Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

15–17

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Henze, Matthias

Titel/Untertitel:

Jewish Apocalypticism in Late First Cent­ury Israel. Reading Second Baruch in Context.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. X, 448 S. 23,2 x 15,5 cm = Texts and Studies in Ancient Judaism, 142. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-150859-2.

Rezensent:

Martin Rösel

Die syrische Baruchapokalypse (der Zweite Baruch) steht nicht im Fokus des Interesses der Bibelwissenschaft, zumal sie oft als epigonenhaft abhängig vom 4. Esrabuch gilt. Das Buch von Matthias Henze ist geeignet, beides zu korrigieren. Es ist entstanden als ausführliche Vorstudie zu einem Kommentar in der CEJL-Serie, dem textkritische Überlegungen und eine Übersetzung des Buches vorbehalten bleiben. Die Arbeit stellt das Baruchbuch in den weiten Kontext der jüdischen Apokalyptik; daher ist sie auch für Leserkreise von hohem Interesse, deren Aufmerksamkeit nicht nur dieser speziellen Schrift, sondern der apokalyptischen Literatur des 1./2. Jh.s allgemein gilt.
Das Buch beginnt mit einer »Introduction« (1–15), die zunächst knapp vorstellt, wie es zur damnatio memoriae des SyrBar in Kirche und Wissenschaft kommen konnte. Danach werden die Haupt­-linien der Argumentation des Vf.s vorgestellt. Er versteht die Ba­ruch-Apokalypse als Teil eines breiten Stroms von Nachkriegsliteratur (so auch im englischen Text), der es um die Deutung des jüdischen Krieges und den Untergang des Tempels ging. Keinesfalls sei das Buch als randständiges »dissident document« zu verstehen, sondern der Vf. verortet es in der Mitte eines von Tora-Frömmigkeit und apokalyptischem Denken geprägten Traditionsstromes, der in ungebrochener Kontinuität zu Literatur steht, die vor 70 n. Chr. entstanden ist, und der zugleich zum späteren rab­-binischen Judentum vorausweist.
Im Kapitel »Prolegomena« (16–70) werden dann die wichtigsten Einleitungsfragen besprochen, die Forschungsgeschichte vorgestellt und vor allem ein eigener Vorschlag zu Argumentationsweise und Komposition des Buches dargestellt, der sich von der sonst üblichen, an 4. Esra orientierten Siebener-Struktur abhebt. Be­son­ders auffällig ist dabei, dass nicht wie in der restlichen Forschung von drei, sondern nur von zwei Visionen und zugehöriger Deutung ausgegangen wird (Kapitel 36–43 und 52–76). Dabei wird das Buch infolge inhaltlicher und linguistischer Gründe als einheitliches Werk verstanden (43). Hier erhebt sich jedoch eine methodische Anfrage, denn SyrBar ist ja die Übersetzung eines weitgehend verlorenen griechischen Textes, der wiederum ein hebräisches Original übersetzt hat (dazu 23–25). Linguistische Einheitlichkeit einer Sekundärübersetzung ist insofern nicht sehr überraschend. Beim Lesen der Arbeit entsteht überdies oft der Eindruck, als handele es sich beim syrischen Text um das Original. Zwar ist zuzugeben, dass nur dieser Text zur Verfügung steht und damit Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dem Buch sein muss, doch wäre es m. E. lohnend, ihn auch mit dem methodischen Instrumentarium der Übersetzungsforschung zu untersuchen, um Näheres über mög­-liche Übersetzungsstrategien zu erfahren und damit deutlich ma­chen zu können, welche eigenen Aussageabsichten unter Um­ständen im Zuge der Übersetzungen eingeflossen sind.
In den folgenden Kapiteln werden dann Hauptthemen des Buches vor- und in den weiteren Horizont der zeitgenössischen Literatur hineingestellt. Kapitel 3, »Inhabiting the Biblical Space« (71–126), beschäftigt sich mit dem narrativen Rahmen des Buches, zeichnet das Wachstum der Baruch-Traditionen nach und führt vor, wie biblische Traditionen verarbeitet wurden.
Kapitel 4, »An Argument Among Unequals« (127–186), beschäftigt sich mit der dialogischen Struktur des Buches, wobei es zum einen um die Gespräche zwischen Gott und Baruch geht, zum an­deren um die strittigen Beziehungen zum 4. Esrabuch. Hier wird die – plausible – These begründet, dass sich die Gemeinsamkeiten der Bücher nicht als literarische Abhängigkeit, sondern aus einer gemeinsamen Entstehenssituation heraus erklären lassen, von der aus sich die Bücher getrennt entwickelt haben. Hinzu kommt, dass das ganze Buch als Kompilation vorhandenen Materials erklärt wird, wobei inhaltliche Wiederholungen auch auf mündliche Vorträge des Textes zurückgehen können; hier fließen Ergebnisse der neueren Forschung zur Oralität ein (182–185).
Kapitel 5, »Speaking Publicly: The Place of Second Baruch in Post-70 CE Judaism« (187–252), stellt die drei großen Reden Baruchs als entscheidendes Strukturmerkmal des Buches vor. In ihnen wird die aktuelle Gemeinde in der Nachkriegssituation direkt angesprochen, das deuteronomistische Tora-Konzept entwickelt und bis zur Es­chatologie ausgeweitet. Sehr instruktiv ist der Vergleich mit dem Text 4QMMT aus Qumran, der die Einschätzung untermauert, dass SyrBar nicht als »dissident document« zu verstehen ist.
Kapitel 6, »Time Made Visible: Second Baruch’s Eschatology« (253–320), und der zugehörige Exkurs zum Verhältnis des SyrBar zum frühen Christentum (321–349) sind das Herzstück der Arbeit. Hier werden zunächst sehr detailliert die Visionsberichte ausgelegt, wobei der Vf. auch durch Vergleiche mit der Henochliteratur zu dem Ergebnis kommt, dass in den eigentlichen Visionen überliefertes Material aufgenommen wurde, die Deutungen dagegen stammen vom Autor selbst. Die Ergebnisse dieses Abschnitts sind in sieben Thesen knapp und gut nachvollziehbar zusammengefasst (317–320). Die Überlegungen zum Verhältnis des Buches zur frühchristlichen Literatur passen in die derzeitige Perspektive, »the parting of the ways« zwischen Judentum und Christentum deutlich später als bisher anzusetzen. Durch detaillierte Vergleiche des SyrBar mit Passagen aus dem Matthäus-Evangelium und Paulus-Briefen wird deutlich, wie sehr die messianischen Vorstellungen der beiden üblicherweise als christlich benannten Verfasser als eindeutig jüdisch zu verstehen sind. Hier zeigt sich exemplarisch der Nutzen, den die Beschäftigung mit diesem außerkanonischen Buch für die Beschäftigung mit den kanonischen Bibeltexten hat.
Kapitel 7, »Apocalyptic Epistolography: The End and the Diaspora« (350–371), beschäftigt sich mit dem das Buch abschließenden Brief Baruchs, der separat vom Hauptteil des Buches in einer Fülle von erhaltenen Handschriften tradiert wurde und eine ganz eigene Überlieferungsgeschichte hat. Der Vf. zeigt, dass der Brief nicht separat entstanden ist, sondern das restliche Buch voraussetzt und den Anspruch der Schrift untermauert, ein Programm für das ganze Judentum zu formulieren. Ein kurzes Kapitel 8 (372–375) fasst die Ergebnisse der Arbeit nochmals knapp zusammen.
Die Studie ist in einem guten, sehr klar argumentierenden Stil geschrieben. Sie ist stets am Text orientiert und ordnet dem auch den Umgang mit der Sekundärliteratur unter. Im Haupttext werden syrischsprachige Zitate stets übersetzt, so dass fehlende Syrischkenntnisse kein Hinderungsgrund sein sollten, die Arbeit zu lesen. Die relevante Sekundärliteratur ist, soweit ich das sehe, vollständig wahrgenommen worden. Insgesamt handelt es sich um ein sehr lesenswertes Buch, das nicht nur für die Apokalyptik- und Pseudepigraphenforschung, sondern sowohl für die Rezeptionsgeschichte des Alten als auch für die Exegese des Neuen Testaments Bedeutung hat.