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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

100–102

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Preul, Reiner

Titel/Untertitel:

Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. XI, 384 S. 24,0 x 17,0 cm = Marburger Theologische Studien, 102. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-374-02613-5.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Ohne Schuld des Rezensenten wird dieser Aufsatzband verspätet vorgestellt. Er enthält 22 Arbeiten aus den Jahren 1991 bis 2006, von denen sechs vorher unveröffentlicht waren. Reiner Preul will damit seine »Kirchentheorie« von 1997 im Blick auf aktuelle Herausforderungen ergänzen und »nicht zuletzt die Orientierungskraft der reformatorischen Grundlagen unter gegenwärtigen Bedingungen unter Beweis stellen« (IX f.). Die Verbindung zur Kirchentheorie zeigt sich in der Gliederung des Bandes, die jeweils einen Aspekt der kirchlichen Realität zum Inhalt hat: »1. Zur institutionellen Gestalt der Kirche« (1–63), »2. Die Kirche als Kommunikationssystem und Bildungsinstitution in der Öffentlichkeit« (65–202), »3. Kirchliches Leben in der Gegenwart« (203–287), »4. Kirche im Wandel der Zeit« (289–360). P. beweist, dass eine kirchentheoretische Fundierung der Praktischen Theologie keineswegs eine binnenkirchliche Horizontverengung bedeutet. Er versteht Kirche als Bildungsinstitution im Spektrum gesellschaftlicher Institutionen, und er nimmt immer wieder unter Verweis auf empirische Befunde und soziologische Theorien Bezug auf die sozialen Kontexte der Kommunikation des Evangeliums. Die enge Verbindung zur Systematischen Theologie lässt sich daran ablesen, dass im Personenregister am häufigsten E. Herms genannt wird, vor Luther, Schleiermacher und W. Härle. Natürlich verweist P. auch häufig auf eigene Publikationen, und wer diese kennt, findet viel Bekanntes. Im Folgenden beschränke ich mich auf die vorher unveröffentlichten Beiträge, die sämtlich aus der Zeit nach 1997 stammen.
Die Frage »Was heißt ›Volkskirche‹?« beantwortet P. (36–51), indem er das Kriterium der Öffentlichkeit und der Offenheit für alle betont, das der Quantität dagegen für unbedeutend erklärt. Volkskirche gilt als alternativloses kybernetisches Konzept, will man nicht den Weg in konventikelhafte Enge und Selbstisolation einschlagen (51). Dem entspricht die Forderung, »dass Kirche so gestaltet werden muss, dass alle, wirklich alle, in ihr sein und sich in ihr heimisch fühlen könnten, sofern sie nur ein positives Verhältnis zur Sache oder Botschaft der Kirche haben« (43). Es fällt auf, wie stark hier der normative Aspekt den deskriptiven dominiert. Dass außerhalb der Volkskirche nur konventikelhafte Enge möglich sei, ist nicht beweisbar. Leider übersieht P. auch – wie schon in seiner Kirchentheorie 1997 – die Realität der Diaspora, die zeigt, wie erheblich der quantitative Faktor das kommunikative und das disponierende Handeln beeinflusst. Sowohl das kommunikative als auch das disponierende Handeln findet in der Diaspora unter anderen Voraussetzungen statt als in der Volkskirche. Darauf hinweisende Literatur wird nicht zur Kenntnis genommen.
»Kirche als Institution der Frömmigkeit« (203–226) erklärt P. auf der Grundlage eines in der reformatorischen Theologie begründeten inneren Zusammenhangs von Bildung, Freiheit und Frömmigkeit. Als Institution verbindet die Kirche die individuelle mit der sozialen Dimension. P. bringt die positiven Inhalte des Begriffs »Frömmigkeit« zur Geltung und zeigt sich zurückhaltend gegen­-über dem Modewort »Spiritualität«. Institutionalisierung von praxis pietatis im Sinne Luthers erfolgt vor allem in der Familie und im öffentlichen Gottesdienst. Beiden Institutionen, und im Letzteren besonders der Predigt, räumt P. hohe Bedeutung ein. Über deren Rahmen hinaus wirkt die »Kirche als Institution der Frömmigkeit« durch christliche Feste und Feiertage in die Gesellschaft hinein. Hier wäre wieder die Bedeutung des quantitativen Aspekts zu beachten: Wenn Gottesdienste an Feiertagen mangels Interesse ausfallen, ist die öffentliche Wirkung negativ.
»Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft« (289 – 305) lautet das Thema eines öffentlichen Vortrags von 2004, der davon handelt, wie in der Gesellschaft über Religion und Kirche geredet wird, welche Rolle Religion tatsächlich spielt und was sie der Gesellschaft zu bieten hat. Hat die Kirche wirklich an Einfluss verloren? Ist es sinnvoll, von einer Krise der Kirche zu reden? P. erläutert die zur Beschreibung der Gesellschaft gebräuchlichen Formeln wie Leistungs-, Risiko-, Erlebnisgesellschaft und fragt, wie sich die beschriebene Realität auf die Religion auswirkt. Der zentrale Problembegriff der Moderne, nämlich Freiheit, trifft mit der zentralen Thematik des christlichen Glaubens seit der Reformation zusammen. Die moderne Gesellschaft braucht Religion, die in der Kirche soziale Gestalt annimmt, damit sie funktionieren und gedeihen kann.
»Der gegenwärtige kirchliche Wandel in kirchentheoretischer Perspektive« (321–341) war 2005 das Thema eines Vortrags, zu dem D. Pollack das soziologische Korreferat hielt. P. umreißt die Situation angesichts des Mitgliederschwunds und der Konkurrenz, in der sich die Kirche befindet, und in der sie ihre Aufgaben und Möglichkeiten als Bildungsinstitution zu entfalten hat. Er notiert Veränderungen in der religiösen Einstellung der Menschen, die ge­wachsene Entscheidungsfreiheit und den Widerspruch zwischen der Institutionenverdrossenheit und der Unverzichtbarkeit von Institutionen. In allem Wandel wahrt die evangelische Kirche ihre Identität, indem sie »die Freiheit eines Christenmenschen« von der Wahrheit des Evangeliums leiten lässt. Die Rechtfertigungsbotschaft bleibt Hauptkriterium, ist aber nicht auf Sündenvergebung zu reduzieren. Als Organisation ist die Kirche auch ein Unternehmen, das ökonomische Aspekte zu beachten hat, aber ihre Mitglieder sind keine Kunden, deren Bedürfnisse das Produkt be­stimmen. P. setzt auf Qualitätssteigerung der kirchlichen Arbeit durch Kompetenzsteigerung der Pfarrer- und Religionslehrerschaft sowie der Kirchenmusiker. Wie das dazu Nötige geschehen kann, bleibt offen, doch wird mehrfach im Buch auf die Bedeutung der Theologischen Fakultäten hingewiesen und die Notwendigkeit von Änderungen in der Ausbildung angedeutet.
Zum Thema »Kirchentheorie und Kirchenreform« (342–353) hielt P. ebenfalls 2005 einen Vortrag in Züssow bei Greifswald, der sich natürlich mit dem vorangehenden eng berührt. Erstaunlicherweise betont P. ausgerechnet in Vorpommern das Konzept der Volkskirche, das dort offensichtlich nicht mehr funktioniert. Ky­bernetische Alternativen, die in Greifswald erarbeitet wurden, finden im ganzen Buch keine Erwähnung, obwohl inhaltlich große Gemeinsamkeiten bestehen. Die Programme der Glaubenskurse passen gut zum Verständnis der Kirche als Bildungsinstitution. Das entschiedene Plädoyer für das Allgemeine Priestertum verbindet P. mit den Konzepten der Gemeindeentwicklung. Zur Kommunikation des Evangeliums sollte auch der Austausch derer gehören, die sich auf theoretischer und praktischer Ebene dieser Aufgabe verpflichtet wissen, zumal wenn sie gemeinsam von der »Orientierungskraft der reformatorischen Grundlagen« ausgehen.