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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

85–87

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Dworkin, Ronald

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit für Igel. Aus d. Amerik. v. R. Celikates u. E. Engels.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp 2012. 813 S. 20,6 x 13,0 cm. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-518-58575-7.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Es ist sehr zu begrüßen, dass das neue Werk von Ronald Dworkin, des wohl nach John Rawls bedeutendsten amerikanischen Rechtsphilosophen, bereits ein Jahr nach Erscheinen der Originalausgabe in einer guten deutschen Übersetzung vorliegt. Der ungewöhnliche Titel dieses Buches geht auf einen Vers des altgriechischen Dichters Archilochos (7. Jh. v. Chr.) zurück: »Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.« (13) D. nimmt diesen Vers auf, da es ihm bei seiner Konzeption einer Gerechtigkeitstheorie um die große Sache der Werte und ihrer Einheit geht. Daraus entwickelt er Perspektiven für eine Auffassung der gelungenen Lebensführung, die sich quer zum Mainstream des Pluralismus und Naturalismus in der gegenwärtigen philosophischen Ethik stellt. Das sehr flüssig geschriebene Buch ist außerordentlich de­tailreich und nimmt die LeserInnen mit in spannende Diskussionen der gegenwärtigen Philosophie und Geistesgeschichte, auf die ich hier leider nicht näher eingehen kann.
Voraussetzung einer gelungenen Lebensführung – und zu­gleich das Ziel dieses Buches – ist die Legitimität einer Regierung, die sich durch die Beachtung der beiden Leitprinzipien in der Demokratie auszeichnet, nämlich alle Personen gleich zu berück­sichtigen und deren individueller Verantwortung gerecht zu werden, die sich in der jeweiligen Entscheidung manifestiert, dem eigenen Leben Wert zu verleihen. Von diesen Grundprinzipien aus lassen sich plausible Theorien der distributiven Gerechtigkeit entwickeln, die sowohl die Verteilung der Ressourcen berücksichtigen, über die ein Mensch verfügen kann, als auch die ihn persönlich auszeichnenden Talente und Fähigkeiten.
Damit ist jedem Wirtschaftssystem widersprochen, das dem Prinzip des »Laissez-faire« (596) folgt oder utilitaristisch den Gesamtnutzen maximieren will. Vielmehr wiederholt D. sein be­kanntes Gedankenexperiment, das von der anfänglichen Ressour­cengleichheit aller Menschen ausgeht, das durch die weitere Le­bensgestaltung selbst verantwortete unterschiedliche Besitzstände an Ressourcen konstatiert und den BürgerInnen die Möglichkeit gibt, »sich zu gleichen Bedingungen dagegen zu versichern, wenige wirtschaftlich verwendbare Talente oder großes Pech zu haben« (606; zum Modell der Ressourcengleichheit vgl. Ronald Dworkin: Was ist Gleichheit? Aus dem Amerikanischen von Christoph Schmidt-Petri. Berlin: Suhrkamp 2011, 81–157). Dieses kaum realisierbare Denkmodell dient D. als Deutungshilfe, um reale Verteilungsstrukturen – wie Steuern, Gesundheitswesen, Renten – von den beiden Grundprinzipien zu bewerten.
Die Gerechtigkeit verlangt neben der Theorie der Gleichheit (594–615) auch die der Freiheit (616–640). D. geht es hierbei nicht um freedom, um die Freiheit im weiten Sinn, all das tun zu können, was man will, sondern um liberty. Darunter versteht er, in Folge des Prinzips der Verantwortung, das Selbstbestimmungsrecht, aus dem die Rechte der freien Meinungsäußerung, der Rechtssicherheit oder des Eigentums folgen, also Rechte, die eine Regierung nicht einschränken darf. Auf diese Weise ist die Freiheit in eine politische Moral eingebettet und konfligiert nicht mit der Gleichheit. Das gilt auch für die demokratische Partizipation an der öf­fentlichen Herrschaft (641–675), weil D. sie nicht majoritär, sondern partnerschaftlich ausgestaltet. Die Bürger verfügen damit in der Demokratie nicht nur über das gleiche Wahlrecht, sondern ihre individuellen Rechte auf Gerechtigkeit und Freiheit sind hier ge­schützt. Auch den potentiellen Konflikt von Recht und Gerechtigkeit löst D. auf, indem er das Recht als Teil der Moral versteht (676–702) und nicht als konkurrierendes Regelsystem: »Juristen und Richter sind die praktizierenden Politischen Philosophen des de­mokratischen Staates.« (700)
Die von D. verwendeten politischen Begriffe wie Gleichheit, Freiheit oder Demokratie können von anderen Menschen auf andere Weise verwendet werden, ohne deren verschiedenen Sichtweisen durch den Bezug auf Tatsachen oder ihrem Standardgebrauch eine eindeutige Basis geben zu können. D.s entscheidende Erkenntnis ist, dass diese Begriffe auf Interpretationen beruhen, die ihrerseits auf bestimmten Werten, aber auch auf gemeinsamen Erfahrungen und Praktiken gründen. In seiner Interpretationstheorie (171 – 320) kommt er abstrakt zu dem formalen Ergebnis, dass die beste Interpretation einer konkreten Situation am ehesten gerecht wird, womit aber verschiedene inhaltliche Aussagen möglich sind: denn interpretative Begriffe »sind in Praktiken eingebunden, die sich von Ort zu Ort unterscheiden« (290). Diese Erkenntnis führt ihn aber nicht zu einem philosophischen Relativismus, sondern zu einem Urteil über die Verwendung bestimmter Begriffe in anderen Kulturen.
Mit Hilfe seiner Interpretationstheorie sucht D. für die politischen oder auch moralischen Begriffe kein »gemeinsames Anwendungskriterium«, sondern die gemeinsamen Praktiken, »in denen diese Begriffe zum Tragen kommen« (307). Damit verfügt er über ein Verfahren, um die unterschiedlichen moralischen Meinungen etwa über gut und richtig erklären zu können, ohne damit aber ihre Richtigkeit zu beweisen. Die politische Moral D.s beruht also auf Interpretationen, die ihrerseits von kulturgeprägten Werten ab­hängen. Gegen die realistische Auffassung, die objektive Wahrheit moralischer Urteile durch Tatsachenurteile zu bestätigen und de­ren antirealistischer Bestreitung einer solchen objektiven Wahrheit setzt D. die metaphysische Unabhängigkeit der Werte voraus.
Die Wahrheit der Werte liegt für D. in den substantiellen Argumenten zu ihren Gunsten begründet und nicht in ihrer Analogie zu Tatsachen, denn der Bereich der Moral ist der der Gründe. Folglich »sind die konkreten Meinungen einer Person für ihre ethische und moralische Verantwortung konstitutiv [...]. Sie können aber nicht als unabhängiges Argument für die Korrektheit meiner oder Ihrer Ansichten angeführt werden« (133). D. vertritt – mit Hume – die These der »Unabhängigkeit der Moral« (140), die nicht an externen Maßstäben der Wissenschaft oder empirischer Tatsachen ge­messen werden kann, sondern nur an ihren eigenen Maßstäben. Wie die Interpretationstheorie ergeben hat, lassen sich für D. die Fragen der Moral nicht wissenschaftlich oder metaphysisch neutral entscheiden.
D. unterscheidet genauer zwischen Ethik und Moral, indem er die Ethik auf die Frage nach der gelungenen Lebensführung (323–429) und die Moral auf das Verhalten gegenüber anderen Menschen (433–549) bezieht. Die Ethik ermutigt also dazu, das eigene Leben ernst zu nehmen und in eine entsprechende Gestaltung zu führen. Für die Moral bedeutet dies eine genaue Reflexion der Hilfe, die man anderen in der Not gewährt, des Problembereiches der Schädigung und der gegenseitigen Verpflichtungen. An dieser Stelle wird die Vereinigung von Ethik und Moral deutlich, denn ein Mensch kann ein gelungenes Leben nur in Würde und Selbstachtung erreichen, wenn er – mit Kant – die Menschheit als Zweck an sich selbst achtet. Somit basiert das neue Buch von Dworkin auf einer sehr interessanten Aufeinanderbeziehung von Humes Proklamation der Unabhängigkeit der Moral mit Kants Reflexion der Freiheit. »Ohne Würde währt unser Leben nur einen Augenblick, aber wenn es gelingt, ein gutes und gelungenes Leben zu führen, können wir damit etwas Größeres schaffen. Wir fügen unserer Sterblichkeit gewissermaßen einen Verweis hinzu und machen unser Leben zu einem winzigen Diamanten im Sand des Kosmos.« (713)