Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

66–69

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dockwiller, Philippe

Titel/Untertitel:

Le temps du Christ. Cœur et fin de la théologie de l’histoire selon Hans Urs von Balthasar. Préface de V. Holzer.

Verlag:

Paris: Cerf 2011. XV, 356 S. 21,5 x 13,4 cm = Cogitatio fidei, 280. Kart. EUR 37,00. ISBN 978-2-204-09451-1.

Rezensent:

Manfred Lochbrunner

Der Titel der Promotionsschrift »Die Zeit Christi. Herz und Ziel der Theologie der Geschichte nach Hans Urs von Balthasar« des inzwischen an der »Université catholique de Lyon« dozierenden Dominikaners Philippe Dockwiller (*1971) evoziert die beiden einschlägigen Arbeiten des Basler Theologen: »Theologie der Geschichte. Ein Grundriss« und »Das Ganze im Fragment. Aspekte der Geschichtstheologie«. Das erste, in der Reihe »Christ heute« des Johannes Verlags 1950 erschienene Opusculum hat eine Vorgeschichte. Ihm liegt der improvisierte Vortrag zugrunde, den Balthasar auf der 2. Beu­-ro­ner Hochschulwoche am 20. September 1949 gehalten hat, als er für einen plötzlich verhinderten Referenten einspringen musste. Joseph Bernhart, der das Koreferat übernommen hatte, notiert in seinem Taschenkalender seinen Eindruck von Balthasars Vortrag: »Sehr bedeutend, aber für alle Teilnehmer zu hoch und schwer.« Und am 28. Oktober 1949 meldet Balthasar dem Philosophen: »Den Beuroner improvisierten Vortrag versuche ich auf eine solidere Basis zu stellen, aber ich bin mir nicht klar, ob ich, während ich die Aussicht zu genießen meine, in Wahrheit schon jammervoll abgestürzt bin« (zitiert bei M. Lochbrunner, Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde, Würzburg 2005, 104). Die dann maßgebliche Fassung des Opusculums liegt mit der dritten Auflage von 1959 vor, die eine wirkliche Neufassung ist, bei der wesentliche inhaltliche Aussagen dazugekommen sind. Mit Recht gilt dieses Opusculum als das spekulativste Werk aus der Feder Balthasars. Der Titel des zweiten Werkes »Das Ganze im Fragment« (1963) ist inzwischen zu einer Kurzformel der Geschichtsphilosophie avanciert.
Das Charakteristikum der Arbeit von D. besteht darin, dass er seine Untersuchung nicht auf die beiden Werke beschränkt, sondern sie im Gesamtœuvre loziert und dabei einen gewaltigen Parcours abschreitet, der von der patristischen Studie über Gregor von Nyssa (1942), der Barth-Monographie (1951), den Übersetzungen von Calderóns de la Barca »Das große Welttheater« (1959) und Claudels »Der Seidene Schuh« (1939) zur »Theodramatik« (1973–1983) führt. Dieser lange Weg wird in drei Hauptteile gegliedert. Zu je­dem Teil gehören je drei Kapitel. Auf den ersten Blick wird klar, dass für D. die »Theodramatik« den wichtigsten Bezugspunkt bildet.
Das erste Kapitel klärt anhand der patristischen, von Anfang an auf Französisch verfassten Studie »Présence et Pensée. Essai sur la philosophie religieuse de Grégoire de Nysse« (N. B. eine deutsche Übersetzung dieser wichtigen Frühschrift steht immer noch aus!) Balthasars Hermeneutik historischer Texte und stellt erhellende Verbindungen zu Hans-Georg Gadamers Hauptwerk »Wahrheit und Methode« und zu Paul Ricœurs »Temps et Récit I–III« her.
Wie de Lubac mitteilt, geht die Arbeit noch auf Balthasars Studienzeit (Mai 1935) zurück. Im Druck erschien sie dann im November 1942, etwa zeitgleich mit dem ersten Band der »Sources Chrétiennes«, Daniélous Übersetzung der »Vie de Moïse« des Gregor von Nyssa. Das Vorwort zu »Présence et Pensée« sollte bald zum Anlass werden, auch Balthasar in die vom Dominikaner Marie-Michel Labourdette gegen die Jesuiten von Fourvière lancierten Modernis­mus-Anklagen hineinzuziehen. In einem Brief vom 1. Juli 1947 an La­bour­dette hat sich Balthasar gegen die Kritik verteidigt, indem er auf seinen Freund Gaston Fessard verwies, der das inkriminierte Vorwort überarbeitet habe. So blieb ihm dann erspart, eine Zielscheibe der weiteren Angriffe zu werden, von denen seine Lyoner Freunde hart getroffen worden sind. Im zweiten Kapitel wendet sich D. der Barth-Monographie Balthasars zu. Das Gespräch mit Karl Barth markiert nicht nur eine wichtige Station auf dem langen Weg zum ökumenischen Dialog zwischen den Konfessionen, sondern hat zugleich für die Ausformung von Balthasars Theologie einen zentralen Stellenwert. Von Barth übernimmt er das christologische Strukturelement, das für die Geschichts­-t­heologie bestimmend wird. Deshalb ist es folgerichtig, wenn das dritte Kapitel die Aufmerksamkeit auf die Christologie Balthasars richtet, vornehmlich wie sie in den Bänden der »Theodramatik« entfaltet wird.
Im zweiten Hauptteil geht es darum, »die Gültigkeit der Vermittlung des Theaters als Erkenntnisweg zu erklären« (143). Diese Erklärungen sind meines Erachtens der originellste Teil der Arbeit. Das vierte Kapitel reflektiert über den Ort als wichtige Kategorie des Theaters und übernimmt von der Mimesis-Theorie Paul Ricœurs einige Anregungen. »Das Theater eröffnet den Zugang zu einer Erfahrung, die es außerhalb von ihm nicht gibt, und die keine in Literatur gestaltete Abstraktion zu geben vermag« (153). Das fünfte Kapitel wendet sich dem Topos »Welttheater« zu und konstatiert in dem geschichtlichen Abriss, den Balthasar in TD I, 121–238 vorgelegt hat, eine Lücke, die das Jesuitentheater betrifft. D. vermutet, dass der Basler Theologe die apologetische und didaktische Verzwe­ckung dieses Schultheaters nicht sonderlich geschätzt hat. Aber die Lücke wird kompensiert dank der Elemente, die durch die Spiritualität der »Exerzitien« des Ignatius zum Projekt einer Theodramatik beigesteuert werden, namentlich die compositio loci und die applicatio sensuum. Im sechsten Kapitel werden die theoretischen Reflexionen an zwei herausragenden Bühnenwerken konkretisiert. Die erste Betrachtung gilt dem Stück des spanischen Priesterdichters Pedro Calderón de la Barca, das Balthasar übersetzt und 1959 in der Reihe »Sigillum« seines Johannes Verlags veröffentlicht hat.
Nur am Rand sei erwähnt, dass seine Neuübersetzung eigentlich für die »Einsiedler Festspiele 1959« vorgesehen war, aber die Festspielleitung sich dann doch für den vertrauten Eichendorff-Text entschieden hat, da sie befürchtete, dass Balthasars Text die Fähigkeiten von Laienspielern überfordern könnte (vgl. M. Lochbrunner, Hans Urs von Balthasar als Autor, Herausgeber und Verleger, Würzburg 2012, 217–220). Auch wenn zwischen der Abfassung des »Gran teatro del mundo« und des »Soulier de Satin« fast drei Jahrhunderte liegen – die Bühne Claudels ist gleichfalls eine barocke. Was die Datierung der deutschen Erstaufführung des »Seidenen Schuhs« betrifft, hat sich D. (193.241) von der Behauptung Balthasars, die dieser irrtümlich im Interview mit Angelo Scola gemacht hat, täuschen lassen. Tatsache ist, dass die Zürcher Erstaufführung am Samstag, dem 10. Juni 1944 stattgefunden hat, während die legendäre Pariser Uraufführung unter Jean-Louis Barrault bereits am 27. November 1943 er­folgt war. Ich habe im Stadtarchiv Zürich die Archivalien der Erstaufführung im Rahmen der »Zürcher Theaterwochen 1944« eingesehen und auch noch Maria Becker, die damalige Darstellerin der Proëza, kontaktiert. Am Datum des 10. Juni 1944, also nach der Pariser Uraufführung, kann es keinen Zweifel ge­ben. Die Regie führte Kurt Horwitz, mit dem Balthasar im Vorfeld die be­trächt­lichen Kürzungen besprochen hatte. An der Regie beteiligte er sich jedoch nicht, wie mir Frau Becker bestätigt hat. (Die Ausführungen auf S. 193/194 entsprechen also nicht der historischen Wahrheit.) Während die eschatologische Geschichtsschau Calderóns unter theologischer Hinsicht kritisiert werden muss, gelingt Claudel im Fluss der horizontalen Bühnenzeit der Durchbruch in die Vertikale. Ein Exkurs stellt die Frage, ob auch in der Bibel die Kategorie des Theatralen zu finden sei, und besinnt sich auf die Davidsgeschichte mit ihren Peripetien bei der Thronfolge. Zu einem Monotypienzyklus des österreichischen Graphikers Hans Fronius über »König David« hat Balthasar einen einfühlsamen Text verfasst (1955), in dem das Drama des Königs nacherzählt wird.
Der dritte Hauptteil steuert auf das Ergebnis der Untersuchung zu. Das siebente Kapitel betrachtet eine Thematik, die in der Sekundärliteratur unter dem Stichwort »Theologie der Heiligen« schon mehrmals behandelt worden ist. Die geschichtsmächtigen Heiligen sind für den Basler Theologen die stets aktuellen Ausleger der göttlichen Offenbarung in der Kirche. Das achte Kapitel unterscheidet zwei literarische Gattungen, mit denen das Neue Testament das Heilsgeschehen überliefert: die Evangelien und die Apokalypse des Johannes. In den Evangelien ist Jesus von Nazaret die Hauptfigur, in der Offenbarung das seit Ewigkeit geschlachtete Lamm. Die Evangelien zeigen, wie im Christusereignis innerhalb der Geschichtszeit das Ende der Zeit bereits erreicht und vorweggenommen wird. Die Apokalypse dagegen richtet die Geschichtszeit auf ihre Vollendung aus. Das neunte Kapitel zieht die Summe der Untersuchung. Der Gedankengang führt von der dramatischen Soteriologie, die bei Balthasar um den Begriff der Stellvertretung zentriert wird, zur Gehorsamschristologie des eingeborenen Sohnes des Vaters, um von dort ein »Fenster« (vgl. 226) in die immanente Trinität zu öffnen. Zum Terminus »Überzeit Gottes« erklärt D. richtig: »Diese Ausdrücke zielen auf die Behauptung, dass es gerade die geschaffene Zeit ist, die in Gott enthalten ist, dass es gerade die Geschichte ist, die in Christus aufgenommen ist, ohne dass das soviel heißt, als ob Gott verzeitlicht sei oder sich als Ge­schichte begreifen lasse« (290). In einem Aufsatz hat D. das Ergebnis seiner Untersuchung mit dem Begriff »analogie théâtrale« fokussiert, den er in Abgrenzung vom philosophischen Begriff der »analogia entis« als eine hermeneutische Kategorie versteht (vgl. Analogia entis et »analogie théâtrale« à l’épreuve de La Dramatique di­-vine, in: Revue catholique internationale Communio 36/3 [2011] 61–74). Eine Bibliographie und ein Personenregister beschließen die Arbeit. Vincent Holzer hat sie mit einem Vorwort gewürdigt. Seinem Urteil ist zuzustimmen: »Wir stehen vor einer Grundlagenstudie, die ihren Platz unter den besten Untersuchungen über den Theologen von Luzern einnimmt« (XV). (Die Zitate aus dem Französischen sind von mir übersetzt worden.)
Ein Hinweis anlässlich der Besprechung dieser Arbeit drängt sich mir auf. Wenn man die Balthasar’schen Texte im Spiegel ihrer französischen Übersetzung liest, stellt sich immer wieder ein irritierender Verfremdungseffekt ein. Ich möchte mir nicht anmaßen, die sprachliche Qualität der französischen Übersetzungen zu beurteilen (bei der monumentalen Trilogie waren mindestens acht namentlich genannte Übersetzer beteiligt, doch der weitaus größte Löwenanteil stammt von R. Givord), aber mir sind öfters auch inhaltliche Bedenken gekommen, ob die Übersetzung die Nuancen der deutschen Vorlage wirklich wiedergibt. Beim Studium der Korrespondenz zwischen Balthasar und de Lubac ist mir aufgefallen, wie oft jener über die Übersetzungen geklagt hat. Mehrmals bittet er de Lubac darum, dass dieser ein wachsames Auge über die Texte walten lasse. Da aber bekanntlich de Lubac nur über rudimentäre deutsche Sprachkenntnisse verfügt hat, war er bei dieser Kontrollfunktion offenkundig überfordert.