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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

17–18

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hezser, Catherine

Titel/Untertitel:

Jewish Travel in Antiquity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. X, 529 S. 23,2 x 15,5 cm = Texts and Studies in Ancient Judaism, 144. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-150889-9.

Rezensent:

Tal Ilan

Es handelt sich bei diesem Buch um eine monumentale Ge­schichtsstudie, die ihresgleichen sucht. Catherine Hezser hat jeden Informationsschnipsel darüber gesammelt, wie Juden in hellenistischer, römischer und byzantinischer Zeit gereist sind, und auf den 462 Seiten zusammengetragen. Sie hat eine Vielzahl von Quellen benutzt: die post-biblischen apokryphen Bücher, die Schriften des Historikers Josephus und des Philosophen Philo, das Neue Testament, ar­chäologische Funde, Inschriften und Papyri, vor allem jedoch den kompletten Corpus der rabbinischen Literatur in seiner ganzen chronologischen und geographischen Vielfalt. H. beschreibt Straßen, Herbergen, Last- bzw. Reisetiere und Seefahrt. Sie erörtert das jüdische Gesetz auf Reisen, den Zweck jüdischer Reisen im Allgemeinen (Studien-, Pilger- oder Handelsreisen) und vieles mehr.
Um dies zu erreichen, legt H. dem Leser zu Beginn eines jeden Kapitels die Beobachtungen anderer Wissenschaftler vor, die in verwandten Bereichen bereits zu diesem Thema geforscht haben. Deren Beobachtungen nutzt sie anschließend für ihre Lesart der jüdischen Quellen. Schließlich beginnt sie mit der Analyse der einzelnen Teile, die sie während ihrer sorgfältigen Recherchearbeiten zusammengetragen hat. Der einzelnen Quelle widmet sie nur wenig Platz, benennt dabei aber prägnant deren Inhalt und Nutzen bzw. deren Nutzlosigkeit für eine historische Rekonstruktion.
Es besteht keinerlei Zweifel darüber, dass H.s enormes Wissen atemberaubend ist. Sie hat in dieser Forschungsarbeit sowohl mit ihrem Wissen auf dem Gebiet der Primärquellen als auch mit ihrer Gelehrsamkeit in der Sekundärliteratur beeindrucken können. Mit ihrem Buch stellt sich H. ganz klar gegen die neuesten Entwick­lungen, die sich mit der Geschichtsschreibung im Lichte der rabbinischen Literatur befassen. Bemühungen wie die hier von H. werden eher als vergeblich betrachtet, da die rabbinische Literatur einen zu literarischen und willkürlichen Charakter zu haben scheint. Dessen ist sich H. aber durchaus bewusst und versucht daher gar nicht erst, dem zu widersprechen.
Obwohl H. bei ihrer Arbeit sehr zuverlässige Quellen benutzt, bleibt vieles unsicher. Ich schlage zufällig S. 248 auf und bemerke Folgendes: »die Geschichte bedeutet wahrscheinlich … (the story probably implies …)«, »Einige Rabbinen könnten versucht haben … (Some rabbis may have tried …)«, »Der Verweis … legt nahe … (The reference … suggests …)«, »Die verschiedenen Handwerksgilden gelten als … (the various artisan guilds are said to …)«, »All dies wird gesagt … vielleicht um zu zeigen … (All this is stated … perhaps to indicate …)«, »Ob und in welchem Umfang … ist ungewiss … (Whe-ther and to what extent … is uncertain …)« und schließlich »Wir wissen nicht … (We do not know …)«. All das steht auf nur einer Seite. Und dennoch merkt man, dass trotz solcher zwangsläufigen Unsicherheiten das Zusammentragen von so vielen verschieden Teilen ein Ganzes schafft, welches weit mehr als die Summe seiner Teile ergibt (und dass die Zweifel nur einzelne Teile betreffen). Wenn man das Buch gelesen hat, ist man viel besser über die jüdischen Reisegewohnheiten der Antike informiert als vorher. Darüber hinaus scheint der größte Teil dieser Studie historisch korrekt zu sein.
Den verbleibenden Platz werde ich dazu nutzen, um ein wenig sporadische Kritik zu üben. Das Ergebnis eines solch umfassenden Œuvres (oder sollten wir »Waldes« sagen) ist, dass man manchmal die Details aus den Augen verliert (oder um in der Metapher zu bleiben – die »Bäume«). Einem sorgsamen Leser wird auffallen, dass hin und wieder die Aufmerksamkeit nicht auf der offensichtlichen und einfachen Bedeutung des Textes liegt und manches einfach missverstanden wurde.
Ein einfaches Beispiel findet man auf S. 67. H. beschreibt die Geschichte wie folgt: »Die erste Variante [der Geschichte] handelt von dem babylonischen Amora Shmuel und seinem palästinischen Zeitgenossen R. Yehudah.« Das ist offensichtlich nicht korrekt. Der »R. Yehudah«, den H. beschreibt, ist tatsächlich (sowie im Text) Rav Yehudah. Er ist der bekannteste Schüler Shmuels und ist ebenso Babylonier wie sein Lehrer. Den Dialog zwischen den beiden Weisen als eine Annäherung zwischen einem Babylonier und einem Palästiner zu be­schreiben, ist jedoch inkorrekt.
Auf S. 298 befasst sich H. mit der rituellen Reinheit der Frauen für ihre Männer, wenn diese nach langen Reisen aus dem Ausland zurückgekehrt sind, wie sie in mNiddah 2:4 beschrieben sind. Bei H. heißt es: »Sie durften sofort mit ihnen Geschlechtsverkehr haben […] Die Schulen Hillels und Shammais waren allerdings strenger: Das Paar konnte nur dann Geschlechtsverkehr miteinander haben, wenn die Reinheit der Frau von zwei Zeugen bestätigt wurde«. Abgesehen von der seltsamen Situation, die H. hier annimmt, dass andere Männer dem Mann sagen, ob seine Frau menstruiert oder nicht (ein solcher Eingriff in die Privatsphäre der Frau konnte nicht von den Rabbinen beabsichtigt worden sein, da nach jüdischem Recht nur erwachsene, männliche Juden als Zeugen infrage kämen), ist die Lesart dieses Textes komplett falsch. Es trifft zwar zu, dass das Wort edim (Zeugen) hier tatsächlich Verwendung findet, allerdings nicht als »Menschen«, sondern als Kleidungsstücke, die eine Frau benutzt, um anzuzeigen, ob sie aus ihrer Vagina blutet oder nicht – dies wird aus dem Text zu Beginn des selben Kapitels ersichtlich (mNiddah 2:1).
Auf S. 355 beschreibt H. eine berühmte Episode: Ein Rabbi aus Eretz Israel migriert nach Babylonien, um einen Schaltmonat in das neue Kalenderjahr einzufügen, und untergräbt damit die palästinische Autorität, da diese an der Meinung festhält, dass das Hinzufügen eines Schaltmonats nur in Israel ge­schehen könne. Die Rabbinen aus Palästina senden daher eine Delegation nach Babylonien, um dies zu verhindern. H. liest die Geschichte wie folgt: »R. Natan sei an­geblich durch Hananiahs Kalendereinführung in Babylonien legitimiert, welcher sagte: ›Von Babylonien geht die Torah aus und das Wort Gottes von Nehar Paqod‹ […] dies wurde gesagt, um folgendem Ausspruch entgegenzuwirken: ›Weit weg von Zion geht die Torah und das Wort Gottes von Jerusalem‹.« Das ist eine komplett falsche Lesart des Textes. Zunächst einmal ist das letzte Zitat ein Bibelvers des Propheten Jesaja (2,3). Das vorangegangene ist eine Paraphrase und steckt voller Ironie. R. Natan sagt zu Hananiah: Liest du den Bibelvers wie folgt: ›Von Babylonien geht die Torah aus etc.‹? Worauf alle antworten: Nein, wir lesen ihn wie ihr es tut: ›Weit weg von Zion geht die Torah etc.‹ Daraufhin antworten die palästinischen Rabbinen: nur wenn man das Jahr in Palästina einführt ( ySanhedrin 1:2, 19a). So sollte man die Geschichte lesen.
Mein letztes Beispiel ist von etwas anderer Natur. Auf S. 170 schreibt H.: »67 v. d. Z. übertrug der römische Kaiser Pompeius die Aufgabe, Piraten zu be­kämpfen […]«. Meine Frage lautet nun: gab es 67 v. d. Z. einen römischen Kaiser? Pompeius war zu dieser Zeit beinahe Kaiser, aber es war natürlich der Senat, der ihn aussandte, um die Piraten zu bekämpfen.
Diese Beispiele sollen zeigen, dass es für eine so große Studie besser wäre, wenn sie vor der Veröffentlichung noch von einem anderen Fachkundigen begutachtet werden würde. Das aber mindert nicht meine Bewunderung für ein solch enormes Projekt.