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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

98–100

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Peters, Frank

Titel/Untertitel:

Agende und Gemeindealltag. Eine empirische Studie zur Rezeption des Evangelischen Gottesdienstbuches.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 336 S. 23,2 x 15,5 cm = Praktische Theologie heute, 117. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022020-1.

Rezensent:

Konrad Merzyn

1999 wurde das Evangelische Gottesdienstbuch (EGb) für die Gliedkirchen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Deutschland (VELKD) und der Evangelischen Kirche der Union (EKU) offiziell eingeführt. Es sollte die bis dahin geltenden Agenden ablösen und ist das Ergebnis eines Jahrzehnte währenden liturgischen Reformprozesses. Zehn Jahre nach der Einführung des EGb unternimmt die Studie von Frank Peters den Versuch, empirisch zu erforschen, ob und wie die für die Gottesdienstgestaltung Verantwortlichen das EGb formal und inhaltlich rezipieren. Ihre Relevanz gewinnt diese Frage nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass agendarische Empfehlungen der Gegenwart anders als die Agenden der 1950er und 1960er Jahre nicht mehr selbstverständlich und alternativlos die liturgische Situation prägen, sondern mit einer Vielzahl von gedruckten bzw. im Internet zugänglichen Gottesdienstentwürfen und liturgischen Materialien konkurrieren. Die Fragen, ob das EGb in einer Gemeinde vorhanden ist, ob es tatsächlich bei der Gestaltung von Gottesdiensten verwendet wird und welchen Einfluss es auf die gottesdienstliche Praxis vor Ort hat, sind also schon aus diesem Grund nicht pauschal mit dem Hinweis auf die offizielle Autorisierung des Werkes durch kirchenleitende Gremien zu beantworten.
Das Ziel der empirischen Erforschung der Rezeption des EGb in der Evangelischen Kirche im Rheinland verfolgt die vorliegende Studie durch die Auswertung von sieben Gruppendiskussionen mit Personen, die für die liturgische Gestaltung von Gottesdiens­ten in Gemeinden Verantwortung tragen (Pfarrer, Prädikanten, Vikare). Die Diskussionen orientieren sich an folgenden Leitfragen: Wie haben sich die Liturgen mit dem EGb auseinandergesetzt? Wie stehen sie zu seinen Grundanliegen und Kriterien? Wie bewerten sie das EGb – äußerlich wie inhaltlich? Wie bereiten sie sich auf den Sonntagsgottesdienst vor? Wie nutzen sie den Gestaltungsraum des EGb? Wie beziehen sie andere Gemeindeglieder in die Vorbereitung und/oder Durchführung des Gottesdienstes mit ein? Flankiert werden die qualitativen Daten aus den Gruppendiskussionen durch die Rezeption einer quantitativen Studie der Liturgischen Konferenz der EKD über die Rezeption des EGb in dessen gesamtem Verbreitungsgebiet, so dass verschiedentlich bestimmte in den Gruppendiskussionen zutage tretende Haltungen in einen weiteren Horizont gestellt werden können.
Ihrem Untersuchungsziel nähert sich die Studie in drei Schritten an: Zunächst wird in einem historischen Rückblick die agendarische Entwicklung von der Reformation bis zur Einführung des EGb rekonstruiert. Weiter wird anhand der durchgeführten Gruppendiskussionen ein empirisch basierter Einblick genommen in den tatsächlichen Umgang rheinischer Liturgen mit dem EGb. Schließlich werden in einem Ausblick zwölf Thesen für die weitere Diskussion über den agendarischen Prozess und die Frage der Qualitätssicherung gottesdienstlichen Handelns vorgestellt.
Das Schwergewicht der Arbeit, den empirisch basierten qualitativen Einblick in die Rezeption des EGb, stellt die Studie unter der Überschrift »Rheinische Liturgen und ›ihr‹ Gottesdienst« auf ca. 160 Seiten vor, untergliedert in zwei Teile: Zunächst werden die sieben Gruppendiskussionen sehr ausführlich je für sich dargestellt, bevor dann die Ergebnisse der Diskussionen in einer Zusammenschau vorgestellt werden. Hierzu eine Reihe von Schlaglichtern, die zur eigenen Lektüre anregen sollen. Bezüglich der Rolle des EGb bei der Gottesdienstgestaltung zeigen die Gruppengespräche folgendes Bild: Für die Vorbereitung der Gottesdienste dient das EGb der Mehrheit der Befragten als eines von mehreren Materialbüchern, die als Ausgangspunkt für die individuelle Gestaltung des Gottesdienstes genutzt werden. Entgegen dem ersten Anschein sei diese untergeordnete Rolle des EGb jedoch nicht als Ausdruck einer Abneigung gegen obrigkeitliche Anordnungen zurückzuführen, sondern resultiere vielmehr aus der Tatsache, dass das EGb (wie auch andere Werkbücher) nicht kompatibel zu dem Gottesdienstkonzept der meisten Diskussionsteilnehmer sei, das einen thematisch durchgängig an der Predigt orientierten Gottesdienst favorisiere und deshalb nur in Ausnahmefällen auf vorformulierte Gebete und weitere liturgische Stücke zurückgreifen könne.
Die aktive Beteiligung von Gemeindegliedern an der Vorbereitung und Durchführung von traditionellen Gottesdiensten am Sonntagmorgen zählt – im Gegensatz zu Zielgruppengottesdiens­ten mit alternativ-liturgischer Prägung – für die überwiegende Mehrheit der Diskussionsteilnehmer nicht zu den prioritären Aufgaben, »zumal dann, wenn dies ihre primären Leitziele (thematische Einheitlichkeit, Ruhe, feierliche Atmosphäre …) zu behindern droht« (221). Die vom EGb vorgeschlagene regelmäßige Variation des Gottesdienstablaufs innerhalb der festen viergliedrigen Struktur kann sich in der durch die Gruppendiskussionen rekonstruierbaren gottesdienstlichen Praxis nicht durchsetzen. Stattdessen dominiert die in der konkreten Gemeinde vom Presbyterium be­schlossene Gottesdienstordnung, die nur in begründeten Einzelfällen verändert wird.
Diese und weitere anregend zu lesende Ergebnisse der Gruppendiskussionen zeichnen ein – gemessen an den zuweilen kämpferischen Debatten im agendarischen Reformprozess – recht er­nüchterndes Bild der Rezeption des EGb: Zwar wird das EGb im Rheinland durchaus zur Kenntnis genommen und teilweise (gleichrangig neben anderen Werkbüchern) zur Gottesdienstvorbereitung genutzt; seinem Ziel einer liturgischen Qualitätssicherung kann es jedoch nur sehr eingeschränkt gerecht werden.
Ihrem Ziel, die Rezeption des EGb in einer begrenzten Kirchenregion empirisch zu erforschen, wird die vorliegende Studie hingegen durchaus gut gerecht. Kritische Anmerkungen ergeben sich allerdings in zwei Hinsichten: Zum einen werden im Hauptteil der Studie die einzelnen Gruppendiskussionen je für sich sehr ausführlich auf ca. 100 Seiten dargestellt, während der fallübergreifenden Auswertung nur ca. 50 Seiten gewidmet werden; aufgrund des solchermaßen begrenzten Raumes unterbleibt leider an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit den einschlägigen praktisch-theologischen Debatten fast gänzlich (sie wird auch in dem die Studie abschließenden Ausblick nur in Ansätzen nachgeholt). Zum anderen wird dem Leser zwar das grundlegende Forschungsdesign der Untersuchung sowie die Organisation und Durchführung der Gruppendiskussionen hinreichend transparent vorgestellt, die Methodik der Auswertung der transkribierten Gespräche bleibt jedoch weitgehend im Dunkeln und ist dementsprechend kaum nachzuvollziehen. Ungeachtet dieser Einschränkungen liefert die Untersuchung aber einen anregenden Beitrag zur weiteren empirischen Rekonstruktion gottesdienstlicher Praxis.
Bemerkenswert häufig taucht beispielsweise in den Beiträgen das Motiv von bzw. die Forderung nach liturgischer Authentizität auf – ein Konstrukt, das als (bewusster oder unbewusster) Gegenpol zum Gebrauch des EGb als Leitfaden der Gottesdienstgestaltung verstanden wird. Dieses Motiv hat im Bereich der evangelischen Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten eine vehemente Dominanz entfaltet und verdiente weitere (empirische) Forschungen, die sich an die Untersuchung von P. anschließen könnten.