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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1393–1395

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Böhnke, Michael, u. Thomas Schüller

Titel/Untertitel:

Zeitgemäße Nähe. Evaluation von Modellen pfarrgemeindlicher Pastoral nach c. 517 § 2 CIC.

Verlag:

Würzburg: Echter 2011. 260 S. m. Abb. 23,3 x 15,3 cm = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 84. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-429-03411-5.

Rezensent:

Dieter Beese

Michael Böhnke ist Systematischer Theologe an der Bergischen Universität Wuppertal, Thomas Schüller Kirchenrechtler und Di­rektor des Instituts für Kanonisches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Angesichts des europaweit fest­-zustellenden Pries­termangels in der römisch-katholischen Kirche plädieren die Autoren dafür, Nichtpriester stärker an der Leitung der Pfarrgemeinden (Gemeindeleitung) zu beteiligen. Die dazu er­forderliche theologische und rechtliche Grundlage ist mit can. 517 § 2 des CIC von 1983 gegeben.
Einleitung (15–76): Die Autoren diagnostizieren eine durch den Pfarrermangel ausgelöste tiefe Strukturkrise. Die Gemeinde »als Sozialform des pfarrlichen Lebens« (15) sei in die kritische Diskussion geraten. In Übereinstimmung mit dem Postulat einer lebensraumorientierten Pastoral werden (z. B. im Bistum Essen) Strukturreformen realisiert, die die Zahl der Kirchengemeinden durch Vergrößerung an die Zahl der Priester anpassen. Demgegenüber machen die Autoren geltend: »Die Verbindung von Pfarrei und Gemeinde ist weder für die Pfarrei noch für die Gemeinde notwendig.« (18)
Die II. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats in Medellin habe bereits 1968 beschlossen, dass eine Pfarrei, die keinen Pfarrer mehr habe, auch einem Diakon oder einer Gruppe von Ordensleuten anvertraut werden könne, um die Präsenz der Kirche in den zeitgenössischen Wandlungsprozessen sicherzustellen (23). Gute Erfahrungen mit dieser Regelung haben dazu geführt, sie in den CIC von 1983 aufzunehmen.
Eine bloß normativ-doktrinale Sichtweise des Weihepriestertums greift nach Böhne und Schüller grundsätzlich zu kurz. Damit steht das Verhältnis von Weihepriestertum und Priestertum der Getauften auf der Tagesordnung. Hermeneutisch gelte die Regel: Die Canones des CIC im Allgemeinen und der can. 517 §2 im Besonderen sind vom Vatikanischen Konzil her zu verstehen und nicht umgekehrt (29). Die Konzilstexte aber lassen, wie z. B. die in Lumen Gentium 35 beschriebene Praxis, legitimiert durch Apostolicam Actuositatem 24, »keinen Zweifel daran aufkommen, dass Laien priesterliche Aufgaben ersatzweise erfüllen können« (31).
Die Enzyklika Pacem in Terris von Johannes XXIII. vom 11.04. 1963 bezeichne die zunehmende Teilnahme der Frauen am öffentlichen Leben als Merkmal der Zeit, da die Frauen sich zunehmend ihrer Würde als menschliche Person bewusst würden. Daraus re­sultiere in Apostolicam Actuositatem Art. 9 explizit, es sei von größter Wichtigkeit, dass Frauen auch an den verschiedenen Bereichen des Apostolates der Kirche wachsenden Anteil nehmen. Das Apostolat der Laien aber sei (Art. 24) durch die Hierarchie zu fördern (28–33). Einem moderierenden Priester müssen »keineswegs alle Vollmachten und Fakultäten verliehen werden […], die dem Pfarrer von Amts wegen zukommen« (34).
Die Analyse der Rezeption des can. 517 § 2 in den deutschsprachigen Bistümern und weltweit ergibt ein außerordentlich differenziertes Bild: Sowohl die Nutzung der Möglichkeit, Nichtpries­ter an der Leitung zu beteiligen, als auch die konkreten Begriffe, Bezeichnungen, Kompetenzzuweisungen, Amtseinführungsmodalitäten und Informationsmodi unterscheiden sich vielfältig voneinander und führen zu einer unübersichtlichen Lage.
Aufbau der empirischen Studie (77–96): Kern der vorliegenden Arbeit ist eine Befragung (August bis September 2008) von sechs Pfarrgemeinden in den Bistümern Aachen und Limburg, in denen das Modell der Gemeindeleitung nach can. 517 § 2 praktiziert wird. Das Forschungsinteresse bestand in der Erhebung der Einstellungen, Erwartungen und Ansprüche von Personen, die im Namen der Kirche handeln, solchen, die am Gemeindeleben teilnehmen, und solchen, die nicht am Gemeindeleben teilnehmen (86). Methodisch greift die Studie auf die von John C. Flanagan 1954 beschriebene Critical Incident Technique (CIT) zurück (87). Gefragt wurde nach Effizienz, Optimierungsmöglichkeiten und Optimierungsansätzen auf neun Themenfeldern (z. B. Eigenständigkeit, Gemeindeleitungsformen, Präsenz der Kirche und Zusammenarbeit mit anderen Kirchengemeinden, 88 f.).
Damit wird ein Paradigmenwechsel vollzogen vom vorrangig systematisch-normativen Zugang zu dem Erfordernis, die Sicht der Verantwortlichen sowie der aktiven und distanzierten Gemeindeglieder systematisch qualitativ-empirisch zu würdigen. Leiten heißt: Entscheiden als antwortendes Handeln (80). Damit werden die erhobenen Erwartungen, die nach Antwort verlangen, aus theologischen (pneumatologischen) Gründen normativ relevant. Es geht den Autoren um die Präsenz der Kirche in der Zeit.
Resultate der empirischen Studie (97–202): Die erhobenen Er­wartungen können insgesamt als strukturkonservativ bezeichnet werden (202). Die Autoren fokussieren die Ergebnisse in einer Liste von Hypothesen: Gemeindepastoral werde als Beziehungspastoral verstanden und sei auf Gemeinschaft ausgerichtet. Diakonisches Handeln solle die Menschen auf ihrem Lebensweg begleiten. Erwartet werden die persönliche Zuwendung zu den Gläubigen sowie die Gewährleistung sakramentaler Feiern bei gleichzeitiger Aktualisierung und Pluralisierung der Gottesdienstform. Nicht die Pluralisierung von Glaubens- und Moralvorstellungen, wohl aber die Infragestellung des Bestands einer Kirchengemeinde werden seitens der Befragten als gefährdend eingeschätzt (202).
Theologische Deutung der Ergebnisse (203–214): »Es kennzeichnet und verschärft die derzeitige pastorale Krise der Kirche, dass strukturkonservativen Erwartungen mit Strukturreformen begegnet wird, die personalkonservativ motiviert sind.« (208) Demgegenüber ist zu konstatieren: »Christus als der Herr und Erlöser wird […] in der Pluralität der Zeugnisträgerschaften vergegenwärtigt.« (213) Dem Bischofsamt komme die Aufgabe zu, »die Pluralität der Zeugnisträgerschaften um der Erfahrbarkeit der Katholizität der Kirche willen zu fördern und ihre Kooperation zu moderieren« (213).
Schlussfolgerungen (215–220): Die entscheidende Konfliktlinie sehen die Autoren in dem Mangel an »Vertrauen, das den verschiedenen Zeugnisträgern in der Kirche entgegengebracht« werde (215). Ohne die organische Präsenz der Kirche vor Ort könne die Kirche die Menschen nicht erreichen. Das bedeutet in der Konsequenz: »Diakone und Laien sollten rechtlich befähigt werden, Gemeindeleitung solange wahrzunehmen, wie der Pfarrermangel andauert. Über die Möglichkeit der differenzierten Weiterentwicklung des Weiheamtes, etwa durch die Einführung einer relativen Ordination [z. B. von Frauen, Ergänzung durch den Rezensenten] sollte ebenso freimütig diskutiert werden wie über eine communiale Gemeindeleitung im Team.« (216)
Die Arbeit von Böhnke und Schüller aktualisiert und konkre­tisiert die Impulse des 2. Vatikanischen Konzils als Ressource zur Bewältigung der Strukturkrise in der römisch-katholischen Kirche. Sie macht die theologische Problematik des aktuell dominanten konservativen Weihepriesterverständnisses verständlich und lässt die problematischen Folgen eines pneumatologisch unterbestimmten Kirchenverständnisses deutlich werden. Zugleich entwickelt sie, gleichermaßen innerkatholisch und ökumenisch an­schlussfähig, Perspektiven einer tauftheologisch reformulierten Leitungspraxis im Blick auf Amt und Gemeinde.