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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

55–57

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bearb. v. M. H. Rauert u. M. Rothkegel. Hrsg. v. G. Seebaß †.

Titel/Untertitel:

Katalog der hutterischen Handschriften und der Drucke aus hutterischem Besitz in Europa. 2 Teilbde.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. Teilbd. 1: LXXIX, 660 S. m. Abb. Teilbd. 2: XII, S. 661–1378. 23,5 x 16,0 cm = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 85; Quellen zur Geschichte der Täufer, 18. Lw. EUR 224,00. ISBN 978-3-579-05376-9.

Rezensent:

Uwe Wolff

Der Hutmacher und Laienprediger Jakob Hutter (ca. 1500–1536) starb vor dem Goldenen Dachl in Innsbruck den Flammentod, doch lebt sein Geist noch heute in den nach ihm benannten Gemeinden. Die Geschichte der kommunitären und pazifistischen Täuferbewegung kennt viele Märtyrer. Gläubigentaufe und Gütergemeinschaft waren Lutheranern, Reformierten und Katholiken ein Anstoß. Fliehend vor der Verfolgung zogen sich die Hutterer in jene Gegenden Osteuropas zurück, wo Religionstoleranz herrschte. Als eschatologisch ausgerichtete Glaubensgemeinschaft erwarteten sie in Mähren das Ende der Zeit. Neue Fluchten kamen mit der Gegenreformation und dem Versuch der Jesuiten, die Hutterer zur Konversion zu zwingen. Ab 1874 wanderten sie zuerst nach South Dakota, dann nach Kanada aus, wo sie noch heute leben. Ihre Gemeinschaft zählt etwa 45.000 Mitglieder.
Die hutterische Lebensform strahlt ein eigentümliches Faszinosum aus. Dieses liegt wahrscheinlich weniger in den religiösen In­halten ihrer Lehre begründet als in der Bewahrung der Identität durch alle Zeitläufte hindurch. Die Hutterer haben sich keinen fremden Ansprüchen gebeugt und blieben auch in Amerika ihrer radikalen pazifistischen Gesinnung treu.
Das Schrifttum der Hutterer wandte sich bis auf seltene Ausnahmen an die kleine Schar der Erwählten. Schon durch die besondere Art des Einbandes waren die Drucke optisch ausgewiesen. Ihre Leser waren die Einweihten. Die Sammelhandschriften, Chroniken und Liederbücher dienen der Seelsorge und Förderung der Frömmigkeit. In diesem Sinne kann man von einem esoterischen Schrifttum sprechen. Wo es in die Hände der Gegner fiel, wurde es vernichtet. Dass sich dennoch zahlreiche hutterische Handschriften und Drucke erhalten haben, hat verschiedene Gründe. Jesui­tische Missionare sammelten diese Schriften im Zuge des Rekatholisierungsversuches der Hutterer, um ihren Inhalt zu widerlegen. Wie gnostisches Gedankengut als Zitat bei den Kirchenvätern überlebte, so hutterische Drucke seit 1764 in der Bibliothek des Jesuitenkollegs in Skalitz. Von dort gelangten die Bestände 1773 an die Universität Tyrnau und im Jahr 1777 nach Buda (heute Universitätsbibliothek Budapest). Andere Schriften kamen durch marodierende Soldaten während des Dreißigjährigen Krieges nach Schweden. Geradezu spektakulär war der Depotfund von Sabatisch. Bei Renovierungsarbeiten an einem hutterischen Lehmziegelgebäude des 17./18. Jh.s fand man 1961 mehrere Leinwandpakete mit Schriften, die in einem Hohlraum verborgen waren. Sie stammten aus dem Besitz von Zacharias Walter, des letzten hutterischen Predigers und Ältesten dieser Gemeinde. Die Bücher befinden sich heute als Depositum der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in der Bibliothek des ehemaligen Evangelischen Lyzeums in Bratislava.
Robert Friedmann legte 1965 einen Katalog der »Schriften der huterischen (sic!) Täufergemeinschaften« vor, in dem er versuchte, den weltweiten Bestand zu erfassen. Der nun edierte zweibändige Katalog beschränkt sich auf die europäischen Drucke, ausgenommen die noch unerschlossenen Bestände in Skandinavien und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Er ist also, wie der verstorbene Herausgeber und ehemalige Vorsitzende der Täuferaktenkommission beim Verein für Reformationsgeschichte, Gottfried Seebaß, betonte, auf Ergänzung angewiesen. Mit der Edition verbinde er »auch die Hoffnung, dass die hutterischen Gemeinschaften in Übersee, vor allem die in der ›neuen Welt‹ erkennen, welche Werte und Schätze sie hüten und dass auch sie der Forschung zur Verfü gung stehen sollten.« Aufbauend auf der Pionierarbeit Robert Friedmanns und gefördert durch die Fritz-Thyssen-Stiftung er­forschten Martin Rothkegel und Matthias Rauert die Bestände europäischer Bibliotheken. Dass dabei die eigentliche Laufzeit des Projektes um mehrere Jahre überschritten wurde, liegt in der Natur der Sache: Noch heute bildet die Suche nach Handschriften ein wissenschaftliches Abenteuer. Die Forschung bewegt sich hier im Un­bekannten und noch Un­benannten. So wie etwa der große Hu­manist und Wiederentdecker des Lukrez, Poggio Bracciolini, reisten auch Rothkegel und Rauert von Bibliothek zu Bibliothek, oftmals allein geleitet durch einen wissenschaftlichen Spürsinn und zuweilen beschenkt durch reine Zufallsfunde: »In noch größerem Maße war die Suche nach Drucken hutterischer Provenienz von einem mehr oder weniger zufälligen Finderglück abhängig.«
Die ältesten datierbaren Handschriften stammen von 1565. Der größte Teil der heute noch greifbaren Handschriften entstand Mitte des 17. Jh.s in der damals ungarischen Westslowakei. Das Beschreibungsschema der Handschriften und Drucke geht über die Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft hinaus und kombiniert Elemente aus den Empfehlungen für die Be­schreibung neuzeitlicher und mittelalterlicher Handschriften. Neben Überschrift, Schlagzeile, Umfang und Vollständigkeit des Buchblocks, Schreiber und Ausstattung, Einband, Geschichte und Provenienz der Handschrift steht eine Beschreibung des Inhaltes. Damit weist der Katalog voraus auf die noch zu leistende Edition ausgewählter Quellen. Ein Namen- und Ortsregister, ein Verzeichnis der Bibelstellen und eine alphabetische Auflistung der verzeichneten Stücke erschließen den Bestand in vorbildlicher Weise. Sie ermöglichen auch einen ersten inhaltlichen Zugang zur geistigen Welt der Hutterer, wie etwa die Beschreibung des Depotfundes von Sabatisch zeigt. In einer der Taufkatechesen heißt es: »Hochfart, aigennutz, neid, zorn, füllerey, unkeuschhaitt, träghait. Das sein die staffel und stiegen zum abgrundt«, denen niemand entgeht. »Kain mensch ist vor Gott frumb und gerecht, sein alle verkert, verruckht und außgewichen.« Doch durch die Buße und die Gnade wende sich das Schicksal des Menschen: »Unnd wer sein hertz buesfertigerweis zu Got recht richtet, dem geben zeugknus geist, wasser und bluet.« Der jetzt vorliegende »Katalog der hutterischen Handschriften« ist auch eine Einladung, eine jener täuferischen Bewegungen im Kontext von Luthers Reformation zu erforschen, deren Strom in allen wechselvollen Verhältnissen der Geschichte nicht versiegte.