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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

87–91

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Leben zur Ehre Gottes. Themenbuch zur Christlichen Ethik. Bd. 1: Ort und Begründung. Witten: SCM Brockhaus 2010. 473 S. 21,0 x 14,0 cm. Kart. EUR 16,95. ISBN 978-3-417-29107-0. Bd.2: Konkretionen.

Verlag:

Witten: SCM Brock­haus 2012. 447 S. 21,0 x 14,0 cm. Kart. EUR 16,95. ISBN 978-3-417-29109-4.

Rezensent:

Christoph Seibert

Die beiden Bände sind aus dem Arbeitskreis für evangelikale Theologie (AfeT) hervorgegangen und sind als Lehrbücher einer sich den Grundsätzen evangelikaler Theologie verpflichtenden Ethik konzipiert. Die Artikel entstammen der Feder von insgesamt 22 Autoren und einer Autorin, die entweder in der Gemeinde – Landeskirche und Freikirche –, an diversen theologischen Seminaren oder an der Universität tätig sind. Unter formalen Gesichtspunkten ist der Aufbau der Artikel identisch: Sie bearbeiten die im Titel jeweils benannte Thematik und schließen mit einem Katalog von Vertiefungsfragen und einem Literaturverzeichnis. Offenbar sollen die Fragen das Selbst- oder Gruppenstudium weiter anleiten. Die Bearbeitung der verschiedenen Themen wird dabei als Ausdruck eines Selbstverständnisses evangelikaler Theologie angekündigt, für das in den Vorworten zu den beiden Bänden folgende Charakteristika angeführt werden: Ausgezeichnet sei es durch seine theozentrische Orientierung sowie das Ernstnehmen der »Verbindlichkeit des Wortes Gottes« (I., 5). Die Autoren und die Autorin kommen also darin überein, dass sich »theologische Erkenntnis und praktische Entscheidung primär von der Heiligen Schrift ableitet [Ch. S.] und der Offenbarung bzw. dem sich offenbarenden Gott offen [Ch. S.] gegenübersteht« (II., 7 f.).
Unter diesen leitbegrifflichen Voraussetzungen widmet sich der erste Band Fragen der Begründung christlicher Ethik. Die einzelnen Artikel sind dabei in drei Teilen unter den Themenstichwörtern »Begründungen« (7–179), »Schöpfung und Ethik« (196–348) »Erlösung und Ethik« (349–457) organisiert, wobei mir die sachlichen Gründe der Zuordnung einzelner Artikel zu einem der Teile nicht immer einsichtig geworden sind. Das ist beispielsweise der Fall bei Th. Jeisings Artikel »Der Ruf zur ethischen Umkehr als Seelsorge«, der als Beitrag zur Lösung der Begründungsfrage angekündigt ist. Diese Frage wird dort allerdings kaum behandelt, es sei denn, man wolle den Verweis auf eine mögliche Funktion der Ethik in der Seelsorge als begründungstheoretische Leistung ansehen. Bei anderen Aufsätzen ist die Zuordnung hingegen auf den ersten Blick einleuchtend. Blickt man nun auf die Machart der verschiedenen Beiträge, lassen sich eher ideengeschichtlich orientierte und informierende Artikel von solchen unterscheiden, die eine Fragestellung unter mehr systematischen Gesichtspunkten entfalten. Bei Letzteren fällt mehrheitlich auf, dass sie – gemäß den im Vorwort formulierten Prinzipien – sich deutlich erkennbar auf die beiden Teile der Bibel beziehen, dabei aber auch um eine Aufarbeitung reformatorischer Einsichten bemüht sind. Neben dem Verweis auf theologische Entwürfe aus dem (internationalen) evangelikalen Kontext ist dabei vor allem der Rekurs auf Luther leitend, dicht gefolgt von der Rezeption Bonhoeffers oder dem Verweis auf Barth und Brunner. Hingegen treten Theologen wie Schleiermacher, Troeltsch, Herrmann oder Tillich geradezu auffällig in den Hintergrund.
Den Beginn der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Be­gründungsproblematik markieren A. Wenz’ Überlegungen zum Verhältnis von »Schriftprinzip und Ethik« (7–53), deren Ziel darin besteht, über den »theologischen Ort« (7) der Ethik Klarheit zu gewinnen. In Abgrenzung gegenüber religiöser »Werkgerechtigkeit« (ebd.) und dem »Antinomismus« (10) wird Ethik hier als »Einweisung in die göttliche Ordnung« (14) entwickelt. Das geschieht, indem Wenz die Lehre von der Schöpfungsordnung in Auseinan­dersetzung mit ihren verschiedenen historischen Ausarbeitungsformen als »biblische Lehre von den Ordnungen« (51) profiliert. Sie könnte, so die These, dazu befähigen, dass Christen/innen ihre geschichtliche Wirklichkeit »am Willen Gottes in der Heiligen Schrift […] überprüfen und gegebenenfalls auf Korrekturen« (ebd.) hinwirken.
Diesem Artikel folgen Beiträge, die andere Begründungsmuster reflektieren. Es finden sich Überlegungen zu einer teleologischen (Ch. Herrmann) oder liebestheoretischen (B. Schwarz) Grundlegung christlicher Ethik ebenso wie Auseinandersetzungen mit den Konzepten der Situationsethik (Th. Dietz) oder der evolutionären Ethik (Ch. Schrodt). R. Mayers Frage nach dem »Evangelischen« der »evangelischen Ethik« (181) beschließt diesen ersten Teil mit einer Erörterung reformatorischer Grundeinsichten. Der zweite Teil, in dem sich philosophische Aufsätze mit theologischen Arbeiten mischen, lässt sich mit Ausnahme eines elaborierten Beitrages zur trinitätstheologischen Bestimmung der Ethik (Ch. Raedel) unter einem gemeinsamen anthropologischen Vorzeichen lesen. Es geht um die imago dei (K. Lehmkühler), das Gewissen (Th. Jeromin), das Böse (R. Kubsch), aber auch um Kants Personalismus oder um eine Sozialitätstheorie im Horizont des idealistischen Denkens (E. Düsing).
Im dritten Teil sind dann drei Fragestellungen miteinander kombiniert, die sich alle um die Bestimmung von Verhältnissen drehen: Ein deutlicher Schwerpunkt besteht zunächst darin, die Lehrstücke von der Rechtfertigung und von der Heiligung miteinander in Beziehung zu setzen, wobei dies sowohl aus lutherischer (R. Meier/A. Buchholz) als auch aus freikirchlicher Perspektive (M. Liebelt) unternommen wird. Es schließen sich Beiträge zum Verhältnis von Ethik und Ekklesiologie (Th. Schirrmacher/M. Abraham) an, und eine Skizze der Beziehung zwischen Christentum und Kultur (R. Mayer) stellt die vorangegangenen Artikel in einen weiteren Horizont. In der zuletzt genannten Studie wird Kultur als »Ensemble [von] ideellen, materiellen und moralischen Standards« (445) sozialer Gebilde verstanden und zunächst als externe Umgebung und Kontext des »christlichen Glaubens« bestimmt. Das geschieht mit der Pointe, dass der christliche Glaube als »Entscheidungsreligion« (447) zwar in »Kulturen« eingehe, aber immer auch »kritisches Gegenüber« (ebd.) bleibe. Allerdings bekundet Mayer am Ende seines Beitrages, dass »Kulturen religiöse Wurzeln« (454) hätten. Wie sich das Eine (Kultur als »Kontext« von Religion) zum Anderen (Religion als »Wurzel« von Kultur) konzeptionell verhalten soll, ist mir allerdings unklar geblieben.
In dem mit »Konkretionen« überschriebenen zweiten Band werden Fragen der angewandten Ethik bedacht. Die Autoren des ersten Bandes kehren hier zum Teil wieder, mit J. Cochlovius, R. Hille, W. Lachmann, R. A. Neuschäfer, R. Slenczka und W. Neuer kommen aber auch neue hinzu. Die einzelnen Artikel sind dabei in acht Abschnitten organisiert, von denen sich sieben mit folgenden ethischen Problemfeldern beschäftigen: Lebensschutz (9–36), Ehe und Familie (65–152), politische Ethik (153–223), Berufs- und Arbeits­-ethik (224–269), Erziehungsethik (279–285), Wirtschafts- und Sozialethik (286– 354), Friedensethik (376–427). Den Abschluss des Bandes bildet ein Essay über »Gottes Gericht in Zeit und Ewigkeit« (428–435), das den Diskurs angewandter Ethik nochmals in einen größeren theologischen Horizont stellt.
Insgesamt wird damit die Bearbeitung eines breiten Themenspektrums angekündigt. Ungewohnt ist indessen, dass Sozialethik hier nicht als klassifizierender Oberbegriff für politische Ethik etc. fungiert, sondern offenbar als Bezeichnung eines besonderen ethischen Teilgebiets verstanden und der Wirtschaftsethik nebengeordnet wird. Ich werde mich an die im Buch vorgeschlagene Verwendung des Begriffs indessen nicht halten, sondern werde ihn im ersten und weiteren Sinn gebrauchen. Dann kann von einer sozial­ethischen Schwerpunktsetzung des Bandes geredet werden. Mit Blick auf sie benennt das Vorwort eine doppelte Intention: Zum einen bekomme sie den evangelikalen »Kreisen« gut, denen man »gelegentlich eine zu grosse Welt- und Politikferne« (8) attestiere; zum anderen sei sie ein »Signal an die Kritiker der Evangelikalen« (ebd.). In einer solchen Diskussionslage möchte der Band daher ein Zeichen setzen; und wie im ersten ist auch hier ein Bemühen um die Aktualisierung reformatorischer Einsichten im ständigen Rück­bezug auf die Bibel erkennbar. Aufgrund der Vielzahl der Beiträge kann ich hier nur auf einzelne näher eingehen.
Überlegungen zum »Lebensschutz am Anfang des Lebens« (K. Lehmkühler) eröffnen die medizinethische Themenstellung des Buches. Dieser Beitrag führt in solider Weise in den Sachverhalt ein, stellt ihn in philosophische, historische und rechtliche Kontexte und nimmt schließlich Stellung zu ethischen Problemen im Zu­sam­menhang des Schwangerschaftsabbruchs und der PID. Dabei kann man diesen Artikel durchaus als Weiterführung des vom Vf. im ersten Band zu findenden Beitrags zur Anthropologie lesen. Auf ihn folgt eine historisch informierte Studie zu ethischen Problemen am Lebensende ( Th. Dietz). Der sexualethische Teil des Bandes wird mit einer sich an Eph 5,32 orientierenden Abhandlung eingeleitet (Ch. Schrodt). In ihr soll die These entwickelt werden, dass »Ehe und Sexualität […] erst im Licht der Selbstoffenbarung Gottes in ihrem eigentlichen Sinn« erkannt würden. Die Entfaltung der These erstreckt sich bis hin zu Bemerkungen über den Umgang mit der Realität gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften (81–83), deren Pointe im Kontext evangelikaler Theologie aber nicht weiter überrascht. Es folgen ein sehr informativer Text zur Gender-Thematik ( Ch. Raedel), eine unter der Prämisse »der unauflöslichen Einheit von Ehe, Sexualität und Fruchtbarkeit« (127) stehende und auf die Botschaft der Enzyklika Humanae Vitae eingeschworene Abhandlung zur Frage der Empfängnisregelung (W. Neuer) sowie Überlegungen zur »Ehescheidung und Wiederverheiratung« (J. Cochlovius). Das Themenfeld der politischen Ethik umfasst Artikel zum christlichen Staatsverständnis (R. Meier), zu »Theokratie und Religionsfreiheit« (Th. Schirrmacher) und zum Menschrechtsethos (R. Hille). Allen drei Texten ist gemeinsam, dass sie die Beurteilung des Politischen in größeren geschichtlich-kulturellen Kontexten ansiedeln. Es folgen Beiträge zur Arbeits- und Medienethik (M. Liebelt/R. Hille) sowie eine in meinen Augen eher unsystematisch gehaltene Skizze zur Bildungsethik (Th. Schirrmacher). Der wirtschaftsethische Abschnitt wird mit zwei Beiträgen aus volkswirtschaftlicher Perspektive eröffnet (W. Lachmann). Im ersten geht es um eine – im Anschluss an Einsichten des Ordoliberalismus vorgenommene – Entfaltung des Begriffs sozialer Marktwirtschaft als eines geregelten Zusam­menhangs von Wirtschaft, Wohlstand und Gerechtigkeit. Der zweite dreht sich um die Bestimmung des Subsidiaritätsbegriffs in seinem Verhältnis zum Begriff der Solidarität. Dieser Text hätte meines Erachtens auch im Themenbereich der politischen Ethik platziert werden können. Für die vorgenom­mene Platzierung spricht allerdings, dass an den Gedanken der Subsidiarität sich im nachstehenden Beitrag eine Überlegung zum diakonischen Handeln als Konkretion christlicher Ethik ( R. A. Neuschäfer) an­schließt: Ausgehend von »biblisch-theologischen Anmerkungen« (336) zur Barmherzigkeit und Nächstenliebe sowie einer Skizze der historischen Entwicklung der Diakonie werden gegenwärtige Herausforderungen des diakonischen Handelns angesprochen. Dem Vf. liegt dabei an der Profilierung der These, dass die institutionelle Diakonie sich nicht von ihren spirituellen, tugendethischen Hintergründen lösen dürfe. Denn ihr »Engagement gründet […] im Händefalten und einer Haltung; sie mündet in einer Handlung, deren Relevanz für das Jüngste Gericht zwar nicht immer offensichtlich ist, aber offenbar werden wird (Mt 25)« (352).
An diese Überlegungen reihen sich zwei weitere Texte an: Im ersten bemüht sich der Herausgeber Ch. Herrmann um eine Aktualisierung der Ständelehre, die als Vermittlungsmodus zwischen »Theozentrik und Weltlichkeit« (355) begriffen wird. Damit knüpft er wiederum an die im Subsidiaritätsbegriff angezeigte Thematik an, geht aber davon aus, dass die Ständelehre mehr Differenzierungspotentiale besäße als das Prinzip der Subsidiarität. Einzigartig für den Band wird diese These in kritischer Auseinandersetzung mit dem Werk eines spezifischen Autors entfaltet, und zwar mit Othmar Spann, Der wahre Staat, 1921. Der zweite Text ist einer friedensethischen Thematik gewidmet. Ch. Raedel präsentiert in ihm unterschiedliche »Ansätze christlicher Friedensethik« (376), indem er zunächst diejenigen biblisch-theologischen Einsichten herausarbeitet, die seiner Ansicht nach den Hintergrund der Diskussion abstecken. Diese Rekonstruktion liefert ihm zugleich Kriterien, anhand derer die nachstehende Untersuchung organisiert wird. Hervorheben möchte ich, dass in Anknüpfung an Bonhoeffers Unterscheidung zwischen Letztem und Vorletztem eine Typologie entwickelt wird, in der die Lehre vom Gerechten Krieg vom » Anfang der Geschichte«, der Pazifismus hingegen vom »Ende der Geschichte« (384) her denke. Unter dieser Voraussetzung kommt es dann zu einer systematisch orientierten Darstellung, die nicht nur die klassische Lehre beinhaltet, sondern ebenfalls die programmatische Hinwendung zum Begriff des Gerechten Friedens (EKD-Denkschrift 2007) oder die Konzeption des »Just Peacemaking« (418). Der Text mündet in einer ausgewogenen Auswertung und beschließt damit die Bearbeitung der (sozial)ethischen »Konkretionen« des Bandes.
Schlussbetrachtung: Ausgehend von der einleitend erwähnten Absicht, dass beide Bände als Lehrbücher der Ethik im Kontext evangelikaler Theologie konzipiert seien, habe ich einen ambivalenten Eindruck dieses Projekts gewonnen. Er beruht auf der Wahrnehmung, dass die Artikel der beiden Bände von einem zum Teil sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen, didaktischen und sprachlichen Niveau sind. Hinzu kommt, dass eine Methodologie ethischen Urteilens nicht explizit reflektiert wird, wohl aber in actu stets mitläuft. Es unterbleibt somit die metaethische Reflexion. Beides zusammen erschwert es mir, die zwei Bände uneingeschränkt als Lehrbücher zu empfehlen. Stattdessen erachte ich es als ratsamer, auf einzelne und thematisch einschlägige Artikel zu verweisen. Diese Wahrnehmung lässt sich mit einer weiteren kombinieren, wodurch der Eindruck der Ambivalenz auf inhaltlicher Ebene verstärkt wird: Der Vergleich der Beiträge führt mich zur Frage, ob zwischen den einzelnen Artikeln und dann im Projekt insgesamt das Verhältnis von evangelikaler Theologie und dem Selbstbewusstsein der sogenannten »Moderne« geklärt ist. Mein Eindruck ist, dass dies für einzelne Artikel vielleicht zutreffen mag, keineswegs aber mit Blick auf das Gesamtprojekt der Fall ist. Das zeigt sich mustergültig daran, dass vor allem im ersten Band der Rekurs auf die Entwicklung des philosophischen Denkens, wie er u. a. in den Beiträgen von E. Düsing zum Ausdruck kommt, nahezu unvermittelt neben einen Umgang mit Schrift und Tradition tritt, der an das dort Vorgetragene kaum mehr rückgekoppelt ist bzw. hinter den skizzierten philosophischen Einsichten systematisch zurückbleibt. Die Konsequenzen dieser Entkopplung treten dann in manchen »Konkretionen« des ethischen Urteils erschreckend offen zutage.
Fazit: Neben etlichen Erkenntnisgewinnen und Provokationen hat die Lektüre der beiden Bände letztlich dieses Vermittlungsproblem immer stärker vor Augen geführt. Die methodisch kontrollierte Arbeit an ihm ist freilich nicht nur für eine »evangelikal« ausgerichtete Ethik ständige Aufgabe.