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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

75–76

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

[Deuser, Hermann]

Titel/Untertitel:

Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee? Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus. Gesammelte Aufsätze zur Theologie und Religionsphilosophie. Hrsg. v. N. J. Cappelørn u. M. Kleinert. Für Hermann Deuser zum 65. Geburtstag.

Verlag:

Berlin/New York: de Gruyter 2011. XI, 682 S. 23,0 x 15,5 cm. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-022807-6.

Rezensent:

Walter Dietz

Zum 65. Geburtstag des renommierten Kierkegaard- und Peirce-Forschers Hermann Deuser (zuletzt in Frankfurt a. M. lehrend) erschien als Festgabe eine Zusammenstellung wichtiger Forschungsbeiträge in einem Band. Die zwei sachlich (aus meiner, nicht D.s Sicht) durchaus divergenten Forschungsfelder machen die zwei Teile (je 15 Aufsätze) des Bandes aus: Beiträge zum Exis­tenzdenken Kierkegaards finden sich im 1. Teil, Aufsätze u. a. zur Semiotik und zum Pragmatismus von Ch. Peirce, aber auch zu W. James, P. Tillich (605–625) und den Problemfeldern Kontingenz und Evolution (626–651) sowie Christologie und Trinität im 2. Teil des Bandes. Die Beiträge stammen aus dem Zeitraum 1979–2008 und sind zum Teil zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht.
Das Existenzdenken Kierkegaards (Teil A) wird von D. bewusst im Gegensatz zum Systemdenken des Deutschen Idealismus ge­setzt. Damit gerät Kierkegaard aber noch nicht auf die Seite Schleiermachers, der Religion ästhetisch verortet in der Unmittelbarkeit (zum Begriff allgemein vgl. 652–663). Anders als er setzt Kierkegaard die Religion als eine vermittelte Form der »Unbedingtheit« (218). Obwohl Kierkegaard die Unmittelbarkeit in ihrer Unbestimmtheit als »Unwahrheit« einstuft (219), führt ihn seine »Abwehrhaltung gegenüber religiöser Unmittelbarkeit« (216) nicht in die Arme Hegels, d. h. einer spekulativen Aufhebung im Begriff. Kierkegaards »Ontologie der Subjektivität« ist »nicht systematisch, sondern erfahrungsorientiert epigrammatisch« (227, im Anschluss an W. Anz). D. sieht darin die Modernität der Existenzhermeneutik Kierkegaards, die einen dritten Weg neben Hegels und Schleiermachers Konzeptionen darstellt (der sich für D. dann als anschlussfähig im Blick auf den modernen Pragmatismus erweist).
Im Blick auf das Verständnis von Existenz und Freiheit ist Kierkegaards Begriff der Angst maßgebend (233–241), diese verstanden als »Zweideutigkeit« (235), nämlich »zweideutige Befangenheit der Freiheit« (236; hildet Frihed). Die Subjektivitätstheorie Kierkegaards (zum Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält KzT A,a vgl. 579–585) hat nach D. ihre Pointe darin, »dass er den idealistischen Subjektbegriff […] ebenso meidet wie die romantische Gefühlsunmittelbarkeit und an deren Stelle eine Analytik des menschlichen Selbst vornimmt« (99), das er als im Werden begriffen konzipiert (100). Dass nach Kierkegaard die (reine?) Subjektivität die Wahrheit sei, führte Adorno zu dem Missverständnis einer »objektlosen Innerlichkeit« (14). Dieser fruchtbaren Fehlinterpretation setzt D. eine Analyse des Spätwerks Kierkegaards (1848–1855) entgegen: Spätestens dort zeigt sich die – vermeintlich »objektlose« – Innerlichkeit durchaus kämpferisch und »dialektisch; sie hat ihr Gegenüber in den falschen Objektivationen von Massengesellschaft, Geld, öffentlicher Meinung« (Presse, Mode, ideologischem Zwang, etc.; 15). Die konsequente Nachfolgeethik treibt Kierkegaard hier zur radikalen Kritik des Bestehenden. Diese stellt aber nach D. nur einen ›Nebenkrater‹ der Ethik Kierkegaards dar. Seine »wirkliche Ethik« finde sich 1847 in »Die Taten der Liebe« (109 ff.) – m. E. eine durchaus vertretbare These.
Im Blick auf die Christologie analysiert D. die Rede Kierkegaards vom gekreuzigten Gott (256), verbunden mit der Bedeutung des Christusbildes (257, cf. 475). Von seiner Auslegung der Reden Kierkegaards kommt er (ebd.) zu der Quintessenz, Kierkegaard eröffne »implizit eine Christologie, die in der Wirkungskraft des Christusbildes die traditionelle Lehre von Person und Werk neu zu fassen empfiehlt« (270). Kierkegaards Theorie der Realpräsenz wird – »metaphysikfrei« – im Sinn einer personalen »Repräsentation Gottes« verstanden. Eben in dieser anti-metaphysischen und anti-idealistischen Tendenz (cf. 427) sieht D. die Modernität Kierkegaards und seine Anschlussfähigkeit für Pragmatismus und moderne Religionsphilosophie (die er selbst im Anschluss an W. James und Ch. Peirce entwickelt).
D.s Verdienst im Blick auf Kierkegaard liegt nicht nur darin, eine solide, philologisch und historisch-kritisch anspruchsvolle Werk­edition mit auf den Weg gebracht zu haben, vielmehr ist es auch sein großes Verdienst, die Kierkegaard-Forschung aus der Sackgasse herausgeführt zu haben, in die sie durch Adornos »Konstruktion« (1933) geraten war (die ja nicht nur fehlinterpretierte, sondern von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Kierkegaards Anliegen und Konzeption schnurstracks wegführte). Und im Gegenüber zu K. Barth, H. Diem und anderen Vertretern der Dialektischen Theologie (cf. 69 f.) nimmt er den »ganzen« SK in den Blick, nicht nur Climacus’ steiles Konzept einer unendlichen Gott-Mensch-Dia­stase. Zudem erweist sich D.s Kierkegaard-Interpretation erfreulich resistent gegenüber jeder – geistigen oder sprachlichen – Na­tionaltümelei (sei es skandinavisch-nordischer, O. P. Monrad u. a., oder deutsch-germanischer Provenienz, E. Hirsch u. a.). Diese drei Verdienste prägen auch den Wert seiner hier versammelten Beiträge.
Im II. Teil (B) des Bandes finden sich weitere 15 Aufsätze zur »Inspiration des Pragmatismus« (291), aber auch solche, die weder hierzu noch zu Kierkegaard gehören, z. B. die Tübinger Antrittsvorlesung 1978 zur Korrelation von Luthers Auslegung von Röm 7 (den totus homo aus christlicher Perspektive, den D. materialis­tisch versteht; 301) und seiner These vom servum arbitrium angesichts der exegetischen Debatte zum Subjekt (Ich) von Röm 7,14–25 (293–321) – ein sachkundiger, immer noch lesenswerter Vortrag. Der Aufsatz über »Gottes Handeln« (zuerst 1987) versucht dieses im Blick auf die Soteriologie als »personalisierte Ausdrucksgabe von dem, was wir erfahren« (344) zu fassen, d. h. ganz subjektivitäts­theoretisch. Dieser Ansatz ist originell und elegant, lässt aber die geschichtlich objektive Seite ganz über Bord gehen. Gottes Handeln bleibt D. letztlich verborgen in einer rein subjektiven, innerlichen »Existenzerfahrung«, d. h. »in der religiösen Subjektivität des Nachempfindens« (350 f.).
Im Blick auf Thomas Manns Josephsroman finden sich interessante Notizen (1988) zum Mythosbegriff (356–364.378 f.) und zu Th. Manns dünnem – ganz im Ästhetischen und Abstrakten verbleibenden – Begriff von Religion als Achtsamkeit und Behutsamkeit gegenüber dem »Weltgeist« (375, Anm.112; D.: »zu großflächig angelegt«). Ferner finden sich Beiträge zur Systemtheorie N. Luhmanns, zur Semiotik (Ch. Peirce; P. Tillich), zum Verhältnis von Rechtfertigungsglauben und guten Werke, zu W. James’ Pragmatismus, zur Trinität (2006, zu Moltmann: 80.). Die Beiträge sind in beiden Teilen (A, B) jeweils chronologisch geordnet und decken ein Spektrum von ca. 30 Jahren wissenschaftlicher Produktivität ab. Der Glaube wird bei D. steil subjektivitätstheoretisch verstanden, weshalb der Kirchenbegriff unterbelichtet und – wie schon bei I. Kant – ethizistisch verengt ist (465), aber auch eine Reflexion auf die Mitte der Schrift (Schriftprinzip) viel zu kurz kommt (Gottes Handeln vollziehe sich »allein durch das Wirken des Geistes« in der »auch kirchlich unverfügbaren Personalität […]«: 457 f. – dies war ja nicht Luthers Auffassung, sondern die der Schwärmer).
Der nicht ganz billige Band ist ansprechend und gewissenhaft ge­staltet. Freilich hätte man sich für eine Geburtstagsgabe etwas we­niger von und über Kierkegaard und dafür mehr von und über D. selbst gewünscht, z. B. eine aktuelle Auflistung seiner Werke (auch, um die 30 Aufsätze dort einordnen zu können), eine Zuordnung zu seiner Biographie und womöglich auch ein vorangestelltes Porträt. All das fehlt; stattdessen findet sich 664 ff. ein komplettes Werkverzeichnis Kierkegaards (auch sinnvoll) sowie ein Namenregister, das die Handhabung sehr erleichtert. Dass mit diesem schönen Band eine Reihe von wichtigen Forschungsbeiträgen D.s nicht nur in Amerika oder Dänemark, sondern auch hierzulande leicht zugänglich wird, ist mit ein großes Verdienst der Herausgeber.