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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

77–78

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Knoepffler, Nikolaus, Kunzmann, Peter, u. Martin O’Malley[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Facetten der Menschenwürde. Unter Mitarbeit v. J. Achatz.

Verlag:

Freiburg i. Br./München: Alber 2011. 288 S. 21,4 x 14,0 cm = Alber Philosophie. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48424-1.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Die Beiträge dieses Aufsatzbandes dokumentieren die Zusammenarbeit zwischen dem von Hans Joas und Nikolaus Knoepffler geleiteten Graduiertenkolleg »Menschenwürde und Menschenrechte« mit dem von Peter Kunzmann begründeten Projekt »Würde ist nicht dignitas«. Herausgekommen ist dabei eine beachtenswerte Publikation, die mit ihren zwölf Beiträgen die Bedeutung des für die Moderne so wichtigen Theorems der Menschenwürde nicht nur herausstellt, sondern auch auf konkrete Problemfelder anwendet und dabei zugleich auf kulturell bedingte Bedeutungsunterschiede hinweist.
Im ersten Beitrag stellt Nikolaus Knoepffler das Prinzip der Menschenwürde (9–30) gemäß der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 als Reaktion auf die erschütternden Erfahrungen der nationalsozialistischen Verbrechen an Menschen dar. Trotz vorhergehender christlicher und kantischer Reflexionen stellt das Menschenwürde-Prinzip der UNO eine wirkliche Innovation dar, denn allen Menschen kommen gleiche Grundrechte zu: »Die Menschenwürde wird zuerkannt, unabhängig davon, ob die entsprechenden Menschen sich ihrer würdig zeigen« (15) – womit die Menschenrechte begründet sind.
Diese Sicht unterstreicht Georg Lohmann, der den geschichtlichen Sinn der Deklaration der Menschenrechte und -würde (54–74) als Antwort auf die nationalsozialistische Barbarei versteht, aber damit – angesichts späterer vermeidbarer Entwürdigungen – die Warnung vor zu optimistischer »Realisierung menschlicher Möglichkeiten« (72) in der Zukunft verbindet.
Peter Kunzmann weist auf »Sprachspiele der Menschenwürde« (31–48) hin. So »kommt im US-amerikanischen Verfassungsdenken der Freiheit (liberty) jener zentrale Rang als leitendes Prinzip zu, den die Würde im Deutschen hat«, während »dignity im angelsächsischen Diskurs« (32) oftmals nicht anzutreffen ist. Auch wird von biokonservativer Seite der Begriff der Würde verwendet, um das Bestehende »als Maßstab für das Gute«, für das, »was es von Natur aus gibt« auszuzeichnen. »Die ›bioliberale‹ Position dagegen nimmt das Gegebene als ambivalent bzw. als indifferent, das Natürliche hat entsprechend kein normatives Gewicht« (41). Kunzmann bezeichnet, ohne damit eine Parteinahme vorzunehmen, die Plausibilität des biokonservativen Sprachspiels mit ihrer Unterstellung der Achtung der Natur als normativ. – An dem von Kunzmann herausgearbeiteten Aspekt der kulturell bedingten Bedeutungsunterschiede schließen sich inhaltlich drei ergänzende Beiträge an: Edward J. Eberle mit »Human Dig­nity, Privacy, and Personality in German and American Constitutional Law« (102–140), Donald P. Kommers mit »Autonomy, Dignity and Abortion« (216–244), der die differierenden Auffassungen in Irland, den USA und Deutschland untersucht, und Christine Baumbach mit »Dignité oder Dignitas: Das Verständnis des Würdebegriffes im frankophonen Kanada am Beispiel der aktiven Sterbehilfe« (263–286).
Hans Joas stellt in seinem Beitrag »Die Sakralität der Person« (49–53) kurz die Konzeption seines gleichbetitelten Buches (Frankfurt a. M. 2011) vor. Er verweist für die Entstehung der Menschenrechte historisch auf die nordamerikanische Unabhängigkeitserklärung und sieht den Gedanken der Heiligkeit der Person durch Emile Durkheim erstmals formuliert. Er hat sich bewährt, um für die Bedeutung der Menschenwürde sensibilisiert zu werden.
Martin O’Malley erarbeitet eine performative Definition von Menschenwürde (75–101): »Human dignity as the recognition of human worthiness is an all-encompassing principle that contains the moral wisdom of the past, and possesses the potential to deal with present and future violations. The law is not the only context in which human dignity can be broached, but it is an essential tool for both protecting and advancing it« (99).
Hagen Hof stellt in seinem zentralen Beitrag »Achtungsregeln – Menschenwürde – Rechtsstaat: Bausteine der Verhaltenslehre« (141–168) mit den Achtungsregeln die Vorläufer der Menschenwürdeprinzipien dar. Er bewährt die von hier aus gewonnene Position des Rechtsstaates an den Problemen von Folter und Guantanamo Bay – und schält das Vorhandensein bestimmter Wertungen heraus, ohne die sich menschliches Verhalten nicht erklären lässt. So gelingt es Hof, sowohl die Verhaltensregelung zu bestimmten Zeiten als auch die »Universalien menschlichen Verhaltens […] und die kulturspezifischen Besonderheiten« zu erfassen, um so zu einer »Orientierungshilfe für unsere Gegenwart und Zukunft« (165) zu gelangen.
Thomas De Koninck untersucht das Verhältnis von »Menschenwürde und Ethik« (169–190). Von Ricœur ausgehend bezeichnet er die Anerkennung des Menschen durch den Menschen als Basis der Menschenwürde. Für diesen Sachverhalt bringt er Belege aus vielen Kulturen bei und konkretisiert ihn an Fragen von Gerechtigkeit, Anerkennung, Freundschaft und menschlichen Grenzsituationen.
Heike Baratzke reflektiert die Menschenwürde im Anschluss an Kants Moralphilosophie (191–215) »als neuzeitliches Produkt aus Tugend- und Sollensethik« (201). Kant hat sowohl an die Stoa als auch an Cicero angeknüpft, aber durch seine Philosopheme von Autonomie und Achtung verändert: »Es ist also die in der sittlichen Autonomie gründende Würde als dignitas interna eines jeden Menschen, die seine unveräußerlichen Menschenrechte begründet und garantiert« (211).
Jörg Oberthür untersucht das Verhältnis von Subjektautonomie und Menschenwürde soziologisch (245–262), um deutlich zu machen, »inwiefern auch individualistisch konnotierte Wertvorstellungen in die Funktionalität gesellschaftlicher Institutionen eingebettet sind und welche Folgen des gesellschaftlichen Wandels hieraus resultieren« (245). Oberthür erhebt für die Gegenwart die schwindende Autonomie der Bürger und Bürgerinnen und deutet sie als »gesamtgesellschaftliche Krise« (260), weil ihnen, unter Bezug auf den Soziologen Hartmut Rosa, in der Spätmoderne kein gelingendes Leben im Sinne des Autonomieideals mehr möglich ist. Das führt zu einem pessimistischen Ausblick: «Das mit dem Autonomiegedanken verknüpfte Menschenwürdekonzept […] kann dem sozialen Wandel längerfristig jedoch keinen kritischen Bewertungsmaßstab gegenüberstellen, wenn immer weitere Be­reiche autonomer Lebenspraxis inhaltlich entwertet werden« (261). Damit folgt aus der soziologischen Analyse die nicht von ihr beantwortbare Frage an die Geisteswissenschaften, und hier an die theolo­gische Anthropologie, wie sich die Menschenwürde zeitentsprechend begründen lässt, wenn der Autonomiegedanke entfällt.
Dem sehr anregenden Band mit seiner breit gespannten Thema­tik wäre zur besseren Handhabung ein Register zu wünschen gewesen.