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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1384–1386

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hrsg. v. H. Anz, N. J. Cappelørn, H. Deuser, J. Grage u. H. Schulz in Zusammenarbeit m. d. Søren Kierkegaard Forskningscenteret in Kopenhagen.

Titel/Untertitel:

Deutsche Søren Kierkegaard Edition. Bd. 3: Journale und Aufzeichnungen. Notizbücher 1–15. Hrsg. v. M. Kleinert u. H. Schulz. M. Übersetzungen v. H. Anz, J. Boldt, S. Broocks, H. Deuser, K.-M. Deuser, D. Glöckner, J. Grage, M. Kleinert, J. E. Schnall, G. Schreiber, H. Schulz u. Ph. Schwab.

Verlag:

Berlin/Boston: de Gruyter 2011. XXVI, 977 S. m. Abb. 24,0 x 16,7 cm. Lw. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-018670-3.

Rezensent:

Walter Dietz

Band 3 der insgesamt auf elf Bände konzipierten deutschen Ausgabe der Papirer von Kierkegaard enthält Aufzeichnungen aus den Jahren 1833–49. Er ist in der gewohnt soliden und umfassend kommentierten Art gestaltet, bislang der umfangreichste Band. Die Editionsprinzipien sind unverändert. Er enthält echte Tagebücher, die vor allem das Verhältnis zu Regine betreffen (mit einer Mi­schung aus Rechtfertigung, Trauerarbeit und strategischer Reflexion auf das eigene Verhalten – teils ethisch, teils ästhetisch im Sinn von playing games), aber auch andere Aufzeichnungen, Exzerpte und Aphorismen, die Kierkegaard als fleißigen und zuletzt auch zielstrebigen Studenten vor Augen führen.
Das 1. Notizbuch enthält Kierkegaards Mitschriften der – von Schleiermacher stark beeinflussten – Dogmatik-Vorlesung von Henrik Nicolai Clausen (1833/34); das 2. liefert Studien zur Faust- und Don Juan-Thematik (1835), das 3. zu Goethes Wilhelm Meister, Eichendorff und Brentano (1836). Buch 4 enthält neben Notizen zu J. E. Erdmann (Glauben und Wissen, 1837) Mitschriften zu Martensens Dogmatik-Vorlesung (Wintersemester 1837/38). Kostprobe: »Cartesius […] sagte cogito ergo sum und de omnibus dubitandum est und gab damit das Prinzip für die neuere protestantische Subjektivität ab.« (138) »Das Xsttum wird im Selbstbewusstsein ge­sucht.« (137) In Buch 5 findet sich eine gehaltvolle Interpretation zur Allgegenwart Gottes (195 Nr. 22). Buch 6 enthält echte Tagebuchaufzeichnungen Kierkegaards (Jütlandreise auf Einladung der Tante, nach bestandenem Examen), z. B. vom August 1840: »Mein Unglück ist überhaupt, dass ich in der Zeit, als ich mit Ideen schwanger ging, mich bald in das Ideal verguckt habe; deshalb gebäre ich Missgeburten, und deshalb entspricht die Wirklichkeit nicht meinen brennenden Sehnsüchten« (209).
Buch 7 von 1840 (41?) enthält theologisch-philosophische Reflexionen, z. B. 226 Nr. 22: »Die Idee der Philosophie ist die Mediation« (Hegelsche Vermittlung), »die des Christentums das Paradox«. Buch 8 enthält Reflexionen auf das (gebrochene, substantiell in reiner Liebe bewahrte) Verhältnis zu Regine, die seine einzige wirk­-liche Liebe war (»unglückliche Liebe«, 245). Hier findet sich auch die berühmte Notiz Kierkegaards zu Schellings Berliner Vorlesung 1841/42, anfangs euphorisch (»Hier vielleicht kann Klarheit kommen.«, 252), schließlich enttäuscht, aber nicht resigniert, sondern zur eignen Genialität entzündet. Regine – der Stachel sitzt tief: »Es ist doch schwer, einen Menschen« (sc. Regine, nicht Kierkegaard) »unglücklich gemacht zu haben« (ebd.). Sie bleibt die einzig und einzige Geliebte Kierkegaards.
Im Blick auf Lk 10,25–37 reflektiert Kierkegaard auf den Nächs­ten: Es geht nicht darum, viele als Nächste zu haben, sondern selbst dem andern zum Nächsten zu werden, »selbst Nächster für viele zu sein« – das ist die Aufgabe (254). In Buch 9 finden sich gehaltreiche Aufzeichnungen zu K. Werders Philosophie- und Ph. K. Marheinekes Dogmatik-Vorlesungen (Wintersemester 41/42), die Kierkegaard in Berlin besuchte (Letztere fortgesetzt in Buch 10, das auch Exzerpte zu Hegels Ästhetik enthält – zur Differenz der griechischen und der romantischen Tragödie, 310 f.).
Buch 11 enthält Kierkegaards Mitschriften zu Schellings be­rühmt-berüchtigter Berliner Vorlesung »Philosophie der Offenbarung« im Wintersemester 1841/42 (333 ff.). Aus der Sicht der Schelling-Forschung sind sie im Vergleich mit der Handschrift von H. E. G. Paulus interessant (776–781); Kierkegaard hat die Vorlesungen (die ersten 40, dann endet die Mitschrift am 4.2.42 abrupt) lebendiger und chronologisch strukturierter wiedergegeben als Paulus. Wirkungsgeschichtlich wird der Einfluss Schellings auf Kierkegaard von den Herausgebern vor allem auf dessen Hegel-Kritik in UN bezogen (784; hierzu aber noch wichtiger Kierkegaards Replik auf Werder, 263). Buch12, von Kierkegaard »Aesthetica« überschrieben und auf den 20.11.42 datiert, behandelt Aristoteles’ Poetik (seinen Begriff des Schönen und des Tragischen) in der Interpretation von M.C. Curtius. Buch 13 (Dezember 42 – März 43) ist mit »Philosophica« betitelt und thematisiert aufgrund der Philosophiegeschichten von W. G. Tennemann und G.O. Marbach die Konzeptionen von Aristoteles, Descartes, Leibniz und Spinoza. Inhaltlich steht die Frage nach dem Wesen der Bewegung ( kinesis) im Vordergrund (Werden und Vergehen, vgl. das Zwischenspiel in PhBr 1844). Hier geht es Kierkegaard um eine Kritik von Leibniz’ Theodizee und Spinozas Ethik. Buch 14 behandelt die vorsokratische Philosophie, u. a. Demokrit, Heraklit und die Eleaten (Tennemann-Exzerpt, 1798/1843).
Buch 15 ist ein echtes Tagebuch (vf. August bis November 49), und wieder geht es um das endlose Problem einer endlosen Liebe, kurzum: Regine, überschrieben: »Mein Verhältnis zu ›ihr‹« (469). Kierkegaard zeigt sich als Pönitent, unentwegt und unbeirrt in seiner Liebe, strategisch fixiert auf das anmutige, zauberhafte Mädchen, mit dem er brechen muss (?) aufgrund seiner Schwermut. Sie, dem Spiel nicht ganz gewachsen, kämpft »wie eine Löwin« (474) – und heiratet bald einen anderen (den Juristen Frederik Schlegel). Auch dies, wenngleich gewollt, gibt Kierkegaard zu denken (479). Kein happy end für Band 3.
Der Text ist insgesamt sehr sorgfältig übersetzt, profund und ausführlich (aber nicht doublettenfrei) kommentiert. Die zum Teil eigenwillig künstliche Imitation der Kürzeltechnik (z. B. »Msch.« für Mensch) mag irritierend wirken, wenn man Hintergrund und Intention der Herausgeber nicht kennt; ebenso die strikt strukturbestimmende (kontingente!) Folge der Büchereinteilung, so dass der Leser z. B. auf S. 313 mit einem mitten im Satz beginnenden Text konfrontiert wird, der S. 300 abgebrochen war. Dies ist der Preis konsequent durchgehaltener Editionsprinzipien, die den ungeübten Leser allerdings überfordern dürften. Sehr schön sind die vielen Faksimiles von einzelnen zentralen Seiten. Sie bezeugen in seiner schönen Schrift (z. B. 436 f.440.770.839) ein gedanklich fein geordnetes Leben, bei dem nur die Wirklichkeit nicht immer so ganz mit spielte. – Aber was ist schon »die Wirklichkeit«, wenn man sich geistig ihrer so bemächtigt wie Kierkegaard?
Die 15 Bücher enthalten ästhetisch-literarische Studien, aber auch philosophie- und theologiegeschichtliche Exzerpte. Die Be­fassung mit Literatur und Philosophie erfolgte bei Kierkegaard weithin freiwillig (sua sponte), während die Dogmatik-Studien – zum Teil sehr harte Kost! – motiviert sind durch Examensvorbereitung. Und diese zieht sich hin, bis dann endlich der Vater stirbt und somit der Abschluss des Theologiestudiums garantiert ist. Die wissenschaftliche Gestaltung von Übersetzung und Kommentar ist durchweg gelungen. Die Herausgeber sind sehr fair; sogar mit dem Journalisten und Nachlassverwalter (und -verunstalter) H. P. Barfod gehen sie nicht ins Gericht (XIII; er hatte die Manuskripte zum Teil zerschnipselt, eigenmächtig umsortiert und redaktionell ergänzt, vgl. 651 f.695 u. ö., um so Kierkegaard in gerechter Form zu präsentieren). Solche Milde gegenüber früheren Herausgebern kann sich der erlauben, der aufgrund eigener Sorgfalt das Gericht der Späteren gar nicht erst zu fürchten hat. Der Preis der Ausgabe ist stattlich, aber angesichts der grundsoliden Aufmachung, des enormen Arbeitsaufwands und eines Umfangs von insgesamt 1003 Seiten sicher nicht zu hoch bemessen.