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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

29–30

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bauer, Thomas Johann

Titel/Untertitel:

Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie. Kontextualisierung und Analyse der Briefe an Phi­-lemon und an die Galater.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIII, 482 S. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 276. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150977-3.

Rezensent:

Stefan Krauter

Seit Adolf Deißmanns epochemachendem »Licht vom Osten« steht die Frage im Raum, ob die Briefe des Paulus in die griechische Literatur der frühen Kaiserzeit eingeordnet werden können, und wenn ja, wo. Die Antworten haben eine erstaunliche Bandbreite: von dem Urteil, die Paulusbriefe seien in Sprache, Stil und Form unhellenisch und unliterarisch (so E. Norden schon vor Deißmann), bis zur Behauptung, sie folgten dem Aufbauschema einer antiken Rede und ließen sich anhand der rhetorischen Handbücher analysieren (so mit großer Wirkung auf die weitere vor allem amerikanische Forschung H. D. Betz zum Galaterbrief). Thomas Johann Bauer – durch eine Gießener Dissertation als Altphilologe ausgewiesen – versucht in seiner Freiburger theologischen Dissertation von 2011, zu einer differenzierten Antwort zu gelangen.
In einer knappen Einleitung führt B., ausgehend von Deißmanns These, die Paulusbriefe seien weder mit literarischen Episteln vergleichbar noch vollkommen »unhellenisch«, vielmehr in Sprache und Stil mit den damals neu entdeckten privaten Papyrusbriefen zu vergleichen, in die Forschungsproblematik ein. Anschließend gelingt es B., auf nur 80 Seiten umfassend und verlässlich den Forschungsstand zu Briefen in der griechisch-römischen Antike, im antiken Judentum und im frühen Christentum darzustellen. Wer eine sehr gute, kurze Einführung in dieses Thema sucht, findet sie hier.
Darauf aufbauend präzisiert B. die Fragestellung seiner Untersuchung und zeigt auf, welche Vielzahl von Aspekten bei einer Einordnung der Paulusbriefe innerhalb der antiken Epistolographie beachtet werden muss. B. hinterfragt insbesondere die Unterscheidung zwischen literarischem Kunstbrief (Epistel) und echtem Brief und schlägt stattdessen vor, ein breites Feld zwischen für den Augenblick gedachten Briefen Ungebildeter und den für die Ver­-öffentlichung bestimmten literarischen Briefen anzunehmen. Er reflektiert die Rolle von Briefkonventionen und Brieftheorie, die im Schulunterricht erlernt wurden. Er geht auf die Frage nach der Mitwirkung eines Sekretärs an der Abfassung von Briefen ein. Zur in der neutestamentlichen Forschung stark umstrittenen Frage des Verhältnisses zwischen Rhetorik und Epistolographie nimmt B. schon hier vorläufig Stellung: Einerseits sieht er Versuche, die paulinischen Briefe nach den Aufbauschemata antiker Reden zu gliedern und zu analysieren, für gescheitert an. Andererseits aber geht er davon aus, dass eine briefliche Kommunikation bei den Adressaten etwas erreichen will und dass geübte Briefschreiber der Antike zu diesem Zweck die in der Schule erlernten rhetorischen Argumentationsverfahren anwandten, ohne freilich den für einen Brief als angemessen geltenden Rahmen zu sprengen. Es folgen, sozusagen als Fallstudien, Analysen des Philemonbriefes und des Galaterbriefes. B. legt anhand sorgfältiger Textvergleiche überzeugend dar, dass der Philemonbrief keineswegs ein anspruchsloses Gelegenheitsschreiben ist. Vielmehr unterscheidet er sich deutlich von den oft eher holperigen Briefen Ungebildeter und ist als sorgfältig nach den Regeln der antiken Epistolographie und mit Hilfe rhetorischer Mittel gestaltetes Schreiben anzusehen. Paulus achtet genau darauf, wie er mit dem ihm sozial überlegenen Philemon und zugleich mit dessen Hausgemeinde so kommuniziert, dass er seine Autorität als Apostel einfordert und zugleich sozialen Konventionen entspricht.
Der Natur der Sache gemäß ist das Kapitel zum Galaterbrief um ein Vielfaches länger. Nach einer kurzen Zusammenfassung des Forschungsstandes nähert sich B. dem Galaterbrief sozusagen in immer neuen Runden von einem ersten Überblick über einen Durchgang durch die Briefteile bis zu rhetorischen Einzelanalysen. Von besonderem Interesse ist sicherlich, dass B. sich ausführlich der Frage der Briefgattung stellt. Er schlägt anstelle der verbreiteten Ansicht, der Galaterbrief sei apologetisch, die Alternative vor, ihn als tadelnd oder anklagend zu verstehen. Dazu passe der stellenweise scharfe Tonfall bei dennoch bleibender philophronetischer Grundausrichtung: Ziel ist es ja, die durch das Verhalten der Adressaten in eine Krise geratene freundschaftliche Beziehung wiederzugewinnen. B. sieht auch eine Nähe zum antiken Lehrbrief, wie er von Philosophen bekannt ist. Darum grenzt er sich deutlich von der vorherrschenden Meinung ab, die paulinischen Briefe seien gänzlich aus ihrer Ursprungssituation heraus zu interpretieren – ohne freilich dem entgegengesetzten Extrem zu verfallen, sie als zeitlose dogmatische Kompendien zu lesen.
So sorgfältig und im Großen und Ganzen überzeugend B.s Darlegungen sind, gibt es doch in diesem langen Kapitel zum Galaterbrief einige Passagen, denen eine korrigierende und straffende Durchsicht gutgetan hätte.
Ein Schlusskapitel fasst den Ertrag der Untersuchung zusammen. Hier können nur einige wichtige Punkte hervorgehoben werden: Phile­mon- und Galaterbrief sind – gegen Deißmann – nicht mit den privaten Papyrusbriefen Ungebildeter zu vergleichen. Selbstverständlich gehören sie nicht zu den Spitzenwerken antiker Epistolographie, doch Paulus hält sich an epistolographische Konventionen und setzt rhetorische Argumentationsmuster für seine Kommunikationsziele ein. Nach Form und Stil sind seine Briefe keineswegs unhellenisch – wohl aber in ihrem Inhalt, etwa wenn die jüdischen heiligen Schriften durchweg ihre maßgebliche Be­zugsgröße sind. Daraus kann man erstens Schlüsse auf die Bildung des Paulus und auf seine soziale Stellung ziehen: Wenn man die Gestaltung seiner Briefe nicht zu einem Großteil auf einen Sekretär zurückführen will, dann muss man sich Paulus als einen durchaus gebildeten Menschen vorstellen. Er kannte – vermutlich aus dem Unterricht und nicht nur durch »Aufschnappen« – die Regeln, nach denen ein antiker Brief abgefasst werden sollte, und auch die an­tike Brieftheorie. Zweitens verwehrt diese Einordnung der paulinischen Briefe in die antike Literatur einen allzu direkten Zugriff auf Paulus als Person: Wenn er in seinen Briefen über sich schreibt, dann darf man das nicht romantisch als direkten Ausdruck seines Ich missverstehen, sondern es dient der Konstruktion seines Ethos nach den Maßstäben antiker Brieftheorie und Rhetorik.
Mit seiner immensen Kenntnis der antiken Literatur gelingt es B., zu einer sorgfältig abgewogenen und wohlbegründeten Einordnung des Paulus zu gelangen. Deren Folgen für die theologische Interpretation seiner Briefe deutet er vielfach an. Die von ihm gelegten Spuren wären freilich weiter zu verfolgen. So sind diesem wichtigen Werk viele Leserinnen und Leser zu wünschen und vor allem viele auf den hier gewonnenen Erkenntnissen aufbauende weitere Studien.