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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

94–95

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wittkowski, Joachim, Strenge, Hans, m. Wolfgang Lenzen

Titel/Untertitel:

Warum der Tod kein Sterben kennt. Neue Einsichten zu unserer Lebenszeit.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011. 230 S. m. Abb. 24,0 x 16,5 cm. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-534-23951-1.

Rezensent:

Thomas Klie

Ist es eigentlich schlimm, tot zu sein? – Die beiden medizinischen Psychologen Joachim Wittkowski und Hans Strenge teilen das »Faible für unorthodoxe Fragen« (9) im Übergang vom Sterben in den Tod. Ihr Buch verfolgt das Ziel, »die Fragwürdigkeit gängiger Denkmuster im Hinblick auf Sterben und Tod exemplarisch aufzuzeigen und neue, bisher nicht etablierte Sichtweisen auch jenseits (fach-)politischer Korrektheit einzuführen« (10). Die »Neigung zum produktiven Querdenken« macht den Band auch und gerade für Theologen interessant, denn der Diskurs wird weit jenseits theologischer Diskursüblichkeiten geführt. Man lernt hier, wie an­ders die medizinische Rationalität über sich selbst aufklärt und wie nah dabei das Nachdenken über finale Lebensfragen an religiöse Fragen heranreicht.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel: Einem einleitenden, insgesamt allerdings wenig wirklich Neues referierenden Abschnitt zum »kulturgeschichtlichen Hintergrund von Sterben und Tod« folgen zwei überaus starke Kapitel, die für theologische Leser wohl das größte Irritationspotenzial bieten (»Sterben – Ende ohne An­fang?« bzw. »Leben und Tod in den Zeiten der Organverpflanzung«). Hier werden Ergebnisse einer Fülle medizinischer Untersuchungen zum Themenkreis präsentiert, die auch für Nicht-Mediziner gut lesbar zusammengefasst sind. Leitend ist hier eine »handlungsorientierte«, in der Intensivmedizin beheimatete Sichtweise, die den Hirntod als das Ende des menschlichen Lebens de­-finiert. Deutlich davon unterschieden werden hierbei die beiden Argumentationsweisen: die naturwissenschaftlichen Befunde und die philosophisch-ethische Deutung dieser Befunde. Die beiden Autoren favorisieren allerdings einen dritten, im weitesten Sinne kultursoziologischen Deutungsansatz, wonach als tot gilt, was jeweils die kulturelle Konvention als Tod vorsieht. – Wann aber be­ginnt das Sterben, wenn der eingetretene Tod das irreversible faktum a quo ist? Für alle, die in der Hospizarbeit und in der Palliativmedizin mit Moribunden zu tun haben, ist die Antwort auf diese Frage von unmittelbarer Relevanz. Die beiden Autoren unterscheiden hierbei einen objektiven Beginn (somatischer Aspekt), wie z. B. eine entsprechende Diagnose, von einem subjektiven Beginn (verhaltensorientierter Aspekt). Sie richten damit ihr Augenmerk ganz auf die kognitive Wahrnehmung, die eigene Bewertung und die innerpsychischen Anpassungsstrategien, die bei Todkranken ablaufen. Nach diesem Verständnis können Menschen durchaus auch mehrfach sterben bzw. »wiederholt ein Sterbender sein« (69). Das Sterben hat »einen Anfang, der durch das Sterbebewusstsein des Betroffenen einigermaßen zuverlässig bestimmbar ist« (87). Ab dann bekommt die Begleitung und seelsorgerliche Betreuung eine zentrale Bedeutung.
Im 4. Kapitel geht es um die ethischen Konsequenzen der »Hirntod-Problematik« und im 5. Abschnitt werden Fragen in Form eines medizin-ethischen Katechismus abgehandelt. Klare Fragen bekommen klare Antworten – Mediziner kennen das. In jeweils drei Lesarten werden Fragen wie diese beantwortet: »Wer bestimmt eigentlich den Beginn des Sterbens? Gibt es dabei so etwas wie Machtanspruch oder Herrschaftswissen?« (196) oder »Sollte die Definition des Todes zur weltanschaulich motivierten Wahlleistung einer modernen Klinik werden?« (201) Und im sechsten und letzten Kapitel werden »Zeitgemäße Choreographien bei der Begegnung mit Leben und Tod« beschrieben. Es geht hier um die Sphäre staatlicher Vor- und Fürsorge, Verwandtschaftssysteme und den Einfluss der Gewebemedizin.
Mit Gewinn wird dieses Buch lesen, wer als Theologe und Seelsorger die doch auch ganz andere Sinnsicht der medizinischen Psychologie kennen lernen will. Die kulturhermeneutische Grund­legung, zu der diese Sinnsicht ins Verhältnis gesetzt wird, ist (praktisch-)theologisch nicht state of the art. Oft sind es hier aus der Sekundär- und Tertiärliteratur entlehnte Allgemeinplätze ohne Signifikanz. So heißt es beispielsweise, dass »das Lebensgefühl des Menschen in der Neuzeit […] in zunehmendem Maße von einer schwachen Bindung an Gott und einer starken Bindung an das Leben gekennzeichnet ist« (26). Aber dieses Manko wird durch die ebenso fachkundige wie engagierte Aufordnung der komplexen Diskussion um das Sterben mehr als wettgemacht. Das Buch ist ein »Muss« für alle, die den demographischen Wandel von seinem subjektiven Endpunkt her in den Blick nehmen.