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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

37–40

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schelbert, Georg

Titel/Untertitel:

ABBA Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Midrasch- und Haggada-Werken in Auseinandersetzung mit den Thesen von Joachim Jeremias.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 413 S. 23,2 x 15,5 cm = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 81. Geb. EUR 69,99. ISBN 978-3-525-55029-8.

Rezensent:

Angelika Strotmann

Vor nunmehr fast 60 Jahren begann der Siegeszug der von Joachim Jeremias formulierten Hypothese von der singulären einzigartigen Bedeutung der Abba-Anrede Gottes durch Jesus. Danach hat Jesus im Unterschied zum Judentum »Gott immer […] mit ’abba (›mein Vater‹)« angeredet, so dass dieses ’abba einwandfreies Kennzeichen seiner ipsissima vox ist und »ein in die letzten Tiefen reichendes neues Gottesverhältnis widerspiegelt« (Kennzeichen der ipsissima vox Jesu, in: Synoptische Studien. FS Alfred Wikenhauser, München 1953, 86–93.89). Besonders erfolgreich war die popularisierte Fassung des Aufsatzes aus dem Jahr 1962, in der Jeremias die Abba-Anrede mehrfach als Kleinkindersprache bezeichnete (Das Vater-unser im Lichte der neueren Forschung, Calwer Hefte 50, Stuttgart 1962, 17–20). Der ab den 80er Jahren des letzten Jh.s vermehrt einsetzenden Kritik an Jeremias’ Hypothese gelang es nicht, diese Erfolgsgeschichte zu stoppen, ja noch nicht einmal die bis in die Gegenwart reichende unkritische Übernahme der Jeremiasthese in der neutestamentlichen Exegese zu verhindern (Kapitel 1.2).
Einer der fundiertesten Kritiker der Abba-These von Jeremias ist Georg Schelbert SMB, Professor em. für Bibelwissenschaften an der Universität Freiburg/Schweiz, der mit dem vorliegenden umfang­reichen Werk zum aramäischen Begriff »ABBA« auf seinen Vorarbeiten aus den Jahren 1981 und 1993 aufbaut. Ziel dieses Alterswerkes ist die sprachgeschichtliche Widerlegung der von Jeremias behaupteten Einzigartigkeit der Abba-Anrede Gottes durch Jesus, die S. gegenüber seinen bisherigen Arbeiten zum Thema inhaltlich vertieft und auf eine noch breitere textliche Grundlage stellt.
S. untersucht in neun Kapiteln (Kapitel 2–5 und 7–11) in chronologischer Reihenfolge so gut wie alle aramäischen, aramäisch-he­bräischen und hebräischen Quellen aus einem Zeitraum von ca. 2000 Jahren (von altaramäischen Quellen aus dem 10. bis 8. Jh. v. Chr. bis zu späten, d. h. mittelalterlichen Midrasch- und Haggadawerken zwischen dem 7. und 12. Jh.). Die chronologische Quellenanalyse wird nur durch Kapitel 6 unterbrochen, in dem S. sich grundsätzlich zu sprachlicher Eigenart, Herkunft und Qualität der Form abba äußert. Das Buch endet mit Kapitel 12, das die Ergebnisse jedes einzelnen Kapitels noch einmal zusammenfasst.
Da von den Vertretern der Abba-These vielfach der Eindruck er­weckt wird, dass dem Wort abba als Bezeichnung oder Anrede Gottes schon an sich eine außerordentliche, insbesondere emotionale Bedeutung zukommt, die es vom hebräischen abi wesentlich un­terscheidet (34), beschränkt S. sich nicht nur auf die Analyse des aramäischen ab(b)a, sondern bezieht auch das hebräisch-aramäische ab einschließlich seiner für die Abba-These wichtigen Derivate (vor allem abi = mein Vater und abinu/abunan = unser Vater) in die Untersuchung ein.
In der Regel wird jeder Text bzw. jede Textgruppe inhaltlich kurz vorgestellt und zeitlich, vor allem aber sprachlichgeschichtlich eingeordnet (z. B. altaramäisch; mittelhebräisch). Mit Ausnahme der Targume – aufgrund der Vielzahl der Vater-Stellen dort – gibt S. alle Stellen, in denen abba und/oder abi vorkommen, wörtlich und in deutscher Übersetzung wieder. Dabei unterscheidet er zwischen abba für mein Vater in Anrede und Aussage, abba für der Vater, für unser Vater und als Ehrentitel. Demgegenüber werden die Vorkommen des hebräischen abinu = unser Vater und des aramäischen abunan = unser Vater zwar erwähnt, da sie sich aber häufig stereotyp auf die Erzväter beziehen, zitiert S. nur die Abweichungen. Zu den übrigen Personalsuffixen des hebräischen und aramäischen Vater äußert sich S. nicht, mit einer Ausnahme: Bei Gott als Vater werden alle Varianten zitiert, also auch Stellen mit dein Vater, euer Vater etc. Die Dokumentation endet jeweils mit einer sprachlichen und einer relativ knappen inhaltlichen Interpretation der aufgeführten Vater-Stellen. S. weicht nur in Kap. 3.2 bei der Interpretation der drei neutestamentlichen Abba-Stellen (Gal 4,6; Röm 8,15; Mk 14,36) von diesem Schema ab – angesichts des Gewichts dieser Stellen für die Abba-These von Jeremias eine sinnvolle, ja notwendige Ausnahme.
So systematisch S. insgesamt vorgeht, sind einzelne Entscheidungen jedoch nicht immer nachvollziehbar. So äußert er sich zum Ziel der Untersuchung in unterschiedlicher Weise und an unterschiedlichen Stellen (Vorwort, 16 f.; Kapitel 1, 34). Die Platzierung des 6. Kapitels mitten in die Quellenanalyse statt an deren Ende wird nirgends begründet. Die Diskussion des Alters der Quellen geschieht nicht durchgehend, auch nicht am Anfang (vgl. z. B. zu den Targumen 4.1.1 + 4.8); zwischen Entstehung des Textes und Alter der Quellen wird an vielen Stellen nicht unterschieden (z. B. bei den tannaitischen Quellen Kapitel 3–5). Hilfreich wäre es auch gewesen, wenn S. auf die Jeremias-kritische Forschung einschließlich seiner eigenen explizit Bezug genommen hätte.
Ergebnis: Aufgrund der durchgängigen Berücksichtigung aller Abba- und Abi-Stellen beinahe der gesamten jüdisch-aramäisch-hebräischen Literatur zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 12. Jh. kann S. eindrucksvoll zeigen, dass der sprachlich-fixierten Gestalt des abba in jüdisch-aramäischer und jüdisch-hebräischer Literatur immer schon eine lange mündliche Tradition vorausgegangen ist. Wie bei anderen Sprachphänomenen auch hat das aramäische abba erst Eingang in die Schriftsprache gefunden, nachdem es sich in der aramäischen Umgangssprache durchgesetzt und die Form abi als Anrede und Aussage für mein Vater vollständig, die Form ab für der Vater zum großen Teil ersetzt hatte. Das gilt sowohl für den irdischen Vater (in biologischem wie übertragenem Sinn) als auch für den himmlischen, wie die ältesten Targume aus dem 2. Jh. n. Chr. zeigen. Wer aramäisch zu Gott als seinem Vater beten wollte, musste dafür abba verwenden.
Einmal im Aramäischen etabliert ist abba relativ bald auch in die hebräische Schriftsprache eingedrungen und hat schon in Mischna (etwas 200 n. Chr. abgeschlossen) und Tosefta (kurze Zeit später zw. 200 und 230) den Vokativ und die Aussage abi = mein Vater vollkommen verdrängt. Dasselbe gilt für die tannaitischen halakhischen Midraschim, mit Ausnahme von Schriftzitaten, in denen das originale abi stehen blieb. Entsprechend dieser durchgängigen Verwendung von abba für das ursprünglich aramäische und hebräische abi fällt auch die inhaltliche Analyse aus: eine besondere emotionale, (klein)kindliche Konnotation des Begriffs, wie sie Jeremias und seine Nachfolger und Nachfolgerinnen be­haupten, ist nicht nachweisbar.
Für die Abba-Anrede Gottes im Neuen Testament bedeutet das: Die neutestamentlichen Abba-Stellen (Gal 4,6; Röm 8,15; Mk 14,36) sind zwar weiterhin die frühesten Zeugnisse für die Anrede abba im Aramäischen, ihre selbstverständliche Übernahme aus den aramäisch sprechenden frühchristlichen Gemeinden durch die griechischsprachigen Gemeinden Mitte des 1.Jh.s setzt jedoch schon ihren selbstverständlichen Gebrauch in der gesprochenen Sprache voraus, so dass daraus geschlossen werden muss, dass Jesus für die Gottesanrede Vater im Aramäischen nur das Nomen abba zur Verfügung stand. Seine durchgehende Verbindung mit dem grie­-chischen ὁ πατήρ = der Vater zu Abba, Vater zeigt darüber hinaus, dass abba schon im 1. Jh. n. Chr. einfach Vater hieß und wie spä-ter in den rabbinischen Schriften keine Kleinkindsprache wiedergibt.
Auch wenn die Rezensentin die vollständige Einbeziehung der nachtannaitischen Quellen (ab Talmud jerushalmi Kapitel 7) in die Untersuchung nicht ganz nachvollziehen kann, da sie ihr für das zu erreichende Ziel nicht notwendig erscheint, beeindruckt doch der enorme Aufwand und Fleiß dieser Quellenanalyse. Überraschend war auch die Erkenntnis, dass bis weit ins Mittelalter hinein abba das hebräische abi verdrängt hat. Eine außerordentliche Hilfe beim Lesen der Quellen ist ihre durchgängige Übersetzung ins Deutsche, so dass jeder Leser die Ergebnisse nachprüfen kann, ohne selbst die nicht immer leicht zu erreichenden Editionen und Konkordanzen konsultieren zu müssen. Dem Buch ist jedenfalls zu wünschen, dass es der zurzeit etwas nachlassenden Diskussion zur Abba-Anrede Gottes durch Jesus in der neutestamentlichen Exegese einen neuen Impuls gibt.
Das Buch enthält relativ viele Druck- und Satzfehler. Den »Höhepunkt« bilden die 14 Akzent- und Schreibfehler in der Tabelle auf S. 56. Immer wieder kommt es auch vor, dass angegebene Begriffsvorkommen nicht den behandelten Zitaten entsprechen oder nicht bzw. nur schwer nachvollziehbar sind (z. B. Tabelle in 8.3 auf S. 240).