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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

22–25

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Tiemeyer, Lena-Sofia

Titel/Untertitel:

For the Comfort of Zion. The Geograph­ical and Theological Location of Isaiah 40–55.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2010. XV, 414 S. 23,5 x 15,5 cm = Supplements to Vetus Testamentum, 139. Lw. EUR 130,00. ISBN 978-90-04-18930-0.

Rezensent:

Christina Ehring

Die Annahme, dass zumindest der Kern von Jesaja 40–55 im babylonischen Exil zu verorten ist, gehört zu den wenigen seit Langem mehrheitlich akzeptierten Hypothesen der alttestamentlichen Forschung. Die sachliche Berechtigung dieses Konsenses zu hinterfragen, ist das Anliegen der vorliegenden umfangreichen Monographie. Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Verdacht von Lena-Sofia Tiemeyer, dass viele der für einen exilischen Ursprung von Jes 40–55 angeführten Argumente die Entstehung im babylonischen Umfeld in Wirklichkeit nicht begründen können, sondern sie stattdessen bereits voraussetzen (77).
Im ersten Kapitel benennt T. die Voraussetzungen ihrer Untersuchung. Sie versteht Jes 40–55 als ein mehrstimmiges »reading drama«, das zwischen 539 und 520 v. Chr. in Juda für eine judäische Zielgruppe verfasst wurde. Obwohl sie mit einer sukzessiven Entstehung von Jes 40–55 rechnet, hält T. diesen Prozess für großenteils nicht mehr nachvollziehbar. Sie konzentriert sich daher auf die Lektüre von Jes 40–55 als kompositorische Einheit. Eine Differenzierung zwischen einem babylonischen Kernbestand und einer oder mehreren späteren Jerusalemer Redaktionen lehnt sie ab. Diejenigen Texte innerhalb von Jes 40–55, aus denen deutlich eine Jerusalemer Perspektive spricht, werden stattdessen als Bestätigung der These einer Jerusalemer Entstehung von Jes 40–55 insgesamt gewertet.
Das zweite Kapitel widmet sich der Frage, ob die in Juda verbliebene Bevölkerung in der Zeit nach 586 v. Chr. grundsätzlich in der Lage war, ein Textkorpus wie Jes 40–55 zu produzieren. Beweiskräftigstes Argument für ein positives Urteil ist neben den archäologischen Befunden vor allem die Existenz der ebenfalls aus dieser Periode stammenden, unbestritten in Juda entstandenen Klagelieder.
Anschließend (Kapitel 3) werden die gängigen Argumente für eine babylonische Entstehung von Jes 40–55 überprüft und sämtlich für nicht stichhaltig befunden. Zentrales Element der Argumentation ist dabei die Annahme, dass Juda bereits seit dem 7. Jh. v. Chr. einem starken kulturellen und religiösen Einfluss des neuassyrischen Reiches ausgesetzt war, so dass auch für einen judäischen Autor des 6. Jh.s v. Chr. die für die Abfassung von Jes 40–55 erforderlichen, nach T. lediglich oberflächlichen, Kenntnisse der assyrischen Kultur vorausgesetzt werden können. Dasselbe gilt ihres Erachtens für den Einfluss der akkadischen Sprache bzw. akkadischer Texte auf Jes 40–55.
Auch die Götterbilderpolemik lässt T. nicht als Argument für einen babylonischen Entstehungskontext von Jes 40–55 gelten, da diese Thematik aufgrund des assyrischen Kulturdrucks für eine Zielgruppe in Juda ebenso relevant gewesen sei wie für die exilierten Judäer. Die Untersuchung exemplarischer Textstellen (Jes 40,18–20 und 44,14) ergibt jedoch kein eindeutiges Bild. So ordnet T. aufgrund der erwähnten Holzsorten Jes 40,18–20 eher einem babylonischen und Jes 44,14 eher einem judäischen Kontext zu (116). – Ein Ergebnis, das, zusammen mit weiteren Indizien, bei anderen Prämissen auch als Aufforderung verstanden werden könnte, die Möglichkeit verschiedener Entstehungsstufen innerhalb von Jes 40–55 zumindest zu erwägen und dabei auch eine Differenzierung innerhalb der götterbilderpolemischen Texte nicht auszuschließen.
Ein weiterer Abschnitt widmet sich der Darstellung Babylons und babylonischer (Kult-)Praktiken. Auch hier sieht T. durchgängig unspezifische Aussagen, die keine detaillierte und nur vor Ort zu erwerbende Kenntnis der babylonischen Gegebenheiten erfordern. So weist sie darauf hin, dass das in Jes 46,1–2 verarbeitete Motiv des Abtransports feindlicher Götter(bilder) dem Verfasser vor allem durch die Kenntnis der betreffenden mesopotamischen Inschriften bekannt gewesen sein dürfte. Das entscheidende Kriterium für die Richtigkeit von T.s Gesamturteil ist also auch hier die wichtige und mit Recht gestellte Frage, wie die Verbreitung und Kenntnis der babylonischen und assyrischen Literatur und Kö­nigs­inschriften unter den israelitischen Schreibern in Juda zu bewerten ist. Kein überzeugendes Argument ist meines Erachtens die Be­hauptung, ein in Babylon ansässiger Autor hätte sich aufgrund seiner Kenntnis der auf den Mondgott Sin konzentrierten Religionspolitik Nabonids in Jes 46,1–2 nicht auf die Götter Marduk und Nabû bezogen. Denn mit gleichem Recht ließe sich anführen, dass gerade ein in Babylon ansässiger Autor wusste, wie wenig Nabonids Propaganda der Realität in Babylon entsprach – erst recht nach 539 v. Chr.
Kapitel 4 bildet das Gegenstück zum Vorangegangenen, indem es diejenigen Texte in Jes 40–55 untersucht, aus denen aufgrund von räumlichen Angaben oder Aussagen über Opfer und Tempel eine explizit judäische Perspektive spricht. Die Ergebnisse sind dabei, wie T. selbst zugibt »at best circumstantial and/or implicit« (131). An einigen Stellen fordert die Argumentation auch zum Wi­derspruch heraus. Insbesondere ist der Schluss von einer auf Juda/ Jerusalem konzentrierten Perspektive des Textes auf eine judäische Autorschaft nicht zwingend, wie T. selbst einräumt (152 f.). Dies gilt z. B. für die Aussage, JHWH habe Israel, Abrahams Nachkommenschaft, von den »Enden der Erde« her gerufen (Jes 41,8–9). T.s Urteil, »a person living in sixth-century BC Babylon would hardly refer to the still-existing Babylonian city of Ur as ›the ends of the earth‹« (133), berührt eine grundsätzliche Frage: Ist es denkbar, dass der/die Verfasser von Jes 40–55 auch im babylonischen Exil am Weltbild der Jerusalemer Kulttradition mit Jerusalem als Zentrum der Welt festhielten? – Meines Erachtens gibt es Beispiele, die dafür sprechen, vgl. z. B. Ezechiels Vision vom Jerusalemer Tempel als Wohnort der »Herrlichkeit JHWHs«.
Kapitel 5 widmet sich der sog. Exodus-Thematik in Jes 40–55 und kommt zu dem Ergebnis, dass jene eine weniger zentrale Rolle spielt als häufig behauptet, wobei viele der betreffenden Texte zudem am besten metaphorisch und nicht als Hinweis auf einen zweiten Exodus aus Babylon zu verstehen sind. Als Argument für eine babylonische Entstehung von Jes 40–55 kann die Exodus-Thematik daher laut T. nicht gelten.
Kapitel 6 beschreibt die methodischen Prämissen der folgenden drei Kapitel, in welchen T. die literarischen Figuren Jakob, Israel (Kapitel 7), Zion, Jerusalem (Kapitel 8) sowie den Gottesknecht, den Propheten und die Stimme Gottes (Kapitel 9) hinsichtlich der durch sie repräsentierten historischen Gruppen und theologischen Konzepte untersucht. Die Kriterien für die Theologie einer in Juda beheimateten Gruppe übernimmt T. von Middlemas (The Troubles of Templeless Judah, 2005): die Betonung von menschlichem Leiden, Trauer und Anklage, fehlende Hoffnung für die Zukunft und geringe Bedeutung der Schuldthematik (211). Als Vergleichsgrößen für judäische bzw. exilische Theologie werden die Klagelieder bzw. Ezechiel herangezogen. T.s Fazit: Sowohl Jakob-Israel als auch Zion-Jerusalem repräsentieren judäische Adressaten. Dabei kann Jakob-Israel auch für die Kontinuität zwischen vor- und nachexilischer Zeit stehen, während Zion-Jerusalem sowohl die Bevölkerung Judas als auch die Stadt Jerusalem und ihre Einwohner bezeichnen kann. Auch die Stimmen Gottes, des Propheten und des Gottesknechts sind theologisch in die Nähe der Klagelieder und damit in einen judäischen Kontext einzuordnen.
Kapitel 10 ist dem »Prolog« von Jes 40–55 gewidmet. T. stellt die verschiedenen Positionen zur Abgrenzung und Einheitlichkeit dar und entscheidet sich für Jes 40,1–11 als eine literarische Einheit, die Jes 40–55 als Leseanleitung vorgeschaltet wurde und durch die Aufnahme von Jes 52,7–10 einen theologischen Schwerpunkt auf die Botschaft der Rückkehr Gottes nach Jerusalem setzt. Dabei stehen die Einwohner Jerusalems und nicht die Gola als primäre Adressaten der deuterojesajanischen Trostbotschaft im Zentrum (344).
Kapitel 11 untersucht die zahlreich vorhandenen sprachlichen und motivlichen Parallelen zwischen Jes 40–55 und den Klageliedern. Mit guten Gründen kommt T. zu dem Ergebnis, dass Jes 40–55 viele bewusste Anspielungen auf die Klagelieder enthält und als eine Antwort auf jene verstanden werden kann (351). Dass die Funktion dieser Anspielungen besser zu verstehen ist, wenn man Jes 40–55 ausschließlich in Juda verortet (360), ist jedoch meines Erachtens nicht zwingend. Die von T. genannten Argumente – die Jerusalemzentriertheit des Großjesajabuches, die inhaltlichen Be­züge zu den judäischen Klageliedern und die auch für Juda vorausgesetzte Kenntnis assyrischer Kultur und Religion – sind nicht von der Hand zu weisen. Sie sprechen in der Tat dafür, die Frage nach der Lokalisierung von Jes 40–55 erneut zu stellen. Ob das weitergehende Anliegen, die ausschließliche Entstehung von Jes 40–55 in Juda plausibel zu machen, erreicht wurde, wird sich zeigen. Für die Rezensentin bleibt diese Schlussfolgerung zweifelhaft. Das liegt zum einen an den genannten grundsätzlichen Einwänden: der prinzipiellen Ablehnung, eine mehrstufige und damit evtl. auch geographisch differenzierte Entstehung von Jes 40–55 zu erwägen sowie der Einseitigkeit des vorausgesetzten internationalen Horizonts der Schreiber, die zwar mit der Verbreitung von Wissen über mesopotamische Kultur und Religion in Juda rechnet, nicht jedoch mit der Möglichkeit, dass ein im babylonischen Exil verfasster Text eine auf Jerusalem fokussierte Theologie zugrunde legt. Zum anderen fordern viele exegetische Einzelentscheidungen der Arbeit zur Diskussion heraus. Zum Beispiel: Lässt sich aus dem Jubel von Bergen und Wäldern in Jes 44,23 tatsächlich auf einen judäischen Kontext schließen, weil ein exilischer Autor stattdessen Felder und Seen genannt hätte (232)? Immerhin ist auch in mesopotamischen Texten die Zusammenstellung von Himmel und Erde, Meer und Bergen zur Bezeichnung der Gesamtheit des Kosmos verbreitet.
T.s Arbeit zeichnet sich u. a. durch eine durchgängige Reflexion der methodischen Prämissen aus. An einigen Stellen hätte die Durchführung meines Erachtens noch konsequenter erfolgen können. So weist T. am Beispiel von Jes 52,11 zu Recht darauf hin, dass eine direkte Anrede an die Gruppe der Exilierten auch ein rhetorisches Mittel sein kann und judäische Adressaten des Textes nicht ausschließt (145). Folgerichtig wäre es meines Erachtens, dasselbe auch für die Anrede an Zion-Jerusalem in Jes 49,17 u. ö. zu erwägen, die im Umkehrschluss nicht zwingend eine judäische Verfasserschaft voraussetzen muss (143 f.).
Diese Detailfragen sind von Bedeutung, da sich das Gesamtergebnis der Arbeit aus den Entscheidungen vieler Einzeltextuntersuchungen zusammensetzt. Die kritischen Anmerkungen sollen die Gesamtleistung der vorliegenden Studie aber nicht infrage stellen. Die Monographie beeindruckt u. a. mit der Fülle der verarbeiteten Literatur, ihrer klaren Methodenreflexion sowie ihrem durchdachten Aufbau. Unabhängig davon, ob man sich ihrem Ge­samtergebnis anschließt, zwingt sie dazu, den Konsens einer babylonischen Entstehung von Jes 40–55* noch einmal zu überprüfen. Bereits darin besteht eine bemerkenswerte Leistung, die eine intensive Auseinandersetzung verdient.