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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

69–72

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Moxnes, Halvor

Titel/Untertitel:

Jesus and the Rise of Nationalism. A New Quest for the Nineteenth-Century Historical Jesus.

Verlag:

London/ New York: Tauris 2012. XI, 270 S. 23,3 x 15,5 cm. Lw. £ 54,50. ISBN 978-1-84885-080-4.

Rezensent:

Christian Danz

Jedes Bild der Geschichte ist eine gegenwartsgebundene Konstruktion, in der Ereignis und Deutung ununterscheidbar verwoben sind. Im Anschluss an David Friedrich Strauß’ epochales Leben Jesu von 1835/36 hatte Albert Schweitzer in seiner forschungsgeschichtlichen Bilanz der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung diese Einsicht kritisch auf die diversen Versuche einer Rekonstruktion des Lebens des Nazareners seit der Aufklärung angewandt. In der Jesusforschung – so die grundlegende Beobachtung Schweitzers – überlagern sich nicht nur ein historisches und ein religiöses Interesse, sondern das gegenwartsbezogene religiöse Interesse steuert auch die historische Frage. Aus diesem hermeneutischen Zirkel resultiert die kritische Einschätzung Schweitzers, dass die von der historischen Jesusforschung zutage geförderten Bilder mehr über ihre Autoren verraten als über den Wanderprediger aus Galiläa. Diese von Schweitzer geltend gemachte methodische Einsicht in das Überlagerungsverhältnis von Religion und Historie hat der Osloer Neutestamentler Halvor Moxnes in seinem hier anzuzeigenden Buch Jesus and the Rise of Nationalism. A New Quest for the Nineteenth-Century Historical Jesus aufgenommen und die historische Jesusforschung vor dem Hintergrund der Debatten über den Na­tionalismus und die Erfindung der Nation im 19. Jh. beleuchtet. Herausgekommen ist dabei ein spannendes Buch, welches im Ho­rizont der Darstellungen des Nazareners durch europäische Autoren des 19. Jh.s zeitgenössische Diskurse über die nationale Identität und die Sehnsucht nach nationaler Ganzheit rekonstruiert.
M. gliedert seine Untersuchung in sieben Abschnitte. Die Einleitung (Jesus and Modern Identities, 1–16) informiert über die Intentionen seines Projektes in Abgrenzung von Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Dabei greift er auf die Untersuchungen zur Genese des Nationalismus im 19. Jh. zurück und folgt dabei insbesondere den Untersuchungen von John Breuilly, Benedict Anderson und vor allem von Bernhard Giesen (Intellec­tuals and the Nation: Collective Identity in a German Axial Age). Mit ihnen versteht er den Nationalismus als Konstruktion und Imagination (10.193), denen die Funktion der Identitätsbildung sowie der Normierung des soziokulturellen Lebens zukommt. Aus dieser kulturhermeneutisch erweiterten Perspektive resultiert die Differenz zu Schweitzers Rekonstruktion der Forschungsgeschichte. Dessen These, dass sich jede Zeit in Jesus wiedergefunden hat, wird von M. auf die europäischen Debatten über Nation und kulturelle Identität entschränkt. Aus dieser Perspektivenerweiterung resultiert dann auch eine andere Wahrnehmung von Autoren, wie etwa Ernest Renan, dessen abschätzige Würdigung durch Schweitzer aus den Diskursen über Nation, Eigenes und Fremdes verständlich wird (vgl. 122 f.).
Die beiden ersten Kapitel des Bandes – Writing a Biography of Jesus in an Age of Nationalism (17–38) und Holy Land as Homeland: The Nineteenth-Century Landscape of Jesus (39–60) – erörtern die methodischen Grundlagen zu den in den weiteren Kapiteln folgenden Fallstudien zu Friedrich Schleiermacher, David Friedrich Strauß, Ernest Renan und Georg Adam Smith. Seit Schleiermachers Vorlesung über das Leben Jesu von 1819 bildet die Biographie das Modell für eine Rekonstruktion des Lebens des Nazareners. Die Ablösung des kirchlichen Dogmas durch das moderne Konzept der Biographie rückt M. in den politischen Kontext der Französischen Revolution. In dem sich etablierenden Bürgertum erlangt die literarische Gattung der Biographie eine grundlegende Funktion zur Vergewisserung der eigenen politischen Funktion und zur Bildung neuer politischer Eliten (26–28).
Das hohe Interesse an Biographien im beginnenden 19. Jh. ist »linked to the idea of a nation« (28). Das zweite Kapitel beleuchtet eindrücklich die Beschreibungen Palästinas im 19. Jh. durch Wissenschaftler und fromme Glaubenstouristen, die – mit den neutes­tamentlichen Evangelien ›vor Augen‹ – das Heilige Land bereisen. Es wird von euroamerikanischen Pilgern denn auch durchweg als »homeland« beschrieben. Alte religiöse Deutungsschemata, konfessionelle Polemiken (56) sowie der Stand der Evangelienforschung mit zunehmender Bevorzugung der Synoptiker gegenüber dem Johannesevangelium präformieren die Wahrnehmung und Imagination Palästinas als Nation und kulturelle Einheit. Die Be­schreibungen des Holy Land werden zum Medium der Verständigung und der Vergewisserung der eigenen national-kulturellen Identität. Es kann indes keine Identität ohne Differenz geben. Auch die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden ›sehen‹ die frommen Glaubenstouristen in Palästina: die für das Deutschland des 19. Jh.s signifikante Differenz zwischen dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden finden sie in der Differenzierung zwischen dem ›lichten‹ Galiläa und dem ›dunklen‹ Jerusalem (53.59 f.) wieder.
Dem Leben Jesu von Schleiermacher ist das dritte Kapitel der Studie gewidmet (Imagining a Nation. Schleiermacher’s Jesus as Teacher to the Nation, 61–93). Luzide rekonstruiert M. den Hintergrund der Debatten über die nationale Einheit Deutschlands im Kontext der napoleonischen Kriege in dem Jesusbild des Berliner Theologen. Jesus wird von Schleiermacher ähnlich wie Friedrich der Große als »Great Man« (69–78) und als Lehrer der Nation (79–84) verstanden. Mit seiner Bevorzugung des Johannesevangeliums sowie der Botschaft Jesu vom Reich Gottes imaginiert Schleier­-macher die Einheit einer Nation. Im Unterschied zu dem Berliner Theo­logen präsentiert David Friedrich Strauß in seinem Leben Jesu das Bild einer protestantischen Nation (A Protestant Nation. D.F. Strauß and Jesus for ›The German People‹, 95–120). Auch in dem Jesusbild, das Strauß in seinen verschiedenen Überarbeitungen seines frühen Meisterwerkes bis hin zu Das Leben Jesu. Für das deutsche Volk bearbeitet sowie der knappen Skizze in seinem Buch Der alte und der neue Glaube zeichnet, spiegeln sich zeitgenössische Debatten wider. Bei dem ehemaligen Tübinger Stiftsrepetenten tritt das Johannesevangelium als Geschichtsquelle zugunsten der Synoptiker zurück, so dass der Gegensatz von Galiläa und Jerusalem betont wird. Diesen zeichnet Strauß in seinen Darstellungen des Lebens des Mannes aus Nazareth in den Farben des konfessionellen Gegensatzes von Protestanten und Katholiken und verbindet ihn in seinem Spätwerk mit den zeitgenössischen Debatten über einen klein- oder großdeutschen Staat (vgl. 103–105). Mit an­deren liberalen Intellektuellen seiner Zeit konstruiert er eine Entwicklungslinie von Jesus über Luther zu Bismarck. Dabei wird die frühere demokratische Gattungschristologie der Erstauflage von Strauß zunehmend durch das konservative Bild des großen Mannes ersetzt (vgl. 103).
Sowohl Ernest Renan (›Familiar and Foreign‹. Life of Jesus in the Orientalism of Renan, 121–147) als auch George Adam Smith (The manly Nation. Moral Landscape and the National Character in George Adam Smith’ The Historical Geography of the Holy Land, 149– 178) haben im Unterschied zu Schleiermacher und Strauß Reisen nach Palästina unternommen. Mit dem Topos eines fünften Evangeliums beschreibt Renan die Eindrücke seiner Syrienexpedition von 1860/61. Sie führte ihn auch in das Heilige Land. »I had before my eyes a fifth Gospel, torn but still legible« (126). Die Betrachtung der Landschaft offenbart gleichsam den großen Mann aus Galiläea. Die Imagination von Eigenem und Fremdem schlägt sich auch bei Renan in dem Kontrast zwischen Galiläa und Jerusalem nieder. Galiläa ist für den ehemaligen Studenten der katholischen Theo­logie der ideale Orient und der Ursprung der Humanität (129 f.). »For Renan, Galilee and Jerusalem prefigured the contrast between French nation, representing humanity, versus the Muslim Orient, or even Germany as a nation, based on race. Renan’s Jesus was shaped by Galilee, but at the same time he was a ›great man‹ who initiated a new humanity without racial divisions.« (177) Der schottische Theologe Smith zeichnet am Ende des 19. Jh.s in seinem Buch The Historical Geography of the Holy Land (1894) Galiläa in den Farben des von sozialen Konflikten zerrissenen viktorianischen Britanniens. Auch er lokalisiert Jesus »in Galilee, surrounded by the Greek and Roman World, the relationship between Jesus and these places becomes part of ›the reality of His Manhood‹. These Galilean villages are more than distant historical places; they are drawn into the same process of identification with the readers as Jesus himself.« (153) Das galiläische »homeland«, welches der britische Theologe in den 1880er Jahren besuchte und kartographierte, ist ihm ähnlich wie Renan eine Offenbarung des Galiläers im Kontrast zu Jerusalem. Smith porträtiert Jesus als einen jungen Mann, der die Versuchungen von »sex and success« überwindet und das notwendige Ideal repräsentiert, »to build both a person and a nation and with them an empire« (178). Seine »moral geography« (159–163), die er in The Historical Geography of the Holy Land skizzierte, spielte eine wichtige Rolle bei der Neugestaltung der politischen Landschaft des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg (vgl. 53.155).
Das letzte Kapitel des Bandes diskutiert Jesus Beyond Nationalism. Imagining a Post-National World (179–198). Jede Darstellung des historischen Jesus ist eine gegenwartsbezogene Konstruktion. Auch in den neueren Debatten spiegeln sich unvermeidlich gegenwärtige Diskurse über Identitätskonstruktionen in einer globalen Welt. So tragen die in jüngster Zeit vorgebrachten Vorschläge, auf den Religionsbegriff als Deutungskategorie für das antike Judentum zu verzichten und es durch ein Ethnizitätsmodell zu ersetzen (185 f.), unverkennbar die Züge postmoderner und postkolonialistischer Religionsdebatten, in denen der Religionsbegriff als ›westliches‹ Konstrukt entlarvt wird.
Die Studie von M. bietet insgesamt eine interessante Darstellung der Jesusforschung des 19. Jh.s, deren Reiz in der europäischen Perspektive liegt. Ob man sein Unternehmen allerdings als »New Quest« titulieren muss, wie es der Untertitel des Buches suggeriert, mag man bezweifeln. M. rekonstruiert im Grunde genommen lediglich den bereits von Strauß und Schweitzer herausgearbeiteten Projektionscharakter der Jesusdarstellungen im Kontext der Debatten um Kultur und nationale Identität. Ärgerlich ist, dass M. Schweitzers Behauptung ungeprüft folgt, dass Schleiermacher 1819 der Erste gewesen sei, der eine Vorlesung über das Leben Jesu gehalten habe (vgl. 17.61). Um 1800 gab es einen förmlichen Boom an derartigen Vorlesungen. In den 1790er Jahren las beispielsweise Johann Wilhelm Schmid an der Jenaer Universität mehrfach über das Leben Jesu.