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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

25–28

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wagner, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Anthropologische Aufbrüche. Alttes­tamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 430 S. m. Abb. u. Tab. 23,2 x 15,5 cm = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 232. Geb. EUR 74,99. ISBN 978-3-525-53189-1.

Rezensent:

Kathrin Liess

Die alttestamentliche Wissenschaft hat sich in den letzten Jahren verstärkt der Anthropologie zugewandt. So sind etliche Studien und Aufsatzbände zu anthropologischen Themen entstanden, zu denen auch der vorliegende Sammelband zählt. Der aus Vorlesungsreihen und Forschungskolloquien der Jahre 2005–2008 hervorgegangene, interdisziplinär angelegte Band versammelt Beiträge zu anthropologischen Forschungs- und Themenfeldern aus verschiedenen Disziplinen, wobei der Schwerpunkt auf den alttestamentlichen Beiträgen liegt. Die Beiträge sind auf die sieben Themenblöcke 1. »Grundsätzliches«, 2. »Methodisches – Konzepte Histo rischer Anthropologie«, 3. »Anthropologische Begriffe – Mensch – Körper«, 4. »Anthropologische Positionen im Alten Testament«, 5. »Anstöße alttestamentlicher Anthropologie«, 6. »Emotionen des Menschen, Annäherungen und Zugänge« und 7. »Sinne« verteilt, wobei die Zuordnung bzw. Reihenfolge der Beiträge an einigen Punkten auch anders vorstellbar wäre.
In seinem einleitenden Beitrag »Anthropologie des Alten Testaments. Versuch einer Grundlegung« diskutiert B. Janowski ausgehend von H. W. Wolff Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie unter den Aspekten »Der Begriff der Person«, »Die Sphäre des Sozialen« und »Die Wahrnehmung der Welt« und berücksichtigt so in gelungener Weise die Einbindung des Menschen in den individuellen, sozialen und kulturellen Kontext. Diese Grundsatzüberlegungen bieten einen guten Ausgangspunkt für die Lektüre der folgenden Studien. Es zählt zu den grundlegenden Einsichten der neueren alttestamentlichen Forschung, dass Anthropologie als historische Anthropologie zu betreiben ist. Diesem Votum trägt der zweite Block mit Beiträgen zu methodischen Fragen Rechnung. Der Kulturwissenschaftler Chr. Antweiler beschreibt in seinem Beitrag »Kognitive Anthropologie. Kulturelle Rationalität und lokales Wissen« Themenbereiche der Kognitionsethnologie. Der knappe Beitrag des Alttestamentlers R. Kessler diskutiert das Verhältnis von Anthropologie und Sozialgeschichte und votiert für das »Programm einer Mentalitätsgeschichte«. W. Reinhard schildert aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive »Die Anthropologische Wende der Geschichtswissenschaft«.
Der dritte Block vereint vier alttestamentliche Studien zu an­thropologischen Begriffen, ergänzt um einen Beitrag zur altorientalischen Körperkonzeption (dessen Stellung wohl der alphabetischen Reihenfolge geschuldet ist, denn er unterbricht die Abfolge der alttestamentlichen Begriffsstudien). T. Krüger, »Das ›Herz‹ in der alttestamentlichen Anthropologie«, bietet einen sehr guten Überblick über die Bedeutung des Herzens für die alttestament­liche Anthropologie. Diese liege »weniger in der Bedeutungsbreite des hebräischen Wortes leb(ab) als darin, dass das ›Herz‹ […] zu einem Bild für den ›inneren Menschen‹ werden konnte« (118). Es gilt als »handlungsleitende und lebensorientierende Zentralin­stanz« (113). A. Nunn, »Körperkonzeption in der altorientalischen Kunst«, beleuchtet verschiedene Aspekte der Körperdarstellung. Dabei zeigen nach Nunn Sprache und Bilder deutlich, dass nicht Formen und Aussehen an sich von Interesse waren, sondern die Wirkung, die diese ausüben sollten. Einen wichtigen Beitrag zur Anthropologie der LXX leistet M. Rösel, »Die Geburt der Seele in der Übersetzung. Von der hebräischen näfäsch über die psyche der LXX zur deutschen Seele«. Unter Einfluss dichotomischen Denkens ergibt sich eine Bedeutungsdifferenzierung der ursprünglich be­deutungsgleichen Begriffe næfæš/psyche: »Mit der Einschränkung des Bedeutungsgehaltes auf die philosophische Prägung entstand nun das Phänomen, dass die LXX viel häufiger von der Seele als wesentlichem Bestandteil des Menschen redete, als es vom hebrä­-ischen Text her vorgegeben ist; die Bedeutung der Seelenvorstellung wurde so aufgewertet.« (170) Mit den inneren Organen als Sitz von Gefühlen beschäftigt sich M. S. Smith in seinem Beitrag »Herz und Innereien in israelitischen Gefühlsäußerungen. Notizen aus der Anthropologie und Psychobiologie«, der sich auch dem Block »Emotionen« zuordnen ließe. S. nimmt interkulturelle psycho- und physiologische Forschungen auf und stellt fest: »Die Ansiedelung emotionaler Reaktionen in verschiedenen Körperteilen […] geschah möglicherweise in Beziehung zur israelitischen Wahrnehmung von physiologischen Reaktionen auf Emotionen. […] Die Israeliten assoziierten Emotionen mit den inneren Organen, in denen sie die Gefühle physisch zu spüren meinten.« (176) Ein guter Abschluss dieses Blockes ist – da er sich einer grundsätzlichen Thematik widmet – der Beitrag von A. Wagner, »Wider die Reduktion des Lebendigen. Über das Verhältnis der sog. anthropologischen Grundbegriffe und die Unmöglichkeit, mit ihnen die alttestamentliche Menschenvorstellung zu fassen«. Wagner wendet sich zu Recht gegen eine einseitige Beschränkung atl. Anthropologie auf die sog. vier anthropologischen Grundbegriffe (baśar, næfæš, lēb, ruaḥ), indem er weitere Körperbegriffe einbezieht und die Aspekthaftigkeit der Aussagen über den Menschen betont.
Der vierte und fünfte Block enthalten alttestamentliche Beiträge. F. Sedlmeier, »Transformationen. Zur Anthropologie Ezechiels«, zeichnet anschaulich Grundlinien der Anthropologie des Buches Ezechiel nach. Motive wie »das verhärtete Herz«, »das Herz aus Stein«, »das zerbrochene Herz« und »das neue Herz« beschreiben Abkehr von JHWH, göttliches Gericht und Erneuerung. Resümierend hält S. fest: »Die Tatsache, dass die Transformationsprozesse wesentlich […] am Motiv des Herzens festgemacht sind, unterstreicht neben der damit betonten grundlegenden, die Personenmitte betreffenden Erneuerung des Menschen auch die Notwendigkeit einer Einsicht in den gottgewirkten, von Seiten des Menschen aber mit zu vollziehenden Vorgang.« (231) E.-J. Waschke, »Die Bedeutung der Königstheologie für die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen«, widmet sich den Imago Dei-Aussagen. Er schlägt vor, die Übertragung der Königswürde auf die Menschen nicht – wie zumeist üblich – »Demokratisierung«, sondern »Demotisierung« zu nennen, und zeigt zwei Richtungen auf: die Entsakralisierung des Königtums in der dtn Theologie und die »Royalisierung« des Menschen in der priesterlichen Theologie. Dem Thema Gottesebenbildlichkeit widmet sich auch Chr. Frevel, »Gottesbildlichkeit und Menschenwürde. Freiheit, Geschöpflichkeit und Würde des Menschen nach dem Alten Testament«. Die Studie versteht sich als bibeltheologischer Beitrag zur Diskussion um die Menschenwürde und sucht das Gespräch mit anderen theologischen Disziplinen. M. Oeming, »Alttestamentliche und philosophische Anthropologie – ein subtiles Verwandtschaftsverhältnis dargestellt am Beispiel David«, schildert den Wandel des Davidbildes vom DtrG über das ChrG bis zu den Psalmen und bringt seine Beobachtungen mit modernen philosophischen Entwürfen ins Gespräch.
Die abschließenden Blöcke wenden sich einzelnen Themen zu und sind wieder stärker interdisziplinär ausgerichtet.
Der Block »Emotionen« versammelt thematisch sehr disparate Beiträge aus Kulturethnologie, Sprachwissenschaft und alttestamentlicher Wissenschaft. A. Bender, »Heiliger Zorn im ›Paradies‹? – Emotionen im Kulturvergleich«, wirft die Frage nach der Vergleichbarkeit von Emotionen auf und prüft am Beispiel »Ärger«, ob es in polynesischen Kulturen ein Konzept von »Heiligem Zorn« gibt. A. Greule, »Empor die Herzen! Emotionen in der deutschen Sakralsprache«, untersucht die Emotionen in Lesungen und Gebeten im Gottesdienst. E. Rolf, »Emotionen zwischen Metapher und Symbol«, widmet sich der Semantik der Emotionswörter in der dt. Gegenwartssprache. Zuletzt thematisiert U. Rüterswörden die Darstellung der Charaktere und Emotionen in der Thronfolgegeschichte und legt dabei die Unterscheidung von »innengeleitetem« Charakter und konventionellem, außengesteuertem Verhalten zugrunde. Im Hinblick auf die Haltung des Erzählers resümiert R.: Seine »Spitze richtet sich gegen eine reine Innerlichkeit, die sich von jeglicher gesellschaftlicher Außeneinwirkung abgekoppelt hat; die Helden seiner Geschichte sind eigentlich nicht staats- und gesellschaftsfähig« (358).
Im letzten Block »Sinne« gibt S. Adler, »Geruchswelten im Alten Ägypten«, einen klar gegliederten Überblick über die Thematik mit Textbeispielen und fragt nach der Bedeutung des Geruchs im profanen und religiösen Leben. M. Köhlmoos, »In Tiefer Trauer. Mimik und Gestik angesichts von Tod und Schrecken«, analysiert die körperlichen Ausdrucksformen der Trauer. Da Trauerbräuche in vielfältiger Körpersprache ihren Ausdruck finden, u. a. auch im Zerreißen der Kleidung, geht dieser Beitrag über das Thema »Sinne« im engeren Sinn hinaus.
Der Aufsatzband versammelt in gelungener Weise Beiträge zu me­thodischen Grundsatzfragen und Detailstudien zu Begriffen und Themenfeldern. Dabei zeigen die Einzelstudien zu anthropologischen Begriffen und Themen sowie zur Anthropologie einzelner biblischer Bücher, dass auf dem Gebiet der alttestamentlichen An­thropologie in den letzten Jahren viel in Bewegung geraten ist. Der lesenswerte Band liefert viele neue Anstöße für die Frage nach dem Menschen im alten Israel. Dabei können die Beiträge anderer Fachdisziplinen wichtige Impulse für alttestamentliche anthropolo­gische Forschungen geben.