Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

95–97

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Frings, Bernhard, u. Uwe Kaminsky

Titel/Untertitel:

Gehorsam – Ordnung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945–1975.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2011. XIII, 596 S. m. Abb. u. Tab. 23,0 x 15,5 cm. Geb. EUR 39,80. ISBN 978-3-402-12912-8.

Rezensent:

Claudia Bendick

Die Monographie von Bernhard Frings und Uwe Kaminisky widmet sich einem Thema, das auf vielen Ebenen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit diskutiert wird, seit sich ehemalige Heimkinder mit einer Petition an den Deutschen Bundestag gewandt haben. Durch den vom Bundestag 2009 eingerichteten »Runden Tisch« zur Heimerziehung in den 1950er und 60er Jahren rückt die historische Aufarbeitung der Thematik deutschlandweit in den Blickpunkt des Interesses. Die Studie beleuchtet das komplexe Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Fokus auf Heime in evangelischer und katholischer Trägerschaft. Die doppelte konfessionelle Perspektive spiegelt sich in den beiden Autoren wider, von denen Frings die katholische und Kaminsky die evangelische Seite vertritt.
Das Buch entstand im Rahmen des durch die DFG geförderten Projekts »Transformation der Religion in der Moderne – Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« an der Ruhr-Universität Bochum. Es gliedert sich in acht Kapitel: An die Einleitung und den Forschungsüberblick schließt sich die Darstellung der statistischen und rechtlichen Grundlagen der Heimerziehung an. Die hier verarbeiteten Daten und rechtlichen Bestimmungen sowie die im folgenden Abschnitt dargestellten Diskurse zur Beschäftigungslage, zu dem pädagogischen Ansatz und der Differenzierung von einzelnen Heimtypen bilden die Basis für die Einzelstudien ausgewählter Einrichtungen in unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Als Ergänzung zum historischen Quellenmaterial führen die Autoren Zeitzeugeninterviews. Die Gespräche mit ehemaligen Bewohnern und Erziehern kirchlicher Heime werden in die Einzelstudien in kurzen Auszügen integriert. Dabei verzichten die Autoren ganz bewusst auf den Abdruck der kompletten Interviews, die als Quellen in den entsprechenden Archiven in Berlin und Freiburg für weitere Forschungsvorhaben vorliegen. Die gezielte Einbettung von einzelnen Erinnerungen in die Aufarbeitung von historischem Quellenmaterial erweitert die Studie um eine Perspektive, die gerade vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte sehr hilfreich ist.
Die folgenden Einzelstudien aus Heimen in konfessioneller Trägerschaft in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern haben gemäß der unterschiedlichen Ausrichtung der Anstalten sowie ihrer geschichtlichen Entwicklung im Untersuchungszeit­raum differierende Schwerpunkte. Trotzdem werden zentrale Themen wie Tagesablauf, religiöse Erziehung, Strafen und De­-mütigung sowie sexuelle Gewalt beleuchtet. Insbesondere in den Interviews mit ehemaligen Heimkindern und Betreuern steht u. a. das Thema Bindung und Bezugspersonen sowie die Frage nach der Freizeit im Heimalltag im Blickpunkt. Die oben benannten Inhalte werden in Kapitel 6 unter der Überschrift »Heimalltag« längsschnittartig gebündelt. Dementsprechend fungiert das Kapitel quasi als Zusammenfassung der Einzelstudien vor dem Hintergrund bestimmter Schlüsselbegriffe, die in der öffentlichen Dis­kussion von besonderem Interesse sind. Durch diese Reduzierung auf Essentials liefert die Studie neben der durchweg sehr fundierten Analyse von Quellenmaterial, das weit über die oben benannten Themen hinausgeht, eine weitere Struktur, die dem Rezipienten die Möglichkeit gibt, die Studie im Fokus von thematischen Schwerpunkten durchzuarbeiten.
Zahlreiche Verweise auf die Einzelanalysen im Vorfeld bieten an bestimmten Punkten interessierten Lesern wiederum die Möglichkeit, die in Kapitel 6 formulierten Ergebnisse im Gesamtkontext einer oder mehrerer Einrichtungen zu verorten. Diese Struktur eignet sich außerordentlich gut für einen dem Thema entsprechend sehr heterogenen Adressatenkreis. Die Verweisstellen sind leider nur mit der Nummer des jeweiligen Unterkapitels bezeichnet; hier wäre die Nennung der entsprechenden Überschrift des Abschnitts hilfreich gewesen.
Die Untersuchung kommt an diesem Punkt vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grundlagen, die in Kapitel 2 dargelegt wurden, z. B. zu dem Ergebnis, dass die in vielen Heimen übliche Züchtigung durch landesgesetzliche Regelungen oder Verordnungen legitimiert ist (500). Als Strafen werden vielfach Schläge, aber auch der Entzug von Vergünstigungen oder der Verbleib in dem sog. Besinnungszimmer genannt. Um Tendenzen von willkürlicher Züch­tigung entgegenzuwirken, werden sog. »Strafbücher« ge­führt, wobei nicht eindeutig geklärt werden kann, ob alle erteilten Strafen dort Eingang finden (501). Die Autoren machen deutlich, dass die Organisationsstrukturen verschiedener Heimtypen ein stärkerer Indikator für den Umgang mit Bewohnern sind als die jeweilige konfessionelle Prägung. Dies zeigt sich z. B. in frühen Diskursen zu neuen pädagogischen Ansätzen in einzelnen Einrichtungen, die jedoch keinen Niederschlag finden (501 f.). In Kapitel 7 widmet die Studie ihre Aufmerksamkeit den grundlegenden Veränderungen in der Heimerziehung in den 1960er Jahren. Sie werden vielfach von Protesten der außerparlamentarischen Opposition vorangetrieben, wobei diese vielmehr bereits begonnene Reformprozesse beschleunigt und sie nicht federführend initiiert. Der tiefgreifende Reformprozess auf allen Ebenen der Heimerziehung, zu der auch die Ausstattung der Einrichtungen gehört, findet flächendeckend jedoch erst in den 1980er Jahren seinen Niederschlag.
Insgesamt bietet die Studie am Beispiel ausgewählter Einrichtungen viel Material über die Entwicklung der Heimerziehung zwischen 1945 und 1975, das auf mehreren Ebenen durch gute Analysen des Quellenmaterials und die konsequente Einbindung von Zeitzeugeninterviews zu bestimmten Themenkomplexen einen umfassenden Einblick in das Thema liefert. Auch wenn die Autoren selbst zu bedenken geben, dass der Gegenstand der Untersuchung trotz zahlreicher Projekte in vielen Teilfragen noch nicht ausreichend erforscht ist (545), so trägt das Buch meines Erachtens maßgeblich zur wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Thematik bei. Durch die Einbettung in den an den Anfang gestellten statistischen und rechtlichen Rahmen besitzen die Einzeldarstellungen von Beginn an eine solide Basis. Gleichzeitig gibt der Ergebnisteil am Ende dem Leser die Möglichkeit, organisationsgeleitet oder themengeleitet in die Studie einzusteigen, wobei ein Perspektivwechsel durch die entsprechenden Verweise innerhalb der Monographie jederzeit möglich ist. Der sparsame, jedoch gezielte Einsatz von erinnerten Dokumenten erweitert die Studie um die Perspektive des Betroffenen, ohne an die Betroffenheit des Rezipienten zu appellieren. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis rundet das überaus lesenswerte Buch ab.