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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

64–66

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bruns, Katja

Titel/Untertitel:

Anthropologie zwischen Theologie und Na­turwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein. Historische Grundlagen und systematische Perspektiven.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2011. 265 S. 22,5 x 16,0 cm = Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, 41. Geb. EUR 35,90. ISBN 978-3-7675-7143-3.

Rezensent:

Erdmann Sturm

Paul Tillich und Kurt Goldstein waren, je für sich, Klassiker der Interdisziplinarität. Tillich war ein Grenzgänger zwischen Theologie und Philosophie, Goldstein zwischen Biologie, Neurologie, Psychologie und Philosophie. Beide hatten sich 1928 auf den Davoser Hochschulkursen als Referenten kennen gelernt. Sie verband seitdem eine lebenslange, im gemeinsamen Exil seit 1933 vertiefte Freundschaft. Auf die Bedeutung Goldsteins für Tillichs Anthropologie hatte bereits Karin Grau in ihrer Studie »Healing Power« – Ansätze zu einer Theologie der Heilung im Werk Paul Tillichs (Münster 1999, 175f.) aufmerksam gemacht. Tillich selbst konnte 1959 in einer Würdigung Goldsteins darauf verweisen, dass der Einfluss Goldsteins auf sein eigenes Denken sich in seinem Buch The Courage to Be (1952) zeige und noch deutlicher im Teil IV seiner Systematic Theology von 1963 (unter dem Titel Life and Spirit) hervortreten werde. Gemeint ist Goldsteins Anthropologie, vor allem sein Begriff der Freiheit, den er biologisch und philosophisch verankert (durch seine klinischen Studien zur Aphasie Hirngeschädigter und durch seine Rezeption der Sprachphilosophie E. Cassirers bzw. W. von Humboldts). Goldstein, so Tillich in seiner Laudatio auf seinen Freund, sei zwar kein Religionsphilosoph, aber es gebe wenige Gelehrte, denen die Religionsphilosophie mehr verdanke als ihm (vgl. GW XII, 308 f.).
Diesen Übereinstimmungen im Denken der beiden auf so unterschiedlichen Arbeitsgebieten tätigen Gelehrten geht die von Katja Bruns verfasste, im Jahre 2008 von der Theologischen Fakultät Göttingen unter dem Titel »Von der Freiheit des Organismus. Theologie und Naturwissenschaft im Dialog zwischen Paul Tillich und Kurt Goldstein« angenommene Dissertation nach.
Die Arbeit besteht aus drei Kapiteln, von denen Kapitel I Tillichs im System der Wissenschaften von 1923 entwickeltes Wissenschaftskonzept, Kapitel II Goldsteins Organismustheorie und Kapitel III die Übereinstimmung und Differenz im Denken von Goldstein und Tillich behandeln. B. leistet also, bevor sie in dem auffallend kurzen Kapitel III den »Austausch« bzw. »Dialog« zwischen beiden Gelehrten untersucht, eine breit angelegte Arbeit im Vorfeld, d. h. sie klärt ausführlich die wissenschaftssystematischen Voraussetzungen und Grundlagen beider, wobei sie auch die zeitgenös­sischen geistesgeschichtlichen Kontexte ausleuchtet.
Das Hauptgewicht der Arbeit, jedenfalls dem Umfang nach, kommt der Darstellung der im System der Wissenschaften vorliegenden frühen Wissenschaftssystematik Tillichs zu (Kapitel I, 15–114). B. selbst sieht in Tillichs Bestimmung der Wissenschaften als »Tatsachen« und zugleich als »Schöpfungen des Geistes« bzw. als empirisch und als normierend die grundlegende Bestimmung seines Wissenschaftsbegriffs.
In ihrer Analyse der Wissenschaftssystematik Tillichs unterscheidet sie zwei Ebenen, einmal die Ebene der Elemente der Einheit (Denken, Sein und Geist) (26–80), sodann die Ebene der Elemente der Differenz (Gestalt und Sinn) (81–114). Dabei kommt die zwischen den Neukantianern und den Phänomenologen geführte Debatte über die Zuordnung und das Verständnis der Psychologie in den Blick. Das Element des Denkens wird im Kontext des Neukantianismus ausführlich erörtert, ebenso das Element des Seins im Zusam­menhang mit der Rezeption phänomenologischer Ansätze (38–58). Dabei wird die Dresdner Dogmatik-Vorlesung Tillichs von 1925–1927 in die Interpretation einbezogen. Die Darstellung von Tillichs Konzept des Geistes und seines Verhältnisses zum Denken und Sein wird mit den Positionen W. Diltheys und H. Rickerts verbunden. Die Grundstrukturen der Funktion des Unbedingten werden mit dem Konzept des Übergegensätzlichen bei E. Lask konfrontiert (71–75). Schließlich wird der Gestaltbegriff als Fundamentalbegriff der Systematik Tillichs beschrieben (86–88). So sind die Gestaltwissenschaften, zu denen die »organischen Wissenschaften« (Biologie, Psychologie, Soziologie) und die von ihnen abgeleiteten »technischen Wissenschaften« zählen, ein genuin Tillich’sches Konzept, während die Gesetzes- und Folgewissenschaften den Kate­go­rien des Physikalischen und Historischen entsprechen.
Es folgt die Darstellung der Methoden und der Konzeption der Geistes- oder Normwissenschaften. Im Zentrum steht der Sinnbegriff. Auch dieser wird in den Kontext der zeitgenössischen Diskussion (G. Frege, E. Husserl, H. Rickert) hineingestellt. B. betont aber hier das Bemühen Tillichs, »die Unterschiede seiner eigenen Vorstellungen darzulegen, die vom Konzept der Metalogik getragen sind« (106). Es folgen Ausführungen zur metalogischen Geisteswissenschaft, zur Metaphysik, Religionsphilosophie und Theologie.
Ab­schließend greift B. die Beschreibung des Verhältnisses von Seins- und Geisteswissenschaften Tillichs auf. Für die Seinswissenschaften gelte, dass in jeder Gestalterkenntnis zwei Elemente zusammenkommen: die Wahrnehmung der Erscheinungen und die Erfassung des Wesens. Tillichs These, das Wesen könne zwar nicht abgesehen von seiner Erscheinung »erschaut« werden, »sondern in den Erscheinungen und durch die Erscheinungen hindurch wird mittels der Sinnprinzipien das Wesen erschaut« (GW I, 286), kommentiert B. so: Das empirische Material habe »auf das unmittelbare und ausschließliche Verständnis des Wesens […] primär keinen Einfluss«, es übe aber »in der Kombination mit und unter der Maßgabe geisteswissenschaftlicher Prinzipien […] sehr wohl Einfluss auf die geisteswissenschaftliche Wesenserfassung aus« (113). Das Verhältnis zwischen beiden Elementen werde von Tillich »letztlich als ein im steten Austausch sich vollziehender Prozess verstanden« (ebd.). Bereits hier begegnen wir also dem Begriff »Austausch«.
Kapitel II der Untersuchung ist der Darstellung der Organismustheorie Goldsteins gewidmet (115–182). Einleitend werden Lebenslauf und philosophische Ausgangspunkte der Wissenschaftsmethodologie Goldsteins rekonstruiert (die Erkenntnistheorie Kants, die Naturauffassung Goethes, die Sprach- und Symboltheorie E. Cassirers). In der Rezeption Goldsteins durch E. Cassirer, namentlich in der Pathologie der Sprache (bei hirnverletzten Patienten Goldsteins), sieht B. »erhebliches Potential für allgemeine anthropologische Bestimmungen« (153). In Tillichs und Goldsteins Be­schäftigung mit der Biologie und Psychologie, vor allem in ihrer Problemdiagnose, gebe es »Ähnlichkeiten, Berührungspunkte und Differenzen« (181). Die Kritik am naturwissenschaftlichen Paradigma des 19. Jh.s verbinde sie. Tillichs »ontologische Vorstellung von der geistig strukturierten Welt als Voraussetzung ihrer Erkennbarkeit« mache – so B. – die Plausibilität, die Goldsteins bzw. Cassirers Symbolbegriff als »methodischer Zentralbegriff der Biologie« für Tillich annehmen könne, »nachvollziehbar« (182).
In Kapitel III zeigt Bruns nun, welche Richtungen beide Denker einschlagen (183–243). Sie wählt zwei Themenfelder aus, die im Zentrum der Anthropologie Tillichs und Goldsteins stehen. Das erste Thema ist der Zusammenhang von Angst, Furcht und Mut im Rahmen des Konzepts der Selbstaktualisierung des Menschen. Das zweite Thema ist der Begriff der Freiheit des Menschen. Beide Themen hatte auch Tillich in der genannten Würdigung Goldsteins hervorgehoben.
In der Ausführung des ersten Themas unterscheidet B. für ihre Darstellung drei Ebenen: 1. die unterschiedlichen Ausgangspunkte beider, 2. die Ebene der Differenz (bei G. »das stete Streben des Organismus nach dem Adäquatwerden zwischen sich und seiner Umwelt« [192], bei Tillich »der essenzielle Konflikt zwischen Sein und Nichtsein« [198], außerdem die Untrennbarkeit von Sein und Sinn und die Frage nach dem Woher des Mutes zum Sein), 3. die Ebene der Integration (208). Das Dass des engen wissenschaftlichen Austausches zwischen Tillich und Goldstein ist für B. »nicht weiter strittig« (208). Das Wie aber beschreibt sie reserviert und differenziert. Bezeichnend sei, »dass sich weder G. noch T. im Rahmen ihrer Konzeption trotz der deutlichen Anleihen […] die Plausibilitätsstrukturen der jeweils anderen Konzeption zu eigen machen, um ihre eigene Argumentation zu stützen […] Es geht offenbar keinem der beiden darum, sich die Plausibilität und Objektivität aus ihnen fremden wissenschaftlichen Diskursen zu leihen, obwohl beide in den Ergebnissen der Anderen eine Bestätigung sehen. Der Dialog wird nicht aus dem Empfinden eines Defizits der eigenen Konzeption und dessen möglicher Kompensation mit Hilfe der anderen Position gesucht« (210 f.). B. bezeichnet diese Art des Dialogs mit dem offenen und vagen Begriff »Austausch« (107.114.115.155 u. ö.).
Ähnlich geht B. auch mit dem zweiten Thema, dem Freiheitsbegriff, um. Für Goldstein ist, so zeigt sie, die Selbstaktualisierung des Organismus Mensch identisch mit der Verwirklichung seiner Freiheit, d.h. seiner Fähigkeit zur Haltung der Abstraktion, die am deutlichsten in der Sprachfähigkeit und im Symbolverstehen festzumachen ist. Diesen Gedanken nimmt Tillich auf und pointiert ihn als das Vermögen der Selbsttranszendierung, aber auch als die Freiheit, sich selbst und seiner essentiellen Natur zu widersprechen – ein Gedanke, der ihm seit seinen frühen Schelling-Studien vertraut ist und den er lediglich in seiner biologischen Begründung von Goldstein übernimmt.
Der Titel der Studie zielt auf die Anthropologie Tillichs und Goldsteins. Die Anthropologie begründet also den fächerübergreifenden Austausch beider, letztlich das Konzept der Einheit der Wissenschaft. Auf dieses Wissenschaftskonzept läuft die Untersuchung B.s über Tillich und Goldstein am Ende hinaus. In seinem Wissenschaftssystem von 1923 sieht Tillich die Einheit der Wissenschaften allerdings in der lebendigen Einheit und im Widerspruch von Denken und Sein.
Tillichs Wende zur Anthropologie belegt B. mit Texten aus seiner Spätzeit (1952 ff.). Die kürzlich publizierten Arbeiten Tillichs zur Anthropologie aus den Jahren 1934/35 (Lehre vom Menschen, in: P. Tillich, Frühe Vorlesungen im Exil [1934–1935], EW XVII, Berlin/Boston 2012, 157–347) sind geeignet, den in Kapitel III beschriebenen wissenschaftlichen Austausch zwischen Tillich und Goldstein um 20 Jahre, d. h. in die Anfangsjahre des gemeinsamen Exils, »vorzuverlegen« und das Ergebnis der Studie zur Anthropologie Tillichs zu bestätigen.