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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1386–1390

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Figal, Günter

Titel/Untertitel:

Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XII, 304 S. 23,0 x 15,6 cm. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-16-150515-7.

Rezensent:

Morten Sørensen Thaning

Mit dieser durchaus auch ästhetisch anspruchsvoll verfassten Ar­beit legt Günter Figal seine systematisch angelegte Ästhetik vor. F. hat sich in seinem umfangreichen Werk die Entwicklung und Er­neuerung der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition zur Aufgabe gemacht, und in den fünf gehaltvollen Kapiteln widmet er sich der phänomenologischen Analyse der Kunsterfahrung. Er setzt sich ausdrücklich von einer kunstphilosophischen Tradition ab, die von Hegel und Schelling über Nietzsche bis zu Heidegger, Ga­damer und Adorno reicht. Trotz eindrücklicher Analysen der Struktur von Kunstwerken neige diese Tradition laut F. nämlich dazu, »diese Struktur geschichtsphilosophisch oder anthropologisch zu überfrachten oder zu instrumentalisieren« (2). Ein Kunstwerk ist für F. nicht an sich schon als geschichtliches Wahrheitsereignis zu begreifen, sondern vielmehr als eine Erfahrung des Schönen, die ihrerseits eine spezifisch ästhetische Einstellung fordert.
Ein solches Vorhaben zielt auf die Rehabilitierung der häufig als subjektivistisch abqualifizierten philosophischen Ästhetik ab und entzieht sich damit ganz entschieden dem Fragehorizont der für F. ansonsten maßgeblichen Denker der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition: Heidegger und Gadamer. Es kann deshalb nicht Wunder nehmen, dass F.s Versuch einer Artikulation der ästhetischen Erfahrung gerade bei Kant anknüpft. F.s Ansatz arbeitet Kants Gedanken aus, demzufolge die Erfahrung des Schönen »das freie Spiel der Erkenntnisvermögen« anrege (57). In diesem Spiel präsentiert die Einbildungskraft dem Verstand eine strukturierte Mannigfaltigkeit, die der Verstand seinerseits auf den Begriff zu bringen trachtet. Solch umfassende Einheitsbestimmung der präsentierten Mannigfaltigkeit übersteigt jedoch das Vermögen des Verstands. Seine Begriffe erweisen sich als ungenügend, wenn er in seinem Versuch, die Mannigfaltigkeit erschöpfend zu bestimmen, lediglich Einzelmomente herauszugreifen vermag (58).
Obgleich F. betont, dass sich die ästhetische Erfahrung nicht auf den Begriff bringen lasse, macht er deutlich, dass es sich bei ihr nicht etwa um einen völlig opaken Eindruck handle; das freie Spiel der Erkenntniskräfte sei vielmehr als eine Art der Reflexion zu verstehen, die sich artikulieren und somit mitteilen und mit anderen erörtern lasse. Diese Artikulation ist selbstredend von der konkreten Auseinandersetzung mit dem Werk nicht zu trennen, sondern vollzieht sich, »indem sie die ästhetisch erfahrene Sache auf möglichst vorurteilsfreie, an die Äußerungen anderer anschließende und in sich stimmige Weise zur Sprache« bringt (60). Letztlich ist die Möglichkeit der Artikulation der ästhetischen Reflexion darin verankert, dass etwas gegenständlich gegeben ist, auf das auch andere sich beziehen können, obgleich es sich nicht um eine Gegenstandserfahrung im üblichen Sinne handelt. F. weist im Zuge seiner Interpretation darauf hin, dass Kants Analyse nicht nur andeutet, sondern geradezu voraussetzt, dass die Kunsterfahrung im freien Spiel der Erkenntniskräfte tatsächlich etwas zur Erkenntnis bringt, Kant dies in seinen ausdrück-lichen Thesen zur Kunst jedoch dogmatisch leugnet und somit Gefahr läuft, wie F. mit einer ironischen Wendung von Herman Schmitz schreibt, die Erfahrung des Schönen auf »›psychogymnastische Freiübungen der Erkenntniskräfte‹ umwillen ihrer belebenden Wirkung« zu reduzieren (61; Herman Schmitz, Was wollte Kant?, Bonn 1989, 166).
Es ist für F. von entscheidender Bedeutung, dass das Kunstwerk eine strukturierte Mannigfaltigkeit bildet. Er spricht in diesem Zu­sammenhang von ›dezentralen Ordnungen‹. Damit hebt er einen formalen Zug an dem hervor, was im Kunstwerk in Erscheinung tritt, mag es sich dabei nun um die Erzählung eines Romans handeln oder etwa um das, was eine Malerei sichtbar werden lässt. Die Zufügung ›dezentral‹ gibt an, dass von einer irregulären Ordnung die Rede ist, die sich beispielsweise weder als geometrische Konstruktion deduzieren noch auf einen Begriff bringen lässt. De­zen tralität ist jedoch nicht mit Vagheit zu verwechseln. Dezentrale Ordnungen können durchaus bestimmt und präzise sein; entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass diese schöne Ordnung sich einzig in der Begegnung mit dem Werk erschließen lässt und man sich also auf diese Begegnung einlassen muss, um sie erfahren zu können (72).
Eine übergeordnete Intention von F.s Vorhaben besteht in der Rehabilitation der Schönheit als zentraler ästhetischer Kategorie. Mit seiner Betonung, dass das Schöne als dezentrale Ordnung zu begreifen sei, bewegt er sich jenseits der Vorstellung des Schönen als harmonisch, versöhnend oder gar idyllisch. Die schöne Darstellung des Kunstwerks vermag auch das Böse und Schlechte zu um­fassen, das Verfehlte und Gescheiterte. Ebenso möchte F. auch ein anderes Vorurteil gegenüber dem Schönheitsbegriff überwinden helfen, nämlich dass er sich dem rätselhaften, dem ›sprachlosen‹ oder ›stummen‹ Charakter der modernen Kunst verweigere, wie er einem beispielsweise in einigen Formen der modernen Malerei entgegentritt. Vielmehr ermöglicht gerade der Bruch moderner Werke mit jedem selbstverständlichen Bedeutungszusam­men­hang die unmittelbare Erfahrung ihrer spezifischen dezentralen Ordnung. »Je weniger ein Kunstwerk von sich aus Verständnishilfen bietet, desto entschiedener bindet es die hermeneutische Reflexion in die Wahrnehmung ein.« (48)
Ein wesentlicher Gedanke von F.s Ästhetik besteht in der Be­-tonung, dass Kunst ein Minimum an kontemplativem Abstand erfordere. Damit distanziert er sich nicht allein von gewissen Tendenzen bei Heidegger und Gadamer, sondern auch von der einflussreichen postmodernen und avantgardistischen Auslegung von Kants Begriff des Erhabenen, der zufolge erhabene Kunst – im Gegensatz zur schönen – den Betrachter mitreißen und erschüttern möchte. F. macht hier darauf aufmerksam, dass auch die Erfahrung des Erhabenen für Kant in sicherem Abstand geschehe und der Gegensatz zwischen dem Erhabenen und dem Schönen ganz im Allgemeinen nicht überbetont werden dürfe. Auch Nietzsches Begriff des ›Dionysischen‹ erfährt vor diesem Hintergrund eine Nuancierung. Zwar artikuliere dieser Begriff gewisse ›musikalische‹ Seiten der Kunst, führe jedoch, zum grundlegenden oder gar alleingültigen Kriterium erhoben, zu einer verzerrten Sicht oder Erfahrung der Kunst. Kein Kunstwerk sei reine Rührung und keine Kunsterfahrung ohne Abstand, und insofern die Nietzschea­nische Tradition das behaupte, so weil sie – laut F. – von dogma­tischen, metaphysischen Voraussetzungen bestimmt sei.
Die Auseinandersetzung mit Nietzsche wird in einem Kapitel ausgefochten, in dem F. nicht davor zurückschreckt, die klassische Diskussion der unterschiedlichen Kunstformen wiederzubeleben. Zwar lehnt er Kants, Hegels und Nietzsches Ansatz, verschiedene Arten von Kunstwerken klar definierten Kunstgattungen zuzurechnen, eindeutig ab. F. besteht jedoch als einer nicht nur möglichen, sondern auch notwendigen Aufgabe einer philosophischen Ästhetik darauf zu verdeutlichen, warum unsere je schon so oder so heuristisch praktizierte Kategorisierung von Kunstwerken nicht allein konventionell bedingt ist. Der phänomenologischen Methode gemäß hinterfragt er die Kunstgattungen und entwickelt Kor relationen zwischen verschiedenen Arten von Erfahrungen und entsprechenden Kunstformen (138). So artikuliert er die drei grundlegenden Kunstformen des Bildlichen, Musikalischen und Dichterischen. Der entscheidende Gedanke ist hier nun aber, dass jedes Kunstwerk eine Mischung dieser Kunstformen darstelle; die drei Kategorien bilden also keine positiv vorhandenen Kunstgattungen, denen sich das einzelne Kunstwerk zurechnen lasse. Sie bilden für F. vielmehr Verstehensprinzipien, sog. ›Formen der Zu­gänglichkeit‹, von denen wir stets – ausgesprochen oder unausgesprochen – im Verstehen eines Werks Gebrauch machen (165). Die ›Beweisführung‹ dafür, dass es ebendiese drei Kunstformen gebe und sie sich in allen Kunstwerken ausgedrückt fänden, ge­schieht phänomenologisch und ist somit unabschließbar (164).
F. besteht mit dieser phänomenologischen Artikulation der Kunstformen auf einer phänomenologischen Alternative zu einem klassischen Platonismus, wie er in der Theorie von Kunstgattungen, die ihren Begriffsinhalt von vornherein von einer äußerlichen und kunstfernen Position festgelegt hat, zum Ausdruck kommt. Zugleich möchte er vermeiden, im derzeit tonangebenden Konventionalismus oder Sozialkonstruktivismus zu enden, für den es sich bei der Kategorisierung von Kunstwerken lediglich um eine geschichtliche bzw. gesellschaftswissenschaftliche Frage handeln kann. F.s phänomenologischer Platonismus stellt in der gegenwärtigen philosophischen Landschaft eine anregende, aber durchaus kontrovers diskutierte Position dar. Nicht zuletzt deswegen ist es verwunderlich, dass F. nicht die Gelegenheit ergriffen hat, seine Grundvoraussetzungen darzulegen und zu rechtfertigen. Stattdessen konzentriert er sich darauf zu zeigen, welche Beschreibungsmöglichkeiten der phänomenologische Platonismus bietet, wenn er sich die Frage der Kategorisierung erneut in philosophischer Perspektive zu stellen traut.
In einer Auseinandersetzung mit dem klassischen Gegensatz von Kunst und Natur lehnt F. sowohl die Vorstellung ab, dass Kunstwerke eine Überwindung oder Aufhebung der Natur darstellten (Hegel), als auch eine Ästhetik, für die das Kunstwerk über sich hinaus auf eine als solche unzugängliche Natur verweist (Adorno). F. ist hingegen der Auffassung, dass das Kunstwerk die Natur durch seine künstlerische Darstellung zugänglich mache. Damit möchte F. jedoch nicht einer romantischen Versöhnung mit der (verlorenen) Natur das Wort reden. Das Natürliche, das im Kunstwerk erscheint, ist nach F.s Analysen vor allem unserer Sinneserfahrung zugänglich und dient so der Unterstützung einer der tragenden Thesen des Buches: dass »die Wahrnehmbarkeit der Kunstwerke für ihre Wesensbestimmung mehr Gewicht als ihre Verständlichkeit« habe (5). F. geht jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter: Die in der Kunst sinnlich erfahrene Natur ist für ihn Ausdruck einer Erfahrungsweise, die hinter die Intentionalität unserer gewöhnlichen Wahrnehmung zurückgeht und eine fundamentalere Wirklichkeitsebene andeutet.
Ausgehend von Cézannes spätem Gemälde Montagne Sainte-Victoire spricht F. von Texturen als einem vor-intentionalen Feld ohne distinkte Relationen oder Unterschiede. Ebendiese Ebene im Gesichtssinn möchte Cézanne freilegen, wenn er in seinem Bild distinkte Formen aus einem Gewebe von Farben hervortreten lässt.
Methodisch gesehen wirkt F.s Gedanke überzeugend. Durch die von ihm minutiös geschilderte künstlerische Abstraktionsbewegung ermöglicht uns Cézannes Gemälde die Erfahrung eines Aspekts der Sinneserfahrung, der uns gewöhnlich verdeckt bleibt. Es handelt sich um die simultan gegebene undifferenzierte Fülle an Qualitäten, die in der Erfahrung mitgegeben sind, die unserer Aufmerksamkeit jedoch meist entgehen, da sie in der Regel auf distinkte Gegenstände und ihre gegenseitigen Relationen gerichtet ist. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es sich dabei um ein Moment unserer Erfahrung handelt, das – zum Beispiel – auf künstlerischem Wege in unser Aufmerksamkeitsfeld treten kann, ohne jedoch als solches Selbständigkeit zu besitzen, oder ob, wie F. behauptet, Künstler wie Cézanne mit ihrer Darstellung der Textur eine eigenständige Wirklichkeitsebene enthüllen, die zudem die Grundlage aller Bedeutung und damit auch die Bedingung der Möglichkeit für Kunst überhaupt bilde (228 ff.).
Phänomenologisch ausgewiesen ist diese metaphysische Interpretation der Textur in F.s Analyse jedoch nicht. Zwar verweist er darauf, dass unsere alltägliche Erfahrung einen texturalen Aspekt umfasst – etwa wie das Rauschen des Windes oder das Murmeln des Wassers den unthematisierten Hintergrund für den Ruf des Vogels bildet, der unsere Aufmerksamkeit gefangen nimmt (223). Doch wie vermag diese unbestreitbare phänomenologische Tatsache die metaphysische These zu untermauern, dass die Textur primär und eine Wahrnehmung, die vermittelt durch Kunst spezifisch dieser Textur gilt, ›primordial‹ sei (230)? Im abschließenden Kapitel seines Buches, das der Räumlichkeit der Kunst gewidmet ist, entfaltet F. den Begriff der Leere als ästhetische Kategorie; auch dieser Begriff scheint mit entsprechenden metaphysischen Konnotationen belastet zu sein, die überschreiten, was phänomenologische Analysen als solche zu rechtfertigen vermögen.
Erscheinungsdinge ist ein reiches und bereicherndes Werk, ein äußerst anspruchsvolles Vorhaben, das die Kunst in ihrer Gänze, von der altgriechischen Lyrik bis zur japanischen Teeschale, umspannen möchte. F.s Ästhetik bietet dabei ein wesentliches Korrektiv zur Instrumentalisierung der Kunst. Mit wohltuend unzeitgemäßem Nachdruck wird darauf bestanden, dass die eigentümliche Erkenntnisleistung der Kunst nur dem zuteilwird, der ohne anderen Zweck sich darauf einlässt zu erforschen, wie das jeweilige Werk seine dezentrale Darstellung vollzieht, um so in die »offene Tiefe« einzutreten, die die eigenständige Perspektive des Werks eröffnet (278). Nur wenn man auf dem Werk als eigenem Zweck für ›theoretische‹ Kontemplation beharrt, vermag es seinerseits Licht auf unsere menschliche Praxis zu werfen. Vielleicht wäre es wünschenswert gewesen, wenn F. sich in höherem Maße unter diesem Blickwinkel den bedeutungsschweren Werken der sog. Weltliteratur gewidmet hätte. Denn hier – und mehr vielleicht noch im Film– ist die Gefahr der Instrumentalisierung besonders groß.
Mit dem ihm eigenen Ansatz muss F. den Versuch der Avantgarde, den Unterschied zwischen Kunst und Leben aufzuheben, als müßiges Vorhaben betrachten. Kunst gibt es nur, wo sie in ihrer Äußerlichkeit und Gegenständlichkeit anerkannt wird. Solcher Vorbehalt gilt insbesondere einem Avantgardismus, der seinen eigentlichen und oftmals auch einzigen Sinn darin zu finden scheint, die sinnlich vermittelte Erkenntnisleistung der Kunst als solche infrage zu stellen. So ist es kein bloßer Zufall, wenn der Name Marcel Duchamps keine Erwähnung findet. Die von Du­champs sog. Ready-mades eingeleitete Tradition muss sich in F.s Sicht als Ausdruck reaktiver Blasiertheit ausnehmen, die uns ihre eigene Unfähigkeit zur Kunsterfahrung aufzwingt. Selbstgefällige Reflexionskunst vermag bestenfalls als Zeugnis einer Bewusstseinsform zu dienen, die sich nicht mehr zutraut, nach sinnlicher Erkenntnis zu suchen (281). Zu fragen wäre jedoch, ob F. dabei nicht ein spezifisch ästhetisches Potential im Avantgardismus verkennt. Obgleich eine lange und langweilige Tradition pseudo-kritischer Reflexionskunst einzig von der Autorität Duchamps zehrt und dürftig am Leben erhalten wird, so gewähren doch die originalen Ready-mades eine sinnliche Erkenntnis, die uns mit geradezu genial schlichten Mitteln zu zeigen vermag, dass die Kanonisierung durch Kunstinstitutionen stets mit einem gewissen Unbehagen verbunden sein wird, da die Schönheit der Kunst auf konkrete Verifikation durch Interpretation unter der Führung einer vorurteilsfreien ästhetischen Sensibilität angewiesen bleibt.