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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

35–37

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reiser, Marius

Titel/Untertitel:

Der unbequeme Jesus.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011. XI, 247 S. 20,5 x 12,5 cm = Biblisch-Theo­logische Studien, 122. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-7887-2542-6.

Rezensent:

Ulrich Luz

Marius Reiser will nicht einfach ein Jesusbuch schreiben. Er will vielmehr nur »einige unterbelichtete und gerne ausgeblendete Seiten des historischen Jesus beleuchten« (VII). Dazu gehört der hoheitsvolle Lehrer Jesus, der viel mehr war als ein Rabbi. Dazu gehört der Gerichtsprophet Jesus: Die Gerichtsankündigung ist schon rein quantitativ ein Zentrum der Verkündigung Jesu. Dazu gehört Jesu Verkündigung der Feindesliebe, die in der Antike höchs­-tens bei Sokrates, in der späteren Stoa und in wenigen in der Tradition von Lev 19,18 stehenden jüdischen Spitzenaussagen eine Analogie findet. Dazu gehört ferner Jesu Option für die Armen und die Armut, die in solcher Radikalität bei keinem antiken Autor zu finden ist. Dazu gehört vor allem der Wundertäter Jesus. Im Unterschied zum third quest betont also R. vor allem das, was den Juden Jesus von anderen Juden und ebenso von paganen Lehrern unterscheidet. Zwei Eingangskapitel, eines, das mit der Jesusforschung seit der Aufklärung ins Gericht geht, ein anderes über das Porträt Jesu im Markusevangelium, und zwei Schlusskapitel, über Jesu Tod und seine Auferstehung, runden das Büchlein ab. Wer R., insbesondere seine Ar­beiten zur Gerichtsverkündigung Jesu und zur Geschichte der historisch-kritischen Forschung, kennt, weiß schon im Voraus, dass in diesem Büchlein die Fetzen fliegen werden. Nicht nur Jesus, sondern auch R. ist unbequem. Ein Neutestamentler, zu dessen gern zitierten Vätern Gilbert K. Chesterton und zu dessen älteren theologischen Brüdern Papst Benedikt XVI. und Martin Hengel gehören und der selbst ein Meister der Polemik ist, kann in der heutigen Neutestamentlerlandschaft nicht bequem sein. Aber er liest sich gut – und das ist beileibe nicht nur seinem Stil zu verdanken.
Der große Reiz des Büchleins besteht darin, dass er unter den zum Verständnis Jesu beigebrachten Parallelen sorgfältig – aber gut begründet – auswählt und das so entstehende Bild – aus seiner Perspektive, aber wieder gut begründet – anders gewichtet als dies üblich ist. So entsteht ein Bild von Jesus, das manches, was man heute in Jesusbüchern liest, auf den Kopf stellt. Ich möchte dies an R.s Kapitel über den Wundertäter Jesus zeigen – erstens, weil dieses Kapitel für ihn besonders wichtig ist, und zweitens, weil man hier die Prämissen R.s besonders schön diskutieren kann. Es liegt in der Natur der Sache, dass in diesem Kapitel meine Differenzen zu ihm größer sind als in manchen anderen Kapiteln, in denen ich seine Grundthesen weitgehend teile.
R. versteht Wunder allgemein als »ein überraschendes Geschehen, das allem Erwartbaren zuwiderläuft und das wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nicht erklären können« (162). Er versucht in dieser Definition die Mitte zu halten zwischen einer Wunderdefinition in der Tradition Schleiermachers, für den »Wunder« der religiöse Ausdruck für »Begebenheit«, d. h. eine Frage der Interpretation von Erfahrungen ist, und einer Wunderinterpretation in der Tradition des protestantischen Fundamentalismus, für den Wunder eine Durchbrechung eines unwandelbaren Naturgesetzes, d. h. Fakten sind. Theologisch versteht er Wunder als Ausdruck der »Freiheit Gottes, […] im Buch der Natur wie der Geschichte gelegentlich auch mit ganz unerwarteten und ungewohnten Zeichen zu schreiben« (163). Verschiedentlich zitiert er Ps 72,18: »Gepriesen sei der Herr […], der allein Wunder tut«. Für ihn sind »Wunder […] im strengen Sinn ein Privileg Gottes« (163). Verständlich ist, dass von diesen beiden Prämissen her die Wunder Jesu, die von ihm in ungewöhnlich großer Zahl berichtet werden, eine große histo­- rische und theologische Bedeutung haben. Im Unterschied zu den Gleichnissen, den Metaphern des Gottesreichs, versteht R. die Wunder Jesu als Zeichen, d.h. als »Symbole« des Gottesreichs. Gleichnisse »veranschaulichen« die Gottesherrschaft, Wunder zeigen »ihre gegenwärtige Realität« (176). Dass sie wirklich geschehen sind, ist darum wichtig: »Nicht geschehene Wunder können nun einmal keine Zeichen sein« (177), mag man sie noch so tiefgründig allegorisch auslegen, wie dies von Origenes bis Albert Schweitzer immer wieder geschehen ist.
Für R. ist darum die Historizität und die Besonderheit, ja Einmaligkeit der Wunder Jesu entscheidend. Zur Historizität: Nicht nur die in überreicher Fülle bezeugten Heilungen und Exorzismen Jesu sind als Berichte über Geschehenes ernst zu nehmen (was heute viele Neutestamentler tun), sondern auch die sog. Naturwunder ha­ben für ihn als »gläubigen Realisten«, der weiß, dass die »Wirklichkeit größer« ist als seine eigenen mentalen Prämissen, ein Anrecht darauf (vgl. 162). Zur Besonderheit: Die Fülle der Parallelen zu den Wundern Jesu ist in der Forschung stark übertrieben worden. Wundertäter und Wunder sind im Alten Testament »eine ausgesprochene Rarität« (164). Abgesehen von Elija und Elisa gibt es im Alten Testament keine mit Jesus vergleichbaren Gestalten. Von Honi dem Kreiszieher wird nur ein, von Hanina ben Dosa werden verhältnismäßig we­nige, und ausschließlich Gebetswunder, be­richtet. Zeitgenossen Jesu sind beide nicht. Aus der paganen Um­welt kommen die von Göttern (z. B. Asklepios) berichteten Wunder für den Vergleich mit Jesus nicht in Betracht. »Die Wundermänner der heidnischen Tradition« lebten – mit der einzigen Ausnahme von Apollonius von Tyana – in »ziemlich grauer Vorzeit« (184). Apollonius, ein Philosoph und »seherisch be­gabter Magier«, unterscheidet sich in sehr vielem von Jesus. Fazit: Jesus als Wundertäter war »eine ganz außerordentliche, ja singuläre Gestalt« (197). Das ist für R., für den Wunder »ein Privileg Gottes« sind, wichtig: Jesus, der in eigener Vollmacht Wunder getan hat, »konnte als Stellvertreter Gottes handeln« (163).
Historisch würde ich vieles ähnlich, manches aber auch etwas anders gewichten als R. Dazu gehört z.B. die Gestalt Chanina ben Dosas, der immerhin fast Zeitgenosse Jesu war, die Möglichkeit (!), dass Wundergeschichten von außen auf Jesus übertragen worden sind, und die Tatsache, dass Jesus in den Evangelien nicht nur mit Elija, sondern auch mit jüdischen Exorzisten (Lk 11,19!) zusam­mengestellt wurde. Auch wenn ich R. darin zustimme, dass in einer den neutestamentlichen Texten gerecht werdenden Definition von Wundern geschichtliche Wirklichkeit und Interpretation sich verbinden müssen, so meine ich doch, dass er der Interpretationsebene zu wenig Gewicht beimisst. Außerdem scheint mir wichtig, dass die Wunder Jesu fast immer einen für die Menschen heilsamen und oft sozial befreienden Charakter haben, also in einem ganz besonderen Sinn »außerordentlich« sind. Kritisch befragen möchte ich auch R.s Interpretation der Wunder als »Privileg Gottes«: Dass Jesu Zeitgenossen seine Wunder auch als Machterweise des Teufels interpretieren konnten, fällt bei ihm ebenso weg wie die meines Erachtens theologisch ganz wichtige Tatsache, dass der »Stellvertreter Gottes« in seiner Passion sich gerade nicht durch Wunder ausgewiesen hat. R.s theologische Vorverständnisse spielen also für seine historische Darstellung und für seine Bewertungen eine erhebliche Rolle – hier teile ich manche nicht.
Aber diese Bemerkungen sind nur der Anfang eines dringend nötigen theologischen und historischen Gesprächs mit diesem fulminanten und wirklich unbequemen Buch. Dieser Anfang möge zeigen, wie sehr sich das Gespräch mit R. lohnt. Dafür, dass er seine unbequeme Sicht Jesu in diesem Büchlein so glänzend, anregend, pointiert und zum eigenen Fragen verlockend zusammengefasst hat, werden ihm hoffentlich nicht nur seine früheren Mainzer Hörerinnen und Hörer dankbar sein.