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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

109–111

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lütze, Frank M.

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht im Hauptschulbildungsgang. Konzeptionelle Grundlagen einer Religionsdidaktik für den Pflichtschulbereich der Sekundarstufe I.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 389 S. m. Abb. u. Tab. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 47. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02900-6.

Rezensent:

David Käbisch

Negativ-Schlagzeilen über Drogen, Gewalt, Schulabbrüche und überforderte Lehrkräfte bestimmen das Bild der Hauptschule in den Medien. Das mediale Interesse steht dabei in einem erstaunlichen Widerspruch zu der geringen Aufmerksamkeit, die dieser Schulform in der religionspädagogischen Forschung geschenkt wird. So ist seit der 1992 von Matthias Hahn vorgelegten »ideologiekritischen Analyse ausgewählter Lehrpläne« keine religionspädagogische Monographie mehr zur Hauptschule erschienen, und auch sonst fristet dieser Bildungsgang im Vergleich zur Grundschule und zum Gymnasium ein Schattendasein.
Frank M. Lütze, der sich mit der vorliegenden Arbeit im Wintersemester 2010/2011 an der Universität Halle habilitiert hat, wendet sich damit einem wichtigen und überfälligen Thema zu: Denn es gilt, das aus der Schulpädagogik bekannte Problem zu vermeiden, dass »ohne eine konzeptionelle Berücksichtigung der spezifischen Voraussetzungen stillschweigend gymnasiale Leitbilder zum Maßstab für den Religionsunterricht in allen Bildungsgängen der Sekundarstufe I erhoben werden« (11).
L. gliedert seine Arbeit in drei Teile. Der erste Teil beschreibt die länderspezifischen Besonderheiten des Hauptschulbildungsganges, für den es allein zehn verschiedene Bezeichnungen gibt (15–46). Der zweite Teil rekonstruiert die subjektiven Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler unter empirischen Gesichtspunkten (47–203). Und der dritte Teil fasst wichtige Programmschriften zur Hauptschule in (allgemein-)pädagogischer Perspektive zusammen und bezieht sie auf den Religionsunterricht (205–337). Bereits mit dem Untertitel bringt L. das ihn leitende Erkenntnisinteresse zum Ausdruck: Es geht ihm weniger um eine Bestandsaufnahme, sondern um die »Grundlagen einer Religionsdidaktik für den Pflichtschulbereich«. Das Schlusskapitel versteht L. in diesem Sinn als eine »Zwischenbilanz« (339) auf dem Weg zu einer schulformspezifischen Religionsdidaktik.
Bei allen Unterschieden, die in den Ländern bestehen, gelingt es L., länderübergreifende Tendenzen zu beschreiben. Aufschlussreich ist u. a. die Beobachtung, dass das dreigliedrige Schulsystem in elf Bundesländern zwar in ein zweigliedriges System überführt wurde, 72,4 % aller Schülerinnen und Schüler aber in den Bundesländern zur Schule gehen, in denen es die Hauptschule nach wie vor gibt, so in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (44). Es könne daher nicht pauschal davon die Rede sein, dass der Hauptschulbildungsgang ein Auslaufmodell sei. Eine weitere länderübergreifende Tendenz besteht darin, dass der Anteil evangelischer Schülerinnen und Schüler in der Hauptschule unter dem des Gymnasiums liegt. Die in diesem Zusammenhang oft angeführte hohe Migrantenquote lässt L. jedenfalls nicht ohne Weiteres als Begründung gelten, da die be­schriebene Tendenz auch in Regionen besteht, wo »der Ausländeranteil nur eine marginale Rolle spielt« (45).
Im zweiten, empirischen Teil seiner Arbeit geht L. von der bildungstheoretischen Einsicht aus, dass in einer »nachständischen Gesellschaft« ein eigenständiger Hauptschulbildungsgang »allein von den Ausgangsbedingungen in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler her« begründet werden darf (47). Er setzt sich daher zum Ziel, die Lebenswelt (und die damit verbundene Selbst- und Fremdwahrnehmung) der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage einer großen Zahl an empirischen Untersuchungen zu systematisieren. Das Themenspektrum seiner Metaanalyse reicht dabei vom Selbstbild der Schülerinnen und Schüler über deren Selbstwertgefühl bis zu den familiären Hintergründen und Res­sourcen; detailreich beschreibt L. ferner die Migration als Bildungsfaktor, die Freizeitgestaltung und Mediennutzung, die Besonderheiten beim Übergang ins (bevorstehende) Berufsleben, die religiöse Praxis und religiöse Überzeugungen, die Wertorientierungen in (freundschaftlichen, partnerschaftlichen und familiären) Beziehungen und schließlich die Wahrnehmung des Religionsunterrichts aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern im Hauptschulbildungsgang. Wiederholt weist L. in diesem Zusam­menhang (und in der Zusammenfassung) darauf hin, dass viele empirische Bestandsaufnahmen bereits durch ihre Fragestellung Gefahr laufen, »populäre Klischees« (wie die eingangs genannten Negativ-Schlagzeilen) zu reproduzieren; sie verfestigen damit eine »Defizitperspektive«, die sich an einer (wie auch immer qualifizierten) bürgerlichen Bildungskultur misst (342 f.). Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch der Verweis auf die kirchenbezogenen Milieustudien, die in den vergangenen Jahren das Bewusstsein dafür gestärkt haben, dass kirchliches Handeln in Schule und Gemeinde alle Milieus wertschätzend im Blick haben sollte.
Im dritten, historisch-systematischen Teil, rekonstruiert L. u. a. die (ökonomischen und reformatorischen) Wurzeln des Hauptschulbildungsganges, das 1957 vorgelegte Konzept der »volkstümlichen Bildung« nach Karl Stöcker, das 1964 veröffentlichte Hauptschulkonzept des »Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen«, den 1970 verabschiedeten »Strukturplan des Deutschen Bildungsrates« und schließlich den für die Hauptschule bedeutsamen Zusammenhang von »Bildung und Bewältigung« in der neueren sozialpädagogischen Diskussion. L. gelangt hier u. a. zu der Einsicht, dass dem Begriff der »volkstümlichen Bildung« zu Un­recht »das Odium restaurativer, geradezu undemokratischer Tendenzen« anhafte, da Stöcker nichts anderes als das Eigenrecht der Volksschule zu beschreiben suchte (244). Seine Warnung, dass sich der Volksschul- bzw. Hauptschulunterricht nicht als »vereinfachter Gymnasialunterricht« (216) verstehen dürfe, sei auch heute noch von Bedeutung. Luzide weist L. an verschiedenen aktuellen Lehrplänen nach, dass der Hauptschullehrplan nicht selten (zumindest in Teilen) auf einem reduzierten Gymnasiallehrplan beruht. Den Hauptschülern wird dabei in der Regel weniger Urteilsbildung und Pluralität zugemutet – eine Tendenz, die sich nicht aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler herleiten lässt.
L. führt mit seiner sehr gut lesbaren Arbeit erneut vor Augen, dass die Religionspädagogik eine Verbundwissenschaft ist, die für ihre Theoriebildung auf vielfältige historische, bildungspolitische, empirische und schulpädagogische Wissensbestände angewiesen ist. L. bezieht aber nicht nur die umfangreiche Literatur verschiedener Fachgebiete ein, sondern identifiziert und diskutiert in diesem Zusammenhang auch die theologischen Probleme, die in nichttheologischen Fragehorizonten angelegt sind. Die Rechtfertigungslehre ist dabei das bevorzugte theologische Leitmotiv, das L. in die von ihm geforderte Schulkultur der Anerkennung einzeichnet. Hier kommen zahlreiche pädagogische und didaktische Grundsätze zur Sprache, die auch ohne den langen argumentativen Weg einsichtig und ohne einen Bezug zur Hauptschule richtig sind. Zugleich diagnostiziert er bei rechtfertigungstheologischen Argumentationsmustern aber auch die Tendenz, zu »wohlfeilen Vertröstungsbotschaften« zu werden, die eine negative »Selbstattributierung eher theologisch affirmieren als in Frage stellen« – eine Spannung, der sich jede Lehrkraft bewusst sein sollte (349). Einmal mehr zeigt L.s Habilitationsschrift aber auch, dass didaktische Konsequenzen nicht einfach aus historischen, empirischen, pädagogischen und theologischen Einsichten abgeleitet werden können. L. gibt in diesem Zusammenhang, wie gesagt, bereits im Untertitel (bescheiden) zu erkennen, dass er »Grundlagen« be­schreibt und damit eine »Zwischenbilanz« vorgelegt hat – eine Zwischenbilanz freilich, die die weitere Diskussion um eine schulformspezifische Religionsdidaktik versachlichen und bereichern wird.