Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/1996

Spalte:

309–311

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Möller, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts. 2: Von Martin Luther bis Matthias Claudius.

Verlag:

Göttingen-Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 430 S. m. 22 Abb. gr. 8o. Lw. DM 96,­. ISBN 3-525-62340-2.

Rezensent:

Holger Eschmann

Der vorliegende zweite Teil der auf drei Bände angelegten "Geschichte der Seelsorge" beinhaltet 22 Porträts von Seelsorgern und einer Seelsorgerin aus der Zeit der Reformation, der Orthodoxie, des Pietismus und der Aufklärung. Wie in Band 1 sind die einzelnen Beiträge jeweils in drei Teile gegliedert. Zunächst werden die Biographie und das seelsorgliche Wirken der Person geschildert In einem zweiten Abschnitt veranschaulichen exemplarische Texte die Theorie und Praxis ihrer Seelsorge. Im dritten Teil versuchen die Autoren, die bleibende Bedeutung der Seelsorge der behandelten Personen für die heutige poimenische Praxis festzuhalten. Alle Einzelporträts werden mit Literaturhinweisen für die eigene Weiterarbeit abgeschlossen.

Die Vf. der Beitrage (diesmal ist leider keine Vfn. dabei) kommen überwiegend aus dem Bereich der EKD und der römisch-katholischen Kirche. Bei den vertretenen theologischen Fachrichtungen nimmt die Kirchengeschichte mit etwa der Hälfte der Beiträge wieder den größten Raum ein.

Hatte der Rez. zu Band 1 angemerkt, daß man wegen der Verschiedenartigkeit der einzelnen Artikel bei der Lektüre nur schwer einen "geschichtlichen Überblick" gewinnen kann und sich deshalb "überleitende oder verbindende Worte" des Herausgebers wünschen würde (ThLZ 120 [1995], 485) so wird in der Einleitung zum vorliegenden Band diesem Desiderat stärker entsprochen. In 7 Punkten zeichnet Möller skizzenartig Stärken und Schwächen der Seelsorge des 16., 17. und 18. Jh.s auf. In diesem Zusammenhang werden auch seelsorglich bedeutsame Persönlichkeiten genannt, die in den Einzelporträts ­ vermutlich aus Platzgründen ­ nicht berücksichtigt werden konnten.

Als Vertreter der Reformation werden die vier "Großen" vorgestellt: M. Luther, H. Zwingli, M. Bucer und J. Calvin. Den Wittenberger Reformator, dem das erste Porträt gewidmet ist, hat der Hg. selbst übernommen. In drei Abschnitten zeigt M. auf, daß Seelsorge für Luther kein Rand-, sondern ein Lebensthema war. Als einen zentralen Leitgedanken der Seelsorge Luthers, der für die heutige Seelsorgelehre und -praxis bedeutsam werden könnte, greift der Hg. das Stichwort "Trost" auf. Kommt dieser Begriff in der ersten Hälfte unseres Jh.s z.B. bei den Seelsorgeentwürfen von H. Asmussen und D. Bonhoeffer noch vor, so fehlt er laut Möller in der therapeutisch orientierten Seelsorgebewegung (wie interessanterweise auch bei dem Gegenentwurf von J. E. Adams) ganz. Das wird damit erklärt, daß die therapeutische Seelsorge vor allem die Förderung der "Identität und Authentizität" der Person zum Ziel habe. Das Trösten im reformatorischen Sinn bedeute dagegen, "einem Menschen neuen Boden außerhalb seiner Selbst zu geben, den Boden von Gottes Wort, der fest genug ist, damit ein Mensch nicht im Strudel seiner Gedanken und Gefühle untergeht, sondern hier zu der Klarheit und zu den trotzigen Widerstandskräften kommt, die er braucht, um mit sich selbst und seinen Gefühlen neu umgehen zu können." (38) Zurecht wird hier auf die in der Seelsorgebewegung des 20. Jh.s häufig vernachlässigte Dimension des reformatorischen "extra nos" verwiesen. Der Graben zwischen den verschiedenen Seelsorgeansätzen sollte allerdings nicht als zu tief angesehen werden, bedarf es doch gerade für einen solchen neuen Umgang mit sich selbst und seinen Gefühlen einer gehörigen Portion Ich-Stärke und Identität der Person.

Etwas mißverständlich wirken die knappen Anmerkungen zur "seelsorgliche(n) Bedeutung" der Rede vom Teufel bei Luther. Es können nämlich nicht nur "psychoanalytische Begriffe wie Depression, Psychose oder Neurose" einen Menschen "in den Griff nehmen" (39) und festschreiben, wie Möller argumentiert, sondern gerade auch eine (unsachgemäße) Rede vom Teufel, der gegenüber der Hinweis auf eine mögliche Depression ­ als Krankheit ­ bei Betroffenen aus engen christlichen Kreisen geradezu befreiend wirken kann.

Unter die Überschrift des ersten Hauptteils "Seelsorge im Zeitalter der Reformation" sind auch die Porträts von Ignatius v. Loyola, Teresa v. Avila, Johannes v. Kreuz, Franz v. Sales und Friedrich Spee gestellt. Der Hg. begründet das Fehlen einer Rubrik "Gegenreformation" damit, daß gerade "im Blick auf die Seelsorge... deutlich (wird), daß es der katholischen Reform des 16. Jh.s zuerst um den Schaden im eigenen Haus und nicht bloß um ein ’Gegen’ ging" (7). Bei den genannten Porträts beeindruckt, wie stark das Leben der jeweiligen Person mit der geübten Seelsorge zusammenhängt, bzw. wie aus Leiden, Irrungen, Wirrungen und Verfolgungen die "Kompetenz" zur Seelsorge reift.

In einem zweiten Hauptteil werden unter der Überschrift "Seelsorge im Zeitalter von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung" die Porträts von J. Arndt, H. Müller, C. Scriver, P. J. Spener, G. Teerstegen, N. L. v. Zinzendorf, J. Wesley, J. H. Jung-Stilling, J. F. Oberlin, J. M. Sailer, K. M. Hofbauer und M. Claudius gezeichnet. Da im Rahmen dieser Rezension nicht alle besprochen werden können, müssen einige Einblicke in die Beiträge von J. Wallmann zu Spener und M. Weyer zu Wesley genügen .

Wallmann beschreibt den Umbruch von der orthodoxen zur pietistischen Seelsorgepraxis in der Person Speners. Abgestoßen von der traditionellen orthodoxen Beichtstuhlseelsorge will Spener nach dem Programm der "Pia Desideria" im "Zentrum der Kirche, bei den Willigen und Frommen", ansetzen. Von deren Förderung ­ und nicht von einer Besserung der Unfrommen ­ erwartet Spener die Reform der Kirche. "Nahm der Seelsorger in der Zeit der Orthodoxie im Beichtstuhl richterliche Funktionen wahr, wenn er den Sünder nach erfolgter Beichte von Schuld und Strafe freisprach, so wird der pietistische Seelsorger zum Berater und, darüber hinausgehend, zum Seelenführer, der einen bereits Wiedergeborenen auf seinen Weg begleitet und ihm zum Erreichen des Zieles hilft, der Wiederherstellung des Ebenbildes Gottes in der Seele." (268)

Auch der Beitrag des am Theologischen Seminar der Evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen lehrenden Kirchengeschichtlers M. Weyer streicht heraus, daß J. Wesley seine Seelsorge im Dienst der Erweckung und der Heiligung der Kirche und des einzelnen sieht und praktiziert. "Wachstum war für ihn das Merkmal des Lebens, auch im geistlichen Sinne. Daher seine unermüdliche Ermahnung, nicht bei dem zu bleiben, was man einmal erreicht hat, sondern seine ganze menschliche Potentialität zu entdecken und zu verwirklichen." (330). Weyer stellt zurecht die Seelsorgepraxis Wesleys unter den Begriff der kerygmatischen Seelsorge und nennt hier den Namen E. Thurneysens, da auch Wesley daran festhielt, daß es "bei jedem Menschen einen klaren Bruch geben (müßte), bei dem der Mensch Gott endlich recht gibt und ihn Gott sein läßt auch über sein eigenes Leben" (331). Allerdings könnte ­ unter Berücksichtigung des Wachstumsgedankens (s.o.) ­ mit einer gewissen Berechtigung z.B. auch der Name H. Clinebells (Wachsen und Hoffen) hier genannt werden.

Alles in allem ein anregendes und verdienstvolles Buch, das sowohl historisch als auch poimenisch interessierte Leser und Leserinnen ansprechen und zum Weiterdenken führen wird.