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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

57–59

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kolb, Robert

Titel/Untertitel:

Die Konkordienformel. Eine Einführung in ihre Geschichte und Theologie. Übers. aus d. Amerik. v. M. Mühlenberg.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2011. 207 S. 22,5 x 15,5 cm = Oberurseler Hefte. Ergänzungsbände, 8. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-7675-7145-7.

Rezensent:

Gunther Wenz

Trient, Genf und Kloster Berge: Unter diesem programmatisch zu nennenden Titel hat der bekannte Frühneuzeithistoriker H. Schilling in seinem Buch »Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648« (Berlin 1988) die Darstellung des Konfessionalisierungsprozesses im letzten Drittel des Reformationsjahrhunderts gestellt. Mit der tridentinischen Restauration des Katholizismus, dem Aufstieg des Calvinismus und der Formierung des deutschen Luthertums, wie sie sich mit der in Kloster Berge bei Magdeburg erarbeiteten Konkordienformel mehr oder minder definitiv vollzog, sind ihm zufolge die Eckdaten von Entwicklungen benannt, die bei äußerer Betrachtung vielfach konträr zu verlaufen scheinen, sich aber bei näherem Hinsehen als ein weitgehend paralleles, funktionsanaloges Geschehen zu erkennen geben. Die Ausdifferenzierung dreier bekenntnismäßig und rechtlich scharf abgegrenzter Konfessionskirchen sowie die fortschreitende Verfestigung ihres institutionellen und ideologischen Gegensatzes ist nach Urteil von Schilling zwar auch religiös-theologisch, aber im Wesentlichen durch andere Faktoren, nämlich durch einen politischen und soziokulturellen Wandel bedingt, der das spätere 16. Jh. als Vorsattelzeit der Moderne kennzeichne. Zwar rage das mittelalterliche Kaiserreich als vor- und überstaatliche Institution noch weit in die Neuzeit hinein, doch trete sein Einfluss seit der Abdankung Karls V. mehr und mehr hinter denjenigen der Fürsten zurück, die in ihren Territorien zu Trägern frühneuzeitlicher Staatlichkeit wurden, die sie durch Sozialdisziplinierung, religiöse Homogenisierung etc. zu fördern suchten. Der Konfessionalisierungsprozess sei eine Funktion dieser historischen Entwicklung.
K. teilt, wie die Wahl seines Themas belegt, die unter Frühneuzeithistorikern verbreitete Konzentration auf die sog. Spätreformation; dem von Schilling und von vielen seiner Zunftgenossen vertretenen Konfessionalisierungsparadigma folgt er hingegen nicht. Für ihn stellt sich die Ausbildung der Formula Concordiae (FC) von 1577, in der er die Bewegung der Wittenberger Reformation nicht etwa erstarren, sondern viel eher zu ihrem Vollendungsziel gelangen sieht, primär als ein theologischer Prozess dar, für den theologieexterne Faktoren nur eine nebensächliche Rolle spielen.
Nach einem Prolog über Bekennen und Bekenntnis im Luthertum des 16. Jh.s und vorläufigen Erwägungen zum spätreformatorischen Sitz im Leben der Konkordienformel erörtert K. die theologischen Spannungen unter Luthers Anhängern vor seinem Tod, um dann mit Schmalkaldischem Krieg, Interim und Adiaphoraproblem die Ausgangs- und Bezugsdaten im Parteienstreit von Gnesiolutheranern und Philippisten innerhalb der Wittenberger Spätreformation zu charakterisieren. Es folgt eine Darstellung der Einzelkontroversen, des majoristischen und des antinomistischen, des syn­-ergistischen und des osiandrischen Streits, wobei es u. a. um die Probleme der Notwendigkeit guter Werke zur Seligkeit, um die Stellung des Gesetzes im Leben des Christen, um die Bedeutung des menschlichen Willens im Vollzug von Buße und Bekehrung, um die Radikalität und Reichweite der Erbsündenverderbnis und um Fragen der Erwählung, der Heilsprädestination sowie der Rechtfertigung und der Gerechtigkeit geht, die vor Gott gilt. Eine Analyse des Streits um Abendmahl und Christologie schließt sich an. Selbst wenn man im Einzelnen zu anderen historischen und theologischen Akzentsetzungen gelangen mag (vgl. G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch. Bd. 2, Berlin/New York 1998, 465 ff.), lässt sich feststellen, dass K. den aktuellen Stand der Forschung kenntnisreich und zutreffend wiedergibt. Dies gilt auch für die Rekonstruktion sowohl der diversen Einigungsversuche im Vorfeld der FC als auch für ihre Abfassungsgeschichte im Kontext der Ausbildung des Konkordienbuches. Die Reaktionen auf die FC in den 1580er Jahren werden von K. knapp benannt. Beigegeben ist ein ausführliches Literaturverzeichnis, das einen einleitenden Überblick über die bisherige For schungsgeschichte gibt. Aufschlussreich ist fernerhin ein Postskript, in dem das erkenntnisleitende Interesse der Darstellung benannt wird. Die Konkordienformel gilt K. nicht nur als paradigmatisches »Model for Discourse in the Church« (vgl. 180, Anm. 2), sondern auch als geeignete theologische Ausgangsbasis zeitgenös­sischer Evangeliumsverkündigung und kirchlicher Lehre im 21. Jh.
Die Konkordienformel stand, wie Thomas Kaufmann zu Beginn seiner instruktiven Einführung in K.s Monographie konstatiert, »lange Zeit am Rande des wissenschaftlichen Interesses« (9). Ihre Theologie wurde vielfach als restaurativ und als ein Produkt spätreformatorischer Erstarrung eingeschätzt. Es ist sehr zu begrüßen, dass K. einen weiteren Beitrag zur Beseitigung dieses Vorurteils leistet. Grundsätzlich zu begrüßen ist auch, dass er gegenüber dem frühneuzeithistoriographischen Konfessionalisierungsparadigma, dessen Interesse an der sog. Spätreformation er aus guten Gründen teilt, die zentrale Bedeutung theologischer Sachfragen für die ge­schichtliche Entwicklung des Reformationszeitalters hervorhebt; die kontroverstheologischen Auseinandersetzungen stellen in der Tat keine bloße Marginalie gesellschaftsgeschichtlicher Formierungsprozesse dar. So richtig dies unzweifelhaft ist, so wenig darf aber andererseits die Bedeutung dieser Prozesse für den Gang der Theologiegeschichte unterschätzt oder gar ausgeblendet werden, wie das bei K. zumindest tendenziell der Fall ist. Schwerer als dieser Mangel wiegt, dass in K.s Konzeption das Verhältnis theolo­gischer und historischer Fragestellungen generell offen und unklar bleibt. Wie verhalten sich Genese und Geltung?
Durch eine kundige und den derzeitigen Stand der Forschung zusammenfassende Rekonstruktion ihrer geschichtlichen Entstehung als eines Bekenntnisdokuments des ausgehenden 16. Jh.s hat K. die Konkordienformel einerseits konsequent historisiert, um sie andererseits mit theologischen Geltungsansprüchen für die Gegenwart zu versehen, wie dies durch seine Stellung als emeritierter Professor für Systematische Theologie am »Concordia Seminary« in St. Louis, Missouri, nahegelegt wird. In welchem Verhältnis beide Bestrebungen zueinander stehen und wie sie sich auf differenzierte Weise vereinen lassen, bleibt unklar. Um diesbezüglich Klarheit und zugleich einen Eindruck zu erlangen von der Bedeutung, welche die FC für den Prozess gegenwärtiger lutherischer Selbstverständigung (Stichwort: SELKD/VELKD) zukommt, hätte der Horizont der Untersuchung erheblich erweitert werden müssen, etwa im Sinne des Vorhabens, welches der große, für die ältere Erlanger Schule bestimmende Franz Hermann Reinhold (von) Frank (vgl. N. Slenczka, Der Glaube und sein Grund. F. H. R. von Frank, seine Auseinandersetzung mit A. Ritschl und die Fortführung seines Programms durch L. Ihmels. Studien zur Erlanger Theologie I, Göttingen 1998) mit seinem von 1858 bis 1865 in vier Bänden erschienenen Werk zur Theologie der Konkordienformel verband.
Bereits im ersten Satz seines Vorworts gibt Frank zu erkennen, dass es ihm bei seiner Untersuchung nicht um die Repristination der kodifizierten Lehrgestalt eines vergangenen Jahrhunderts, sondern darum geht, sich das geschichtliche Erbe der konkordistischen Väter in historischer Kritik und systematischer Konstruktion produktiv, nämlich so anzueignen, dass sein erworbener Besitz für die Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Geist der Zeit fruchtbar gemacht werden könne. Bereits Franks Theologie der Konkordienformel ist implizit auf »eine neuzeitliche Reformulierung der reformatorisch-altprotestantischen Theologie« (H. Edelmann, Art. Frank, F. H. R. [von] [1827–1894], in: TRE 11, 322–324, hier: 322) angelegt. Sein Konzept »geht in dem engen Rahmen konfessioneller Theologie nicht auf« (ebd.) und darf in der Art und Weise der Verbindung von Bekenntnistreue und wissenschaftlicher Offenheit unbeschadet aller Fortschritte, welche die historische Detailforschung seit Franks Zeiten gemacht hat, als nach wie vor vorbildlich gelten: »Ist es einst der christlichen Wahrheit gelungen zu der auf außerchristlichem Boden entsprungenen Wissenschaft und Kunst sich zu stellen, für deren wirklichen Ertrag in sich Raum zu haben und den berechtigten Forderungen derselben ihrerseits zu genügen, so wird die lutherische Theologie, um sich als Erbin und Hüterin jener zu legitimiren, nicht in einem Winkel ihr System ausspinnen dürfen, sondern gegenüber den vielfachen außer- und gegenkirchlichen Richtungen der neuern Zeit den Beweis zu liefern haben, dass der auf falschem Wege dort ausgebrochene Drang bei ihr seine Befriedigung und der von jenen gefundene Bruchtheil der Wahrheit in ihr seine Stätte finden könne.« (F. H. R. Frank, Die Theologie der Concordienformel. Historisch-dogmatisch entwi-ckelt und beleuchtet. I. Die Artikel vom summarischen Begriff der Lehre, von der Erbsünde und vom freien Willen, Erlangen 1858, V). K.s Monographie bietet eine informative und nützliche Einführung in Geschichte und Theologie der Konkordienformel. Einem Vergleich mit einer Konzeption wie derjenigen Franks kann sie und will sie, wie man annehmen darf, nicht standhalten.