« und in Bezug auf die zeitliche Dimension »Zu­kunft experimentieren«. Die Grenzen des pragmatistischen Ansatzes liegen nach Meinung S.s darin, dass sie sich nicht hinreichend der anthropologischen, sozialphilosophischen und demokratietheoretischen Möglichkeitsbedingungen politischer Bildung ver gewissert. Deshalb bedürfe sie einer hermeneutisch-pragma­tischen Horizonterweiterung, wie er sie im folgenden Abschnitt vornimmt. Innerhalb der Religionspädagogik erblickt er einen neueren Ansatz dazu in ihrer ästhetisch-performativen Ausgestaltung, macht aber auch Grenzen, die ihr innewohnen, deutlich. Die bisher angestellten Überlegungen haben das Feld bereitet für den zentralen vierten Abschnitt dieses Teils, in dem S. den genuinen Beitrag der (evangelischen) Religionspädagogik zur politischen bzw. demokratischen Bildung darlegt. Er erblickt diesen in einer bestimmten Deutungspraxis, die er als »eröffnete Möglichkeiten der Lebensführung« bestimmt, einer Lebensführung also, die nicht allererst und immer neu konstruiert werden muss, sondern die sich auf bereits Gegebenes, auf von Gott geschenkte Möglichkeiten beziehen kann. Dieses führt er – korrespondierend zu den genannten Dimensionen der Lebensführung – unter den theologischen Topoi der Rechtfertigung, der Verantwortung und der Hoffnung näherhin aus.
Im »Ausblick« bündelt S. nochmals seine Einsichten zu einer »evangelischen Religionspädagogik im Horizont demokratischer Bildung« in ihren zentralen Leitorientierungen.
Dass in dieser Untersuchung ein innerhalb der Religionspädagogik weitgehend vernachlässigtes Thema aufgegriffen und bearbeitet wird, ist ihr allein schon als Verdienst anzurechnen. Dazu kommt dann als Weiteres: Je mehr man in der Lektüre dieser umfangreichen Studie vorankommt, desto größer wird der Respekt vor der Fülle von Aspekten – aus der religionspädagogischen Zeitgeschichte mitsamt der Einbeziehung ihres höchst wechselvollen politischen Kontextes, aus der Jugendforschung, aus der Politikdidaktik mitsamt ihrer politikwissenschaftlichen Hintergründe, aus der theologischen Ethik, aus der Bibeldidaktik u. a., die S. nicht nur aufgreift, sondern systematisch zu einem konsistenten Theoriegebäude zu verarbeiten versteht. Somit liegt eine gehaltvolle Grundlegung einer politisch bewussten Religionspädagogik vor. Es sollte nun alles darangesetzt werden, die vielen Andeutungen zu einer didaktischen Umsetzung, die sie in sich birgt, aufzugreifen und für die Bildungsarbeit in Gesellschaft und Kirche, vorab Schule und Gemeinde (Konfirmandenunterricht, Erwachsenenbildung, Ju­gendarbeit) auszuarbeiten.