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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1398–1400

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Pally, Marcia

Titel/Untertitel:

Die Neuen Evangelikalen in den USA. Freiheitsgewinne durch fromme Politik.

Verlag:

Berlin: Berlin University Press 2010. 353 S. 21,4 x 13,8 cm. Lw. EUR 29,90. ISBN 978-3-940432-93-3.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Die Autorin Marcia Pally arbeitet als Professorin für »Multicultural Multilingual Studies« an der New York University, in der Bundesrepublik ist sie vielen Lesern auch als Kolumnistin großer Tages- und Wochenzeitungen bekannt. Das vorliegende Buch über die »Neuen Evangelikalen« in den USA beschäftigt sich mit den gravierenden Veränderungen, welche die evangelikale Szene in den USA, aber auch die religiöse Rechte in den letzten Jahren durchgemacht hat. P.s Untersuchung, die auf Feldforschung mit Interviews, Ge­ sprächen und Internetrecherchen aufruht, trägt erheblich dazu bei, das mit Klischees behaftete Bild von fundamentalistischen Christen in den USA, die politisch stets den Republikanern anhängen, zu differenzieren. Denn bei den amerikanischen Evangelikalen haben sich neue Entwicklungen vollzogen, die vor allem eine veränderte Einstellung im Verhältnis von Politik und Religion nach sich ziehen. All das geht weit über die klassischen Themen – Abtreibung, Homosexualität und die Evolutionslehre – der christlichen Rechten in den USA hinaus.
P. bettet diese empirische Untersuchung über die »Neuen Evangelikalen« ein in eine Verteidigung der amerikanischen Religionsfreiheit, denn die spezifische Verbindung von den Religionen gegenüber wohlwollender Neutralität des Staates und möglichst freier Entfaltung aller, auch kleinster religiöser Gruppen führe zu einer Win-win-Situation, in der Staat und Religionen beide von der spezifischen Verbindung zwischen religiöser Freiheit und staatlicher Neutralität profitieren. Dieses kulminiert in der Frage, wie weit Religionen und Konfessionen im öffentlichen Raum politisch präsent sein können, ohne dass die so entstehenden Konkurrenzverhältnisse und Rivalitäten zwischen den religiösen Gruppen den Bestand des liberalen Rechtsstaates gefährden.
Die »alte« religiöse Rechte in den USA gefährdete die angesprochene Balance zwischen öffentlicher Religionspräsenz und Religionsfreiheit, indem sie den alten Traum von den Vereinigten Staaten als einer »christlichen Nation« wiederzubeleben versuchte. Seit den beiden Amtszeiten von George W. Bush zeichnet sich hier eine Wende ab. Die religiöse Rechte war unzufrieden mit der Amtsführung Bushs und zerstritt sich darüber. Paradoxerweise bildeten sich plötzlich im evangelikalen Spektrum neue zivilgesellschaftliche Gruppen und Organisationen, welche ganz andere und neue Fragen wie Umweltschutz, Gesundheitspolitik und die soziale Ordnung auf die politische Agenda setzten. Mit diesen neuen politischen Themen verband sich eine Abwendung von der republikanischen Partei, eine größere politische Offenheit sowie die Bereitschaft, bei einzelnen Themen wechselnde politische Allianzen einzugehen. Und als weitere Entwicklung kam bei den New Evangelicals eine größere politische Toleranz gegenüber abweichenden politischen und religiösen Meinungen und Positionen hinzu.
Von dieser Entwicklung ist P. fasziniert, denn sie sieht darin die konsequente Umsetzung des religiös-politischen Ideals der amerikanischen founding fathers: die Verwirklichung einer rechtsstaatlichen und pluralistischen Demokratie bei gleichzeitig größtmöglicher Religionsfreiheit. Auf der Seite der religiösen Gruppen kann sie an den New Evangelicals zeigen, wie diese sich in ihrem politischen und zivilgesellschaftlichen Handeln genau für diese Einsicht der Gründungsväter öffnen und ihre Konsequenzen daraus ziehen.
P. ist an einer demokratischen Ordnung interessiert, in der die Religion nicht ins Private verbannt ist. Sie befindet sich auf der Suche nach einer religionspolitischen Ordnung, in der weder die Politik einseitig religiös vereinnahmt noch eine einzelne Religionsgemeinschaft vom Staat einseitig privilegiert wird. Damit schließt P., leider mehr implizit als explizit, an Überlegungen an, die im amerikanischen theologischen Denken unter dem Stichwort der public theology angestellt worden sind. Das Originelle an ihrem Buch besteht darin, dass sie sich auf die New Evangelicals als Beispiel solch einer veränderten Balance zwischen Politik und Religionsfreiheit konzentriert.
Die Kulturwissenschaftlerin geht dafür in drei Schritten vor. Nach einem einführenden und resümierenden Vorwort des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Dieter Grimm (9–12) analysiert sie in einem ersten Teil (14–98) das amerikanische Verhältnis von Demokratie und religiösen Gruppen, die Schwierigkeiten bei der Interpretation des die Religionsfreiheit betreffenden ersten Amendments der Verfassung sowie die Frage, in welcher Weise der Staat Religionen bei der Erfüllung vor allem sozialer Aufgaben (Schule, Wohlfahrt etc.) auch finanziell unterstützen darf. Der zweite Teil (99–183) gilt den Wandlungen evangelikalen Selbstverständnisses und den Folgerungen für das Handeln zivilgesellschaftlicher evangelikaler Gruppen im politischen und sozialen Raum. Im dritten Teil präsentiert P. Interviews und Dokumente. Sie hat Gespräche mit Gemeindegliedern und Pastoren evangeli­-kaler Gemeinden und Organisationen geführt, aber auch mit Politikberatern und Wissenschaftlern aus evangelikalen Thinktanks, Universitäten und Colleges. Eine kurze Zusammenfassung (297–310) rundet das Buch ab.
P.s religionssoziologischer Essay wurde in einem Verlag veröffentlicht, der damit Werbung macht, sich dem Ideal einer »intel­ligent-leichte(n) Wissenschaftsliteratur« verpflichtet zu fühlen. Ge­nau dieser Eindruck bleibt auch nach der Lektüre des Buches zurück. Man hat den Eindruck, eine Mischung aus manchmal allzu flottem politischen Kommentar und empirischer religionssoziologischer Studie gelesen zu haben.
Da das Buch offensichtlich während eines Forschungsaufenthaltes in der Bundesrepublik entstanden ist, stellt sich auch die Frage, ob es nicht hilfreich gewesen wäre, die sehr unterschiedlichen europäischen Versuche, das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religionen möglichst konfliktfrei zu justieren, mit in die Analyse einzubeziehen. Damit wäre der jetzt entstehende Eindruck vermieden worden, das Engagement der New Evangelicals in der amerikanischen Zivilgesellschaft sei etwas ganz Neues und noch nie Dagewesenes. Im Übrigen lassen sich die europäischen rechtspolitischen Konstruktionen von Staat und Religionen nicht pauschal auf die Privilegierung des Christentums reduzieren. Auf der anderen Seite hat das Buch in der Konzentration auf die amerikanischen New Evan­-gel­icals gerade seine große Stärke: Die Leser erfahren viel über eine wichtige Neuentwicklung der amerikanischen politisch-religiösen Landschaft. Darin liegt das Verdienst P.s. Ihre Einschätzung, die Po­sition der New Evangelicals sei exemplarisch für das Verhalten einer religiösen Gruppe in einer rechtsstaatlichen, von der Religionsfreiheit bestimmten Demokratie, dürfte schon sehr viel umstrittener sein und Kontroversen auslösen.
Am Ende noch eine Anmerkung zu der problematischen Übersetzung des Essays ins Deutsche: Angesichts der vielen holprigen und befremdlich wirkenden Formulierungen, die oft noch das amerikanische Original erkennen lassen, ist die Frage zu stellen, ob man sich, was die New Evangelicals angeht, dann nicht lieber gleich auf den Websites der einschlägigen Organisationen, Ge­meinden und Gruppen informieren sollte.