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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

13–15

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Fuß, Martin

Titel/Untertitel:

Die Konstruktion der Heiligen Stadt Jerusalem. Der Umgang mit Jerusalem in Judentum, Christentum und Islam.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2012. 434 S. 20,5 x 14,5 cm = Stuttgarter Biblische Beiträge, 68. Kart. 52,00. ISBN 978-3-460-00681-2.

Rezensent:

Angelika Neuwirth

Das Buch hat sich das ehrgeizige Programm gesetzt, den Umgang der drei monotheistischen Religionen, die gewissermaßen auf dem Fels Jerusalems gebaut sind, vorzustellen. Sein Autor Martin Fuß, selbst Religionswissenschaftler, der aber auch mit den übrigen für ein solches Unternehmen einschlägigen Disziplinen vertraut ist, hat die Arbeit als Dissertation an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg eingereicht. Das Werk, das die Forschung auf alttestamentlichem und judaistischem, kirchengeschichtlichem und islamwissenschaftlichem Gebiet in einer gut lesbaren Weise referiert, ist eine sehr verdienstvolle Synopse und verdient hohe Anerkennung. Gleichwohl wirft es einige Fragen auf. Ich möchte mich auf eine einzige, m. E. unumgängliche Diskussion beschränken: Will dieses Buch ein historischer oder ein religionsgeschichtlich-theologischer Abriss sein?
Vorwort und Einleitung deuten auf die doppelte Zielsetzung hin. Was sich in den beiden gut erforschten Bereichen der jüdischen und christlichen Jerusalem-Rezeption aber noch einigermaßen »unter einen Hut bringen lässt«, wird, sobald es zum Islam kommt, problematisch. Dieser Teil des Buches, besonders 120–126, legt in überdeutlicher Weise eine immer noch bestehende hermeneutische Malaise bloß. Das Islamkapitel fällt deutlich gegenüber den Darstellungen der jüdischen und christlichen Jerusalem-Rezeptionen ab – kein Wunder, da F. selbst »die islamischen literarischen Überlieferung[en] in Bezug auf Jerusalem […] (als) verwirrend« einstuft. In der Tat steht er hier vor der schier unerfüllbaren Aufgabe einer Synthese von oft weit auseinanderklaffenden Positionen. Er verlässt sich – und hier liegt die Problematik seiner Ar­beit – auf die Standardwerke von Islamhistorikern, die weniger an dem religiösen Potential der islamischen Jerusalem-Wahrnehmung als an der Rekonstruktion von historischen Abläufen interessiert sind. F.s arabische Quellen sind daher auch die üblichen Historikerquellen: islamische Traditionen aus der historischen und Ha­dithliteratur, die von der Zeit, über die sie berichten, chronologisch bereits Jahrhunderte entfernt sind. Was man – wie die von ihm herangezogenen Studien von Islamhistorikern beweisen – aus diesen Quellen destillieren kann, sind historische Informationen über die Zeit nach der Korangenese, die hermeneutisch bereits einem Weltbild verpflichtet sind, in dem sich der Islam machtpolitisch be­hauptet hat. Sie sehen daher die im Koran reflektierten Auseinandersetzungen mit anderen Religionen bereits aus der Siegerperspektive, die die einstigen Rivalen nicht mehr auf Augenhöhe positioniert. Sie sind daher für die eigentliche Grundlage des bei F. zur Debatte stehenden Umgangs mit Jerusalem, den Koran selbst, nur wenig ergiebig. Sie verraten nichts zu den hier entscheidenden Fragen: Welchen Stellenwert – nicht so sehr als topographisch konkrete Stadt, sondern als religiöse Idee – hat Jerusalem in der Vorstellung der ersten Hörer, welchen Stellenwert erhält es, als sich im Verlauf der Verkündigung eine lebhafte Debatte mit den angestammten »Erben« der Jerusalem-Idee entwickelt?
Obwohl F. solche Fragen streift, ist er in einer noch sehr konventionellen, ganz vom Autorbild Muhammads geprägten Sicht befangen, die in der neueren Forschung nicht mehr aufrechterhalten wird. Muhammad erscheint bei ihm als jemand, der initiativ eine Gebetsrichtung »anordnet« (125), und der die Verweise auf Jerusalem im Koran knapp hält, da »die historisch notwendig gewordene Distanzierung von Judentum und Christentum und von deren Heiliger Stadt« dies nahelegt (125). Dieses hilflos gezeichnete Bild von einem religionspolitisch gelenkten Propheten als »Autor« des Koran, das den Tiefpunkt der ansonsten wichtigen Arbeit markiert, erfordert eine Korrektur. Der Koran ist nicht das literarische Werk Muhammads, sondern die Mitschrift einer sich über mehr als 20 Jahre hinziehenden Verkündigung, die neben dem Verkünder auch eine Gemeinde einbezieht, die im Text auf Schritt und Tritt präsent und deren Akzeptanz für den Prozess der Verkündigung von höchster Bedeutung ist; anders hätte sie nicht fortschreiten können. Man hat deswegen bei der Gemeinde von »passiven Mitautoren« der entstehenden Schrift gesprochen. Also nicht Religionspolitik Muhammads, sondern das sich schärfende Selbstbewusstsein der Gemeinde als eines neuen Gottesvolks re­flektiert sich im Koran.
Es ist bereits seit Uri Rubins Beiträgen zu Jerusalem im Islam (vor allem JSAI 34, 2008) klar, dass die im Folgenden von Bernhard Uhde zitierte Behauptung nicht unproblematisch ist: »Der Um­gang mit dem Koran als Quelle ist hier und im Folgenden vom Wissen geprägt, dass die islamische Tradition hochdifferenzierte – christlicher Exegese der Bibel nicht nachstehende – Auslegungsmethoden kennt, die nicht zuletzt in den großen Kommentarwerken ihren Niederschlag ge­funden haben. Daher ist der ›un­mit­telbare‹ Rückgriff auf den koranischen Text stets problematisch.« Fragwürdig ist diese Behauptung, da kaum jemand ernsthaft die von den Kirchenvätern, die hier ja wohl das Analogon zu den islamischen Kommentatoren bilden, hinterlassenen Auslegungsme­thoden ernstlich einer heutigen wissenschaftlichen Bearbeitung biblischer Texte zugrundelegen würde. Warum sollte das entsprechende Verfahren im Falle des Koran angeraten sein? Und wie kann überhaupt der unmittelbare Rückgriff auf den Grundtext einer Religion »problematisch« sein?
Eine Beschäftigung mit religionsgeschichtlich relevanter Lite­ra­tur wie den Beiträgen zum Korantext von Uri Rubin (2008), Jo­seph Witztum (BSOAS 72, 2009) und Angelika Neuwirth (Der Koran als Text der Spätantike, 2010) hätte zeigen können, dass sich ein solcher Rückgriff auf den Text selbst durchaus lohnt. Leider hat sich F. vom epistemischen Pessimismus des zitierten Statements einschüchtern lassen. Die Annahme, Muhammad habe die Jerusalem-Referenzen absichtlich niedrig gehalten, zeigt eine Vorstellung von Islamgenese, die sich von den uns bekannten Prozessen der Entstehung anderer Religionen unterscheidet, die aus ge­meindlichen De­batten, nicht zuletzt mit bereits etablierten Religionen oder philosophischen Schulen, hervorgegangen sind, wie etwa Guy Stroumsa (Das Ende des Opferkults, 2011) dies für das Christentum kürzlich gezeigt hat. Dagegen nimmt sich die von F. vorausgesetzte aukto­riale Rolle Muhammads, der den Koran unter religionspolitischen Abwägungen gewissermaßen am Reißbrett entwirft, bizarr aus.
Man hat vielmehr mit Rubin davon auszugehen, dass es während der mekkanischen Verkündigung zur Annahme der Jerusalemer Gebetsrichtung kam, die dann in Medina noch 17 Monate, wie die Tradition will (125, Anm. 24), eingehalten wurde. Diese Gebetsrichtung, auf deren Grundlage der Vers über die nächtliche Entrückungserfahrung des Propheten in Q 17:1 erst verständlich wird– was keineswegs, wie F. (124, Anm. 22) meint, bisher unbekannt war –, muss natürlich ebenfalls als eine Aneignung nicht nur Muhammads persönlich, sondern auch der Gemeinde verstanden werden, die sich – wie aus einer Vielzahl von koranischen Zeugnissen hervorgeht – von ihrem lokalen paganen Heiligtum distanzierte. Eine Gebetsrichtung ist keine Bagatelle, sie markiert eine deutliche Neuorientierung, verweist auf die Konstruktion einer Identität, in diesem Fall auf die Ersetzung der lokalen mekkanischen durch eine biblische. Jerusalem ist gleichsam der Kristallisationspunkt des Heiligen Landes, dessen heilsgeschichtliche Figuren als Vorbilder der neuen Gemeinde in mekkanischer Zeit zahllose Male dargestellt werden. An diese Tradition schließt sich die neue Ge­meinde an, sie versteht sich am Ende als den biblischen Erwählten zugehörig und konstruiert Mekka als das Neue Jerusalem.
Denn Mekka mit seiner Kaaba konnte nur deswegen zu dem zentralen Heiligtum werden, weil ihm die »Verdienste« Jerusalems übertragen wurden: die Heiligtumsgründung durch Abraham und einen seiner Söhne – die Aqedah, die Bindung des Abrahamssohns, wird von Moriah nach Mekka transferiert, s. Witztum (2009), die Gebetsrichtung und die Stiftung eines Wortgottesdienstes zusätzlich zu den urtümlichen Riten, s. Neuwirth (2010). Jerusalem wird also re-konfiguriert – zwischen Judentum und Christentum vollzog sich der entsprechende Prozess innerhalb ein und desselben Stadtgebiets – als Heiligkeitstransfer von Moriah nach Golgatha. Für den Islam war die Strecke länger. Gleichwohl ist der Prozess ein entsprechender. Auch Mekka beerbt Jerusalem, wird zu einem Neuen Jerusalem.