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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

48–49

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Abel, Stefan

Titel/Untertitel:

Johannes Nider ›Die vierundzwanzig goldenen Harfen‹. Edition und Kommentar.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIII, 746 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 60. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150610-9.

Rezensent:

Jens Haustein

Johannes Nider gehört zu den großen Reformern des Dominika­nerordens im 15. Jh. Wohl in den 1380er Jahren in Isny geboren, 1402 in das Colmarer Dominikanerkloster eingetreten, absolvierte er das studium generale in Köln und wurde 1426 in Wien zum Doktor der Theologie promoviert. Ein geradezu rastloses Wirken im Dienst der Reform schloss sich an, u. a. 1427–1429 in Nürnberg, 1429–1436 in Basel, anschließend in Colmar. Am 13. August 1438 starb Nider in Nürnberg.
Die vierundzwanzig goldenen Harfen (GH), während Niders Nürnberger Priorat entstanden, stellen eine Besonderheit im an­sonsten weitgehend lateinischen Werk dar (31–42) und stehen im Zusammenhang der Reform des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharina. Die freie Bearbeitung von Johannes Cassians (360–435) Collationes patrum verbindet diese Vitaspatrum-Tradition mit dem Bild der 24 apokalyptischen Alten (Apc 4,1–5,14), die goldene Harfen in Händen halten und mit den Wüstenvätern identifiziert werden. Die 24 Kapitel, die wohl ursprünglich auf 24 Predigten Niders zurückgehen und erst sekundär zum Lesetext um­-geformt wurden, informieren in Form von Gesprächen zwischen den Altvätern und den Schülern Cassianus und Germanus über wesentliche Grundlagen des christlichen Glaubens, über das reine Herz, über Weisheit, den freien Willen, das richtige Gebet, Keuschheit, Freundschaft, die Gaben des Heiligen Geistes, Anfechtungen, Dämonen, Sünden u. a. Das didaktische, seelsorgerliche Anliegen wird gelegentlich mit Anklängen an mystisches, seusesches Gedankengut auf der Ebene der purificatio verbunden. Der Prolog ist Niders Eigentum.
Die GH ist reich überliefert: Acht Exzerpthandschriften stehen 22 Handschriften und sieben Drucke mit wiederum neun Druck-abschriften zur Seite. Die mit der Thematik der GH verwandte Mitüberlieferung wie die vom Herausgeber minutiös dargestellte Be­sitzgeschichte der Handschriften und Drucke verweist sowohl auf eine klösterliche als auch auf eine weltlich-laizistische Rezeption. Eine Besonderheit stellt die 1483 entstandene Übersetzung ins Lateinische dar (München, Bayerische Staatsbibl., clm 5605; dazu 63–66).
Die im Grunde konservative Überlieferung hat zu zwei sich sehr nahe stehenden, gleichwohl im Inhaltlichen wie Stilistischen gut unterscheidbaren Redaktionen (*X, *Y) geführt. *X, die wohl ältere, ist mit nur drei Handschriften dabei deutlich schlechter repräsentiert als die jüngere Fassung *Y, der man freilich eine mögliche Autornähe nicht absprechen kann: »Bei der *Y-Fassung handelt es sich mit Sicherheit nicht um eine eigenmächtige oder zufällige Überarbeitung eines Schreibers oder Redakteurs, sondern um eine durchgehende Revision, die auf einer tiefgründigen Erfassung und Durchdringung der GH beruht. Es ist durchaus vorstellbar, dass Nider die *Y-Fassung selbst ausarbeitete oder zumindest überwachte« (93). Der dem Leithandschriftenprinzip verpflichteten Edition liegt die *X-Handschrift N 1 (Nürnberg, Stadtbibl., Cent. IV, 14) zugrunde. Sie ist vor 1428 entstanden, mithin so alt wie der Text selbst, und stammt aus dem Nürnberger Dominikanerinnenklos­ter St. Katharina, in das es Kundigunde als Schreiberin eingebracht hat. Neben der GH enthält es u. a. Humberts von Romans De tribus votis (dt.), Matthäus’ von Krakau Dialogus rationis et conscientiae (dt.) und Raimunds von Capua Leben der heiligen Katharina von Siena (dt.). Im Apparat ist eine weitere *X-Handschrift berücksichtigt: B 1 (Berlin, Staatsbibl. zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, mgq 175), elsässisch, aus der Mitte des 15. Jh.s stammend und später zum Besitz Daniel Sudermanns gehörig. Die *Y-Fassung ist durch P 1 (Prag, Národní Knihovna, Cod. XXIII D 178) vertreten, die 1442 in Nördlingen entstanden ist und aus der Kartause Christgarten stammt. Handschriften der *Y-Fassung haben übrigens mehrfach eine kartäusische Provenienz.
Der Edition selbst geht im Anschluss an Überlegungen zu »Überlieferungs-, Textgeschichte, Edition« etwas überraschend und mit einigen Wiederholungen zu früher Festgehaltenem ein Kapitel über »Genese, Autorschaft, Gebrauch, Quellen« voran, das in einigen wichtigen Bemerkungen zu stilistischen Merkmalen mündet. Mit dem Willen zur Klarheit des Gedankens, der in syntak­tischer Übersichtlichkeit und begrifflicher Konkretion zum Ausdruck kommt, »reiht sich die GH in die stilistische Eigenart von Werken im Umkreis der ›Wiener Schule‹ ein« (179 f.). Damit sind die GH auch ein Beitrag zu einer deutschsprachigen Prosa, die sich, um des Zwecks der Verständlichkeit für Laien, von dem Zwang der Nachbildung eines scholastischen Lateins in deutscher Sprache befreit hat.
Der Edition selbst (181–396) folgt ein umfänglicher, dreigliedriger Kommentar (397–612), der in die Rubriken »Sprachliche Erläuterungen«, »Quellen« und »Sachkommentar« gegliedert ist. Ersterer erläutert mit einer gewissen Exorbitanz sprachliche Auffälligkeiten wie das reflexive im oder das -eu- der 3. Pers. Sg. Ind. Präs. (zeuhet von ziehen), die sich vielleicht auch ins Wortregister hätten verschieben lassen. Der Abschnitt zu den Quellen führt die Parallelen aus den Collationes sowie weitere von Nider ergänzend herausgezogene Quellen auf. Der Sachkommentar ordnet die GH bzw. die einzelnen Themen in die frömmigkeitsgeschichtliche Literatur des Spätmittelalters ein. Ein umfänglicher Anhang (Glossar, Personen- und Ortsregister, Autoritäten, Bibelstellen, Sachen u. a.) beschließt die im Wortsinne wie im übertragenen Sinne gewichtige Edition, die auf die überarbeitete Augsburger Dissertation von Stefan Abel aus dem Jahr 2009 zurückgeht.
Die Edition stellt nicht nur ein Monument gelehrten Fleißes dar, sondern ist in der spürbaren Emphase A.s ein überzeugendes Plädoyer dafür, die GH als einen weiteren gewichtigen Beitrag des Spätmittelalters zur Reform und damit zur Rettung seiner eigenen geistlichen Grundlagen, die Nider offenbar sowohl im spätantiken Anachoretentum wie in der »Abgeschiedenheit« der Mystiker grundgelegt sah, zu lesen. Und lesbar, ja, lesenswert ist dieser Text allemal.